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Harrys Blick glitt hin zu dem Gang, aus dem wir gekommen waren, kam langsam zurück und blieb dann wieder in meinem Gesicht hängen. Ich hatte mir nicht nochmal die Mühe gemacht, mich auf die Fensterbank zu setzen und rauchte nunmehr vom Boden aus. Würde uns jemand erwischen, würden sie den Qualm sowieso in meiner Kleidung riechen.

„Finneas ist der, den du bei der Gruppentherapie die ganze Zeit angesehen hast, richtig?"

Falls er erwartete, dass mich diese Frage aus dem Konzept brachte, war dies das erste Mal, dass ich Harry Styles enttäuschte.

„So auffällig?"

Er zuckte unbestimmt die Schultern. „Wahrscheinlich nicht. Aber ich bin neu. Da fallen einem Dinge auf."

„Du warst doch sicherlich schon in Rom, oder?"

Harry nickte und ließ sich von meinem Themenwechsel nicht irritieren.

In dem Jahr bevor es schlimm wurde, war ich durch Europa gereist und aus mir unerfindlichen Gründen gleich drei Mal in Italien gelandet. Vielleicht kam mir die Analogie deshalb in den Sinn, vielleicht war dies hier aber auch nur eine dieser Kapriolen, die das eigene Hirn schlug, um einen an die guten Momente zu erinnern.

„Jedes Mal, wenn ich am Fontana di Trevi vorbeigekommen bin, musste ich mitten in diesem Touristenauflauf stehen bleiben, um ihn anzusehen. Ich versteh nicht viel von Architektur, aber ich konnte es nicht fassen, dass etwas derart Schönes existiert. Verliebt habe ich mich allerdings in die kleinen Gassen, in denen ich mich nachts immer verlaufen habe, weil sie sich wie ein zu groß geratener Irrgarten durch die ganze Stadt schlängeln. Früher oder später fand man immer eine geöffnete Bar oder ein Restaurant, manchmal auch einfach nur einen Tisch in einem Hinterhof, wo sie einem Bitterlikör einschenkten."

„Verstehe," Harry legte den Kopf schief. „Du bist also objektophil und Finneas ist dein Brunnen."

Um nicht zu lachen biss ich mir auf die Unterlippe. Mehr als unser gedämpftes Flüstern hätte das Potenzial, unseren Aufenthaltsort zu verraten. Außerdem hätte es das gesamte Haus in Aufruhr versetzt, denn Michael Flankery lachte nicht. Wenigstens nicht so.

„Ein sehr heterosexueller Brunnen, falls diese Information relevant ist", entgegnete ich, als ich mir sicher sein konnte, nicht doch noch über Harrys Kommentar zu lachen.

„Sicher?"

Ich nickte. „Der heterosexuellste Brunnen aller heterosexuellen Brunnen."

Die Kälte des Bodens fraß sich durch die Schichten meiner Kleider und ich hätte schwören können, dass es Harry genauso erging, doch keiner von uns beiden machte Anstalten aufzustehen. Im Gegenteil. Harry streckte die Beine aus und jetzt trafen sich unsere Füße fast in der Mitte des Ganges. Auch meine zweite Zigarette war heruntergebrannt und mir fehlte das Verlangen nach einer dritten.

„War gar nicht so schwer, oder?"

Ich zog die Augenbrauen hoch, denn ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, worauf Harry hinauswollte.

„Na das eben," er lächelte. „Du hast mir was über dich erzählt. Keine Ausflüchte, keine Gegenfragen, nur ein komischer Brunnenvergleich."

„Finneas abgrundtief normative Sexualität zu offenbaren hat rein gar nichts mit mir zu tun."

„Du hast mindestens einmal in deinem Leben Bitterlikör in Rom getrunken"

Unwillkürlich seufzte ich. „Chapeau. Aber sowohl die Italienreisen als auch der Umstand, dass mir ein schönes Männergesicht weitaus mehr zusagt als ein Frauengesicht, sind wahnsinnig unspektakuläre Fakten."

