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Vielleicht hatte es an den Regalwänden gelegen, aus denen mich eine Vielzahl Buchrücken geduldig anschaute. Dem Mahagoniholz, das die Einrichtung dominierte. Oder an der kleinen Dose mit den Pfefferminzplättchen an der rechten Außenkante des Schreibtischs. Die gleiche Dose stand auf dem Schreibtisch in meiner Wohnung in Liverpool. Nunmehr unberührt, vielleicht sogar eingestaubt. Ich wusste nicht, ob meine Eltern dafür gesorgt hatten, dass regelmäßig jemand bei mir sauber machte.

Vielleicht war es aber auch einfach die Art und Weise, wie Dr. Williams mein Schweigen ertrug. Schlimmer noch: Sie ertrug sogar das, was ich sagte so vollkommen stoisch und selbstverständlich, dass ich das Gefühl hatte, mich selbst dann an ihr abzuarbeiten, wenn ich über den Nahostkonflikt philosophierte oder die stummen Sekunden zählte, während ich auf einem der Sessel saß und mir selbst in den Schritt starrte.

Zu Beginn dieser Stunde hatte ich mir einen Kugelschreiber vom Schreibtisch genommen, um mich am unregelmäßigen Klicken der Mine festhalten zu können. Ich lief umher, denn Stillsitzen war heute ein Problem, und nur manchmal, nur für wenige Augenblicke, konnte ich am Fenster innehalten.

„Du weißt, dass das Hochgefühl und die Unruhe nur eine anfängliche Nebenwirkung sind, Michael?"

Klick-Klack.

Ich nickte. „Ich weiß. Und ich rechne jeden Moment mit einem Absturz."

Das war gelogen, denn alles fühlte sich an wie freier Fall. Doch es war nah genug dran. Ich wusste, dass man nicht für immer fiel. Irgendwann kam man auf.

Es hatte heute noch nicht geregnet, doch ich war mir sicher, dass die Luft draußen ganz schwer vor Feuchtigkeit war. Sie würde sich nach wenigen Schritten im Haar verfangen und auf die Haut legen, ein bisschen in der Lunge brennen und salzig schmecken, als trüge sie das Meer selbst in sich. Trotz der Nähe zur Küste stand sie still zwischen den Bäumen, das Windspiel über meinem Kopf regte sich nicht, obwohl das Fenster gekippt war.

„Wir gehen bald raus, oder?"

„Es ist ein Ausflug mit der ganzen Station geplant, ja."

Ich tippte gegen das Windspiel und brachte es so zum Klingen. „Okay."

Eine Planung hieß gar nichts. Vielleicht drehte ich morgen wieder durch und würde nirgendwohin gehen. Wortwörtlich. Aber eine Planung war mehr als die Erinnerung an das Gefühl von Wind und Feuchtigkeit auf der Haut.

„Ich habe mich mit Harry angefreundet. Dem Neuen."

Dr. Williams sah von ihren Notizen auf und schob ihre Kladde einige Zentimeter von sich, um mich gänzlich zu betrachten. Ein paar Mal schon hatte ich versucht, einen Blick in ihre Notizen zu werfen, doch ihre Handschrift formte keine Worte, sondern wirre Linien und Striche. Ich erwiderte ihren Blick nur für ein einziges Klick-Klack, dann betrachtete ich wieder die Aussicht. Ich wusste selbst nicht, warum ich das erzählte und warum ich an diesem Punkt nicht aufhörte.

„Wir verstehen uns gut. Bisher wenigstens."

„Warum gerade Harry? Warum nicht einer der anderen?"

„Er ist neu. Er kennt mich nicht."

„Die anderen kannten dich auch nicht."

Ich seufzte und rieb mit der flachen Hand über mein Kinn. Wenn wir rausgehen würden, würden wir sicherlich nur über das Außengelände spazieren. Nur war in dem Fall relativ, denn das Außengelände war größer als so mancher Park, aber es war das Meer, das mich anzog. Klick-Klack. Klick-Klack.

