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Finneas war nicht mehr als ein Geist. Ein Geist mit stumpfem Haar und Narben an den Knöcheln seiner rechten Hand. Seine Haut war gezeichnet von all dem, was seinem Körper fehlte und hinter seiner schmalen Brust schlug ein Herz, das seinen Rhythmus verloren hatte. Finneas war ein Geist und Finneas war wunderschön. Er würde all diese Gedanken negieren, würde sie als Spinnerei abtun, doch jeder, der nicht er selbst war, sah das markante Kinn und das Unwetter in seinen asphaltgrauen Augen. Jeder, der nicht er selbst war, existierte in einem sanften, wohlwollendem Blick aus eben jenen Augen. Er mochte es nicht, doch er war ein Mann, den man gerne ansah.

Ich sah ihn gern an. Es gab nicht viel Schönes in meinem Leben und so blieb die Schönheit der Oberfläche manchmal mein einziger Reiz. Ich sah mir auch gern schöne Bilder an, doch davon hatte Mason Manor eben nur die immer gleichen anzubieten. Bei den Gruppenstunden saß ich ihm immer gegenüber, so dass ich ihn im Blick hatte. Der Platz zu meiner linken war seit zehn Tagen unbesetzt gewesen. Jetzt saß dort Harry.

Am Anfang war es immer Miriam, die das Wort ergriff und uns, Stunde für Stunde, in ihrer Therapiesitzung begrüßte. Keiner von uns hatte sie jemals Dr. Kerhoff genannt, ihre Philosophie einer fruchtbaren Gruppendynamik basierte unter anderem wohl darauf, dass es scheinbar flache Hierarchien gab. Das strengste an ihr war ihr Pferdeschwanz.

Harry durfte sich vorstellen. Vermutlich war ich der einzige, der ihn erneut darauf hinweisen wollte, dass wir ihn alle kannten, und dieses Mal schluckte ich die Bemerkung. Ich konnte nicht alles und jeden immer zu jeder Zeit torpedieren. Harry hatte Angst, sagte er. Diese Information war neu und ich speicherte sie, würde darauf zurückkommen, wenn die Struktur von Finneas Wangenknochen nicht mehr ganz so präsent war. Und wo wir sowieso schon bei Finneas waren:

Nach Harry lenkte Miriam den allgemeinen Fokus auf ihn.
„Du warst in den letzten Tagen auf der Krankenstation, Finneas. Möchtest du uns davon erzählen?"
Kaum jemand schaffte es so oft auf die Krankenstation wie er. Finneas konnte nicht aufhören mit dem, was ihn ruinierte, und so war sein Leben ein einziger Kreislauf.

„Ich hatte eine Gastritis und eine Speiseröhrenentzündung", sagte er und selbst seine Stimme hatte mehr Struktur als unser aller Leben. „Konnte nichts mehr bei mir behalten."

Wieder schluckte ich jeden Kommentar darüber, dass ihn das doch eigentlich nicht hätte stören können. Shannon hatte recht, ich war ein Arsch. Ich war zynisch bis bitterböse, weil ich das alles sonst nicht ertrug. Aber ich wusste, wann es notwendig war, sich zurückzuhalten. Und für Finneas hatte ich eben auch einen soft spot.

„Jetzt geht es mir wieder gut."

Lüge. Ich erkannte das an der Art, wie er auf seine Hände starrte und mit den Füßen über den Boden scharrte. Finneas ging es nie gut. Es ging ihm kaum jemals besser. Er entfernte sich manchmal nur einige Schritte weit vom Abgrund, weil einen die Fallhöhe auf Dauer schwindelig machte und bisher war jedes Zurücktreten letztendlich nur ein Anlauf gewesen.

Finneas liebte Shannon. Zumindest glaubte ich das. Die beiden hatten einander gefunden, wie sich nur zwei Menschen finden konnten, die den gleichen Feind hatten, aber eigentlich gar nicht wirklich sagen konnten, wer oder was dieser Feind denn nun war. Außerhalb der Therapien gab es sie nur zu zweit und wenn Shannon bei Verstand wäre, würde sie Finneas endlich dazu bringen, sich selbst zuzuhören. Denn für jeden, der nicht er selbst war, hatte er das größtmögliche Verständnis, die sanftesten Worte und die zärtlichste Zuneigung.

