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Ich fand Harry im Aufenthaltsraum.

„Ankommen, Zurechtfinden, Reden?", ungefragt ließ ich mich neben ihn auf eines der Sofas fallen und betrachtete ihn. „Klingt als hättest du deine Wochenziele, abgesehen von der Sache mit der Orientierung, längst erreicht, du Schwindler."

„Tu nicht so. Du weißt, was ich damit meine", sagte er und betrachtete mich. „Was hast du dir vorgenommen?"

Ich seufzte und verdrehte die Augen. „Deine Neugier wird dich irgendwann in Schwierigkeiten bringen."

„Du hast meinen Zettel gelesen."

Damit hatte er einen Punkt.

Nicht sterben", sagte ich, leise genug, dass nur er es hören konnte, und zuckte die Schultern. Harry musterte mich noch einen Moment, dann wandte er den Blick von mir ab und beobachtete, wie sich der Raum mit immer mehr Menschen füllte. Finneas und Shannon hatten sich schon wieder gemeinsam in eine Ecke verkrochen. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, warfen sie nicht nur einen kurzen Blick auf Harry.

„Warum meintest du, dass mich sowieso schon alle kennen?"

„Bist ja nicht gerade unbekannt", sagte ich. „Außerdem mussten wir alle eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Du weißt schon, nicht, dass einer von uns plötzlich doch wieder auf die Beine kommt und deine dreckigen Geheimnisse ausplaudert."

Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihn daran erinnert, dass er bei der Schulaufführung in der sechsten Klasse über seine eigene Füße gestolpert und wegen seines Kostüms ungebremst, vor aller Augen, aufs Gesicht gefallen war. Dann entspannten sich die Züge um seinen Mund wieder und er wendete den Blick in Richtung des großen Panoramafensters. Von hier aus sah man bloß den abfallenden Hügel und fast hätte ich ihm gesagt, dass man das Meer sehen konnte, wenn man auf einem der Sofas nah beim Fenster saß. Oder dass man das Meer nachts sogar hören konnte, wenn es im Aufenthaltsraum leise war, weil man der einzige war, der dort atmete. Stattdessen folgte ich seinem Blick eine Weile, bis unsere Nebeneinanderexistenz jäh unterbrochen wurde.

Plötzlich war der Sessel, gegenüber unserer Couch, nicht mehr leer und ich unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen, als ich erkannte, wer da an der Hand hing, die Harry einen Deut zu aufdringlich entgegengestreckt wurde.

„Hallo, du musst der Neue sein, ich hab schon viel von dir gehört! Mein Name ist Pete!"

Ich meinte, Harrys Zögern zu spüren. Meinte, ihn mit weniger Enthusiasmus, weniger Herzlichkeit nach der Hand greifen zu sehen, sein eigener Name klang viel gedämpfter als das morgendliche „Danke" bei der Pillenausgabe – aber vielleicht projizierte ich hier auch nur. Pete holte Luft, bereit für einen dieser Monologe, die wir alle schon zu umschiffen gelernt hatten, während Harry keine Ahnung hatte. Bevor er ein weiteres Wort hätte sagen können, war ich näher zu Harry gerutscht, hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt und diese gedrückt, als hätten wir gerade herausgefunden, dass wir seit unserer Kindheit Fans des gleichen Baseballteams waren. Jetzt spürte ich sein Zögern tatsächlich. Es war keine Regung, die ihn dazu veranlasste, meiner Berührung auszuweichen und mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen, weil ich offenbar nur wenig Sinn für Grenzen hatte. Ich spürte sein Zögern und er spürte meinen Umschwung in allem, was ich war. Vielleicht zögerte man immer dann, wenn man etwas als falsch durchschaute und vielleicht sollte ich mich endlich fragen, warum mein Umfeld nie gezögert hatte.

„Pete, musst du wissen", begann ich und zeigte achtundzwanzig perfekt gerade Zähne, abgesehen von dem einem Schneidezahn, dem eine winzige Ecke fehlte. „Pete ist unser bester Mann. Ernsthaft. Wenn du irgendwas brauchst, wenn dich was bedrückt, wende dich vertrauensvoll an Pete."