„So macht man das doch, vom Unspektakulären zum Spektakulären. Du wirst mir schon noch erzählen, warum du hier bist. Nur eben nicht heute. Bist du viel gereist?"

„Nope," ich streckte meine Fußspitzen so weit wie möglich nach vorn und schaffte es so, Harrys zu streifen. „Bis zu meinem 22. Lebensjahr nie, weil meine Eltern das für Zeitverschwendung halten. Zu der Zeit konnte ich bereits fünf Sprachen sprechen, hatte aber nie was anderes als Großbritannien gesehen."

„Und dann?"

„Dann hab ich mir, zum Leidwesen meiner Eltern, ein Jahr lang eine Auszeit von der Uni genommen und bin mit dem Zug kreuz und quer durch Europa gefahren. Bitterlikör saufen, an Stränden schlafen, unüberlegte Tattoos. Das volle Programm eben."

Ich hielt inne, denn während ich sprach, zog Harry sich die Ärmel seines Pullovers über beide Hände und klemmte sie sich zwischen die Oberschenkel.

„Ist dir kalt?"

„Schweinekalt," gab er zu, ohne sich in seinem Lächeln beirren zu lassen.

Meine Beine waren ein bisschen steif geworden und meine Knie knackten, als ich etwas umständlich vom Boden aufstand. Widerwillig, wenn ich ehrlich war, doch wir konnten uns hier draußen auch nicht den Tod holen, bloß weil ich lieber hier herumstreunerte, statt in meinem Zimmer auf den Morgen zu warten und ich Harry obendrein mitgeschleppt hatte. Als dieser keine Anstalten machte ebenfalls aufzustehen, hielt ich ihm meine Hand hin.

„Komm schon. Meine Eier waren heute bereits Thema, wir müssen deine nicht abfrieren lassen, um auch über sie reden zu können."

Er ergriff meine Hand und ließ sich von mir hochziehen. Sicherlich wären seine Hände wärmer, hätten wir nicht eine halbe Ewigkeit hier herumgesessen, aber sie waren trotzdem wärmer als erwartet. Und weicher. Sie fühlten sich genauso an, wie ich es erwartet hatte, als er sie mir bei unserer ersten Begegnung entgegengestreckt hatte. Es war das erste Mal, dass wir einander an den Händen hielten.

„Michael?"

„Hm?"

Er ließ nicht los. Zumindest nicht sofort.

„Gehen wir morgen Nacht wieder rauchen?"

Jetzt ließ er los. Ich nickte langsam, erst zur Bestätigung seiner Frage, dann in die Richtung, in der unsere Zimmer lagen.

„Kein Wort jetzt. Die kriegen hier einen mittelschweren Anfall, wenn sie einen von uns nachts außerhalb der Betten erwischen."


Das heiße Wasser hatte sein Versprechen gehalten. Ich schlüpfte, kaum zurück im Zimmer, unter die Laken und beinah sofort war die Kälte des Flurs vergessen. Ich dachte an Italien und daran, dass es vermutlich das letzte gut in einer Serie voll von schlecht bis miserabel gewesen war. Ich hatte nie jemandem davon erzählt, denn ich hatte mir fest vorgenommen, hier losgelöst von all dem zu existieren. Mason Manor war der Ort für jenes Gift, das durch meinen Körper floss, aber ganz sicher nicht für das Leben, dessen Platz es Stück für Stück einnahm.

Ich verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Die Dunkelheit im Zimmer war so dicht, dass ich kaum die Decke erkannte. Ich hatte mich entscheiden müssen: Nach der Katastrophe des letzten Medikaments hatten sie mir die Wahl zwischen etwas, was mich schlafen lassen würde und etwas, was es mir morgens leichter machen würde aufzustehen, gelassen und ich hatte letzteres gewählt. Also blieb ich wach, dachte an Italien, an Finneas, der ein Brunnen war und an Harry, der doch eigentlich ein Fremder hätte sein sollen.

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