Finneas war sich selbst der größte Feind, denn er erkannte sich nicht. Und Shannon war eben nicht bei Verstand. Zusammen waren sie ein Perpetuum mobile des Abstiegs, magerer werdend, Essen verweigernd und damit, und das war eine kalte Wahrheit, sterbend. Langsam. Für alle sichtbar.

Sie hatten ohne meine Aufmerksamkeit weitergeredet und plötzlich blickten alle auf mich. Miriam hatte mich etwas gefragt, während ich im Kopf Finneas' Psychogramm durchgegangen war. Ich räusperte mich.

„Tschuldigung, ich war gerade...", ich deutete auf meinen Kopf, als würde das irgendwas erklären.

Miriams Lächeln war nachsichtig. „Ich hatte gefragt, wie es dir geht, Michael."

Immer die gleiche Frage. Und ich war müde von meinen eigenen Lügen.

„Es ist okay, denke ich", ich begegnete Finneas Blick und fragte mich unweigerlich, welches Psychogramm er wohl von mir in seinem Kopf hatte. Durchschaute er meine Lügen, wie ich seine durchschaute? Erkannte er, wie ähnlich wir uns in unserer Hoffnungslosigkeit waren – wenn wir sonst schon nichts gemein hatten?

„Ich nehme jetzt seit drei Tagen ein neues Medikament, nachdem es mit dem alten nicht geklappt hat. Ich warte also nur darauf, dass endlich der urkomische und lebensbejahende Clown, der ich eigentlich bin, aus mir herausbricht, und ihr euch alle vor Lachen nicht mehr einkriegt. Mehr gibt es nicht zu erzählen."

Damit wiegelte ich sie ab. Ich wiegelte sie immer ab, denn noch weniger als in den Einzeltherapien wollte ich vor diesem Haufen verlorener Gestalten darüber reden, was mich fast so häufig wie Finneas auf die Krankenstation brachte. Unweigerlich zog ich den Stoff meiner Ärmel über meine Hände. Erstrecht vor Harry würde ich nicht reden. Allianz und kühle Stofflappen beiseite, er war ein Fremder. Sie waren alle Fremde, doch es gab einen Unterschied zwischen Fremden, mit denen man drei Wochen verbracht hatte und Fremden, die einem einen feuchten Lappen unter der Toilettentür durchreichten, weil sie ahnten, dass man dort nicht zum Spaß ausharrte.

Miriam richtete das Wort an jeden und ich hörte niemandem richtig zu. Pünktlich zum Ende der Therapiesitzung verteilte sie bunte Papierbögen an uns. Harry nahm lila, ich nahm immer taubenblau.

„Ziele", murmelte ich und nahm Miriam damit jede Erklärung vorweg, denn Harrys Gesicht sprach Geschichten darüber, dass er keine Ahnung hatte, was er mit dem bunten Bogen anfangen sollte. Shannon war offensichtlich eine beschissene Patin, wenn sie ihm nicht einmal das erklärt hatte. „Du suchst dir Ziele für die kommenden sieben Tage. Oder ein einziges Ziel. Was kleines, was großes. Scheißegal. Wenn du fertig bist hängst du deinen Zettel da drüben an die Wand."

Ich schrieb, was ich immer schrieb: nicht sterben. Damit hatte ich genug zu tun, alles andere musste warten. Mein Blick fiel auf Harry, der nur zaghaft Worte zu Papier brachte und wirklich über mögliche Ziele nachdachte. Kurzerhand ergänzte ich einen weiteren Punkt auf meinem Zettel. Komplizenschaft.

Ich wartete, bis sich Harry erhob und seinen Zettel aufhängte. Erst dann ging ich rüber zur Wand und hängte Taubenblau in lesweite zu Lavendellila auf.

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