Und der Idiot glaubte, was ich sagte. Die Brust unter seinem Pflegeroutfit schwoll merklich an, das Grinsen wurde breiter und er machte eine dieser wegwischenden Handbewegungen, die nur selten wirklich aussagten, dass man das nicht hören wollte. Pete war erstaunlich, denn es fehlte ihm gänzlich an Reflexionsvermögen. Da hätte Argwohn in seinen Blick gehört. Tonnen davon. Doch alles, was er uns bot, war Stolz.

„Michael übertreibt! Aber wirklich, wenn du mit irgendjemandem reden willst, dann komm ruhig zu mir", sagte er und erhob sich wieder aus dem Sessel. Er nickte uns zu, erst Harry, dann mir, um dann auf den Gang hinaus zu verschwinden. Ich wusste, dass er sich nach diesem Stück harter Arbeit einen Kaffee holen und sich selbst auf die Schulter klopfen würde.

„Zu dem geh ich offenbar nicht, wenn was ist?"

Ich rückte von Harry ab und schüttelte den Kopf. „Nein. Zu dem gehst du nicht, wenn du nicht zufällig was für sadistische Arschlöcher übrighast."

Um der Frage zu entgehen, die sich in seinen Augen ankündigte, bevor sie sich auf dem Weg zu seinem Mund machen konnte, nickte ich mit dem Kinn zu dem kleinen Tisch, an dem Jacky ein Puzzle löste. Genauer zu dem wuchtigen Mann, der ihr half, die einzelnen Teile zu sortieren und dabei so leise mit ihr sprach, dass er damit keinen Teil zur Gesamtlautstärke im Raum beitrug. „Der da. Wenn du dich an irgendjemanden hier wenden willst, dann an ihn."

Ich stand auf und klatschte so laut in die Hände, dass Jacky zusammenzuckte.

„Reuben, du und ich haben ein Date. Ich brauche eine Rasur!"

„Kann das nicht warten? Ich bin gerade beschäftigt", er winkte mit dem Puzzleteil in seiner Hand.

„Jacky, würdest du mir Reuben ausleihen? Ich bring ihn dir in einer Viertelstunde wieder."

Jacky zuckte mit den Schultern, den Kopf gesenkt und den Blick unter ihrem kurzen, dunklen Haar verborgen.

„Siehst du. Jacky ist es egal."

Reubens Blick ruhte einen Moment auf Jacky. „Ist das wirklich okay?"

Er redete so leise mit ihr, dass es sich kaum von einem Flüstern unterschied. Er war der einzige hier, der seine Stimme von jedem Aufruhr befreien konnte. Jetzt zuckte Jacky nicht nur mit den Schultern, sondern nickte dazu mechanisch. Einmal auf, einmal ab.

Reuben wendete sich an mich. „Ich hol deine Kulturtasche, geh schonmal vor ins Bad."

Man konnte diesem Moment nicht absprechen, dass er intim anmutete. Ich trug den Rasierschaum in sanften Zügen auf meinem Gesicht auf, während Reuben mich nicht aus den Augen ließ. Die ersten Male hatte er einen der Toilettendeckel heruntergeklappt und sich notgedrungen in einer der Kabinen niedergelassen, jetzt stand er nur zwei Schritte von mir entfernt. An diesem Umstand war ich schuld, und wäre das nicht irgendwie auch sein Job, hätte es mir vielleicht sogar leid getan.

„Was würdest du tun", murmelte ich und betrachtete mich dabei im Spiegel. „Wenn ich jetzt einfach..." Die linke, mit der ich den Nassrasierer hielt, blieb still, während ich die rechte Hand hob und mir mit dem Daumen über die Kehle fuhr. Reuben blieb scheinbar unbeeindruckt.

„Ich würde die Scheiße aus dir rausprügeln, ganz einfach."

Ich hielt inne und drehte mich einen halben Schritt breit in seine Richtung. Er war groß wie ein Baum, hatte Hände wie ein Bär Tatzen und von allen war er der sanfteste. Einen Moment verharrten wir so, betrachteten uns, dann wandte ich mich wieder dem Spiegel zu.

„Na gut. Ich denke, es wäre äußerst demütigend für uns beide, wenn du mir im Sterben zusätzlich die Scheiße rausprügeln würdest."

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