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An seinem ersten Morgen trug Harry einen dunkelblauen Bademantel zu einem weißem Shirt und einer simplen, grauen Jogginghose. Seine Haare lagen nun nicht mehr gewollt, sondern von der Nachtruhe wirr und er zeigte die, für einen Neuankömmling zu erwartende, Nervosität.
Ich hörte Shannon etwas von „jeden Morgen" und „Medikamentenausgabe" murmeln, doch eigentlich hörte ich gar nicht hin, eigentlich harrte ich nur aus, dort in der Warteschlange, die sich jeden Morgen in der gleichen Reihenfolge formierte. Finneas bekam als erster sein schnelles Frühstück, denn er hieß mit Nachnamen Abrahams. Nach und nach rückten wir alle einen Platz vor.
Manche nahmen ihre Pillen und verließen dann den Bereich vor dem Schwesternzimmer, andere, darunter auch Finneas und Shannon, wurden ins Schwesternzimmer gebeten um sich dort, fern von fremden Blicken, bloß in Unterwäsche wiegen zu lassen.
Harrys Stimme drang zu mir vor. Sein leises „Guten Morgen" für die Schwester und das ebenso leise „Danke", nachdem er nach dem Wasser gegriffen hatte, waren untypische Laute für die sonst so stille Prozession. Manchmal weinte jemand. Doch eigentlich waren die Abende viel schlimmer. Die Nächte waren für manche von uns eine immer wiederkehrende kleine Hölle und Grund genug, dass die abendliche Medikamentenausgabe zu einem uneinschätzbaren Spannungsfeld wurde.
Als ich an die Reihe kam, legte ich mir beide Pillen demonstrativ auf die Zunge und schluckte sie eine Spur zu geräuschvoll. Bevor die Schwester es anweisen konnte, öffnete ich den leeren Mund, streckte die Zunge raus und schob sie einmal nach links und dann nach rechts.
„Wie geht's dir, Michael?"
Ich zuckte die Schultern. „Ich glaube, heute werde ich mir keinen Strick aus meinem Bettbezug basteln. Fragen Sie morgen wieder, okay?"
Ich schaffte es nicht, zu zwinkern, auch wenn es die passende Geste zu meiner Antwort gewesen wäre. Doch allein diese beiden Sätze hatten etwas zu viel von der raren morgendlichen Kraft gekostet. Ich zuckte entschuldigend die Schultern und wandte mich ab.
„Warum haben sie dich so genau überprüft?"
Harry hatte scheinbar am Treppenaufgang auf mich gewartet, wohl wissend, dass wir denselben Rückweg hatten, jedoch völlig ungeachtet der Tatsache, dass mir offensichtlich nicht der Sinn nach einer morgendlichen Unterhaltung stand.
„Was glaubst du wohl?", fragte ich, ein bisschen zu scharf dafür, dass er mir gestern noch den Arsch gerettet hatte.
„Ich weiß es nicht. Deswegen frag ich dich."
Wir blieben vor der Tür zu meinem Zimmer stehen. Ich, mit der Hand auf der Klinke und der tickenden Uhr im Nacken, er mit den Händen in den Taschen seines Bademantels, scheinbar alle Zeit der Welt inne. Er hatte ein freundliches Gesicht, doch in diesen ersten Tagen fehlte mir der Blick dafür.
„Weil man mir nicht trauen kann", sagte ich und verschwand hinter der Tür, ohne ihm Raum für eine Antwort zu lassen.
Okay, zugegeben. Ich hatte gelogen. Mason Manor war schön, wenn man einen Blick in den Flyer oder auf die Homepage warf. Die Kunsttherapie, die Gruppenräume, das parkähnliche Außengelände - all das machte sich gut auf Hochglanz und in Werbetexten. In der Realität hätten sie diesen Ort mit weichen Decken und teuren Möbeln vollstopfen und um fünf weitere Hobbyräume erweitern können - Mason Manor war und blieb eine Psychiatrie. Die Realität bestand nicht aus Kräutertee und Yogaeinheiten, die Realität war der Geruch von Desinfektionsmittel, der nicht mitschwang, sondern in der Nase stach. Es gab seitenstarke Regelwerke, die man an seinem ersten Tag mit einer Unterschrift anerkannte und früher oder später sowieso brach. Fenster und Türen waren verschlossen. Man konnte lediglich die schmalen Kippfenster nahe der Decke öffnen. Kein Handy. Kein Fernsehen. Kein Kontakt zur Außenwelt. Zweiundzwanzig