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Ich klopfte an die halbgeöffnete Tür zum Schwesternzimmer und lehnte mich dann an den Türrahmen. Eine der Aushilfen hatte Nachtbereitschaft und ich wusste nur, dass ihr Nachname mit T anfing. Die Aushilfen hatten meistens keine Namensschilder oder vergaßen einfach, welche anzulegen.
„Kann ich ne Wärmflasche haben?" fragte ich, bevor sie mir zu zuvorkommen und mich fragen konnte, warum ich zu dieser Zeit noch auf war. Damit erweichte ich ihre Miene.
„Klar, setz dich einen Moment, ich mach dir eine fertig."
Ich ließ mich auf einem der Stühle gegenüber der Tür nieder und konnte durch das, in die Tür eingelassene, Milchglas beobachten, wie ihre schemenhafte Gestalt erst einen der Schränke öffnete und dann nach links zu der kleinen Küchenzeile verschwand. Ich fixierte meinen Blick auf meine Knie, bis die Tür aufgeschoben und mir die fertige Wärmflasche entgegengestreckt wurde.
„Ist alles okay? Brauchst du sonst noch was?"
„Nein", ich nahm ihr die Wärmflasche ab und wandte mich zur Treppe. „Mir ist nur ein bisschen kalt. Danke."
Ich nahm zwei Stufen auf einmal und lauschte währenddessen darauf, dass die Tür mit einem ganz feinen Quietschen wieder angelehnt wurde. Oben angekommen schob ich die Tür zu meinem Zimmer auf, legte die Wärmflasche unter meine Bettdecke und griff, statt mich wieder ins Bett zu legen, nach dem Päckchen Tabak, welches ich unter der Matratze versteckt hatte. Ich schloss meine Tür geräuschlos hinter mir und schlich ebenso lautlos rüber zu Harrys Zimmer. Sacht tippte ich mit zwei Fingerkuppen gegen das Holz und schob die Tür auf, ohne eine Reaktion abzuwarten. Harry saß im Schein seiner Nachtischlampe auf der Bettkante.
„Komm", flüsterte ich und winkte ihn mit einer Hand heran. „Wir gehen eine rauchen."
„Ich rauche aber nicht."
„Dann stehst du halt nur dumm daneben, komm schon."
Für einen Augenblick glaubte ich, dass er mich abblitzen ließ. Er schüttelte den Kopf, stand dann jedoch auf, griff nach dem Pullover, den er zuvor über den Schreibtischstuhl gelegt hatte und folgte mir. Unsere Füße wisperten durch die nächtlichen Flure. Ein oder zwei Mal hielten wir inne und lauschten, doch wir hörten nur unser beider Atem. Erst auf dem Flur zur Krankenstation wechselte ich von Schleichen zu Schritten und schließlich hielt ich an dem gleichen Fenster inne, an dem Harry mich schon einmal erwischt hatte. Während ich mich auf die Fensterbank setzte und die Beine in einen Schneidersitz zog, lehnte Harry mir gegenüber an der Wand und ließ sich ganz langsam daran hinabsinken, bis er schließlich mit angewinkelten Beinen auf dem Boden saß.
Es war so still, dass es einen tatsächlich bedrückte. Eine Weile hielten wir das aus. Ich drehte bedächtig eine Zigarette und als ich den Blick hob traf ich direkt auf Harrys. Er beobachtete mich und im Zwielicht konnte ich nicht genau ausmachen, was sich auf seinem Gesicht regte.
„Warum darfst du dich nicht allein rasieren?"
Er stellte seine Fragen immer so direkt und ungeschönt wie ein Kind, das seinen eigenen Wissendurst über gesellschaftliche Gepflogenheiten stellte. Ich hätte ihn mir anders vorgestellt, hätte ich ihn mir irgendwann einmal vorgestellt, aber vermutlich hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass einer wie er mit einem wie mir an einem Ort wie diesem hier landete. Im Gegensatz zu meinen waren seine Wangen gezeichnet von einem Mehr-Tage-Bart.
„Ich bin richtig ungeschickt beim Eierrasieren. Finden die hier nicht so prickelnd", entgegnete ich und entzündete ein Streichholz mit einem einzigen Handgriff. Das Zigarettenpapier knisterte leise, als es auf die Flamme traf und ich meinen ersten Zug machte. Über meinem Kopf kräuselte sich dünner Qualm in Richtung des geöffneten, schmalen Fensterschlitzes gleich an der Decke.
„Ich glaube, du bist alt genug, um dir deine Eier ohne fremde Hilfe zu rasieren."
„Hast du dir sonst noch Gedanken um meine Eier gemacht?"
Wir taxierten uns und anders als sonst war ich nicht derjenige, der gewann, weil mein Gegenüber kleinbeigab. Tatsächlich blitzte da so etwas wie Spaß durch Harrys Blick, während er meinem standhielt.