„Harry hat nichts von den vergangenen Wochen mitgekriegt. Er war nicht dabei, als...", ich ließ diesen Halbsatz einen Moment im Raum stehen, auf der Suche nach einem neuen Kosewort, einer neuen Relativierung für meine kleine Sammlung von Katastrophen. „Sie wissen schon. Meine Aufnahme. Die Sache mit Aiden. Die Pillen."

Ich warf einen Blick über die Schulter, nur um Dr. Williams nicken zu sehen. Eine Weile schwiegen wir. Sie wartete ab, ob da noch mehr war, was es zu sagen gab und ich stellte mir vor, wie gut sich meine Schritte auf dem goldgelben Laub anfühlen würden.

„Hast du Angst, dass es mit Harry so wird wie mit Aiden?"

Ich schüttelte den Kopf, noch bevor das Fragezeichen am Ende des Satzes verklungen war, und sagte damit wieder nur die halbe Wahrheit. Unter all die Vielleichts in diesem Raum mischte sich dieses eine: Vielleicht hatte ich Angst.

„Nein. Nein, ich denke nicht...", noch ein unfertiger Satz für die Leere des Raumes.

Um nicht umringt von Halbsätzen am Fenster zu stehen, setzte ich mich in Bewegung und kam erst vor einem der Bücherregale zum Stehen. Die Buchrücken waren immer die gleichen, und doch untersuchte ich sie jedes Mal, als hätte ich sie noch nie gesehen. Mindestens die Hälfte davon hätte ich mir gern ausgeliehen.

„Harry ist nicht Aiden. Ich glaube, er weiß, dass ich schwul bin. Keine Ahnung, ich war nicht eindeutig, keine aufreizenden Lederchaps, kein 'Hi, ich bin der Quotenhomo', aber ich denke, er weiß es. Ich hab's angedeutet."

„Und wie hat er reagiert?"

Ich legte den Kopf schief. „So, als hätte ich ihm gesagt, dass meine Lieblingsfarbe Lavendellila sei."

„Du hast dich, mit deinem Hintergrund, nach einer extrem kurzen Zeit einer bisher fremden Person anvertraut, Michael."

Keine Frage, eher eine Feststellung. Ein Resümee. Ich war dazu übergegangen, den Stift zwischen meinen Fingern zu drehen. Ich hörte die Verblüffung und die Anerkennung glasklar aus ihrer Stimme heraus. Es war genau jene Mischung, die auch in Schwester Agnes Stimme gelegen hatte, als ich mich freiwillig zu Harry an den Frühstückstisch gesetzt hatte.

Ich räusperte mich leise. „Macht mich das noch verrückter, als ich es ohnehin bin?"

„Glaubst du, dass es dich verrückter macht?"

Ich hatte eine ambivalente Beziehung mit der Verrücktheit. Ob ich alle anderen hier für verrückt hielt? Verdammt, ja. Nicht die witzige Art der Verrücktheit, die einen spontan nachts an den Strand fahren und nackt baden lässt. Mehr diese Art, die einen umbringt, weil man den richtigen Zeitpunkt zum Absprung verpasst.

Ob ich mich für verrückt hielt? Nun.

Ich klickte wieder. Und Dr. Williams hatte die Kladde wieder herangezogen und notierte etwas.

„Ich wüsste nicht, was es sonst tun sollte." Meine Stimme brach ein bisschen und dass das passierte war immer das schlimmste. Meine Stimme hatte sich angewöhnt, mich in manchen Momenten hinterhältig zu verraten.

Dr. Williams deutete ein Lächeln an, das ihre Züge erweichte und das ich zuvor noch nie gesehen hatte. „Du öffnest dich jemandem, den du kaum kennst und das so kurz nach dem Vorfall zwischen dir und Aiden, trotz all deiner Symptomatik. Hast du schon einmal daran gedacht, dass das deine Version von Hoffnung sein könnte?"

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