„Hast du mich nachts aus meinem Zimmer geholt, um dich mit mir über deine Eier zu unterhalten?"
Die Zigarette in meinem Mundwinkel zuckte. Mir würde eine ganze Menge dazu einfallen und ich war mir sicher, dass Harry keine Ahnung hatte, wie weit ich dieses Spiel treiben würde. Doch vorerst würde ich es dabei belassen.
„Ich bin ein altmodischer Mann, Harry. Meine Eier sollten vor dem dritten Date eigentlich kein Thema sein," ich nahm einen Zug und steckte mir die Zigarette dann zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Ich wollte dir mit deinem Wochenziel helfen. Shannon ist eine beschissene Patin, ich erwähnte es bereits, und wenn du dich an sie hältst, rennst du hier für immer ahnungslos durch die Gegend."
Wieder blieb es einen Moment still. Harry tat mir nicht den Gefallen, das Schweigen mit irgendetwas zu füllen. Stattdessen wartete er eine ganze Zigarettenlänge, damit ich meinen Worten Taten folgen ließ und ihm Orientierung verschaffte. Es sprach für ihn, dass er scheinbar nie den Drang verspürte, Ruhe mit Unbeholfenheit zu füllen. Als ich schließlich den letzten Zug genommen hatte, drückte ich die Zigarette auf der Fensterbank aus und schnippte sie diesmal so geschickt Richtung Decke, dass sie durch den Fensterschlitz rutschte und auf der anderen Seite der Scheibe im Beet landete.
„Also," sagte ich und rutschte, damit ich nicht ständig einen Meter über Harry schwebte, von der Fensterbank, um mich gegenüber von ihm auf den Boden zu setzen. Der dunkle Steinboden war kalt und spätestens nach diesem kleinen Ausflug würde ich die Wärmflasche in meinem Bett tatsächlich brauchen. „Finneas, der Typ, mit dem Shannon immer rumhängt, kotzt. In einer Tour. Er denkt gar nicht daran, damit aufzuhören. Shannon ist die klassische Primaballerina und hungert sich weg. Max ist, noch ehe er Vorstand des Familienimperiums werden konnte, vollkommen ausgebrannt und Kat ist ein etwas zu trauriger Exjunkie aus gutem Haus. Jacky, die kleine, die mit Reuben gepuzzelt hat, ist eben Jacky. Hast sie ja gesehen. Der ist irgendwas Schreckliches zugestoßen, irgendwas, von dem wir nicht einmal in unseren düstersten Stunden heimgesucht werden, aber sie redet nicht drüber. Mit niemandem."
„Was ist mit dir?"
„Was ist mit dir," äffte ich ihn nach und betrachtete meine Schuhspitzen.
„Also?"
„Was ist denn mit dir?" schoss ich zurück und sah ihn wieder an.
Sein Gesicht sah aus wie eines, in dem noch nie Böswilligkeit gestanden hatte und vor allem wie eines, das vielleicht gar nicht hierhin gehörte. Irgendwer hatte sich irgendwo vertan und jetzt war Harry hier und wusste selbst nicht genau warum.
„Ich hatte vor einem dreiviertel Jahr meine erste richtige Panikattacke," sagte er, als wolle er mich eines Besseren belehren. „Und in den letzten Wochen war mein Leben eine einzige Panikattacke. Meine Ärzte haben mir nahegelegt, dass ich das nicht mit ein bisschen Urlaub oder gesunder Ernährung überwinden würde."
Irgendetwas in mir regte sich und fast gab ich dem Gefühl nach. Fast hätte ich ein bisschen zu viel Wahrheit zwischen uns geschoben, hätte vielleicht sogar melodramatisch meine Ärmel hochgezogen, um zu zeigen, dass ich darunter alles, aber kein einziges Ass versteckte und vielleicht wäre Harry nicht schockiert zurückgewichen. Aber die meisten Fasts blieben eben das, was sie ursprünglich sind: Ein Beinahe. Statt ihm also mit meiner Krankengeschichte zu antworten, nickte ich nur, brummte, und griff nach dem Tabak, um mir eine weitere Zigarette zu drehen.
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...und spätestens jetzt, da uns Michael ein wenig Orientierung verschafft hat, keinen wir die Outcasts. Damit wir uns alle noch ein wenig besser orientieren können, hab ich der Geschichte kleine Eindrücke zu den einzelnen Charakteren vorangestellt (just in case you haven't noticed). Jedem von ihnen gehörte meine abgrundtiefe Liebe, auch wenn Michael immer eine kleine Sonderstellung haben wird, denn auf der Idee seines Charakters basiert diese ganze Geschichte. Ich bin mir sicher, er würde diese Sonderstellung lieben.
Stay safe. ♡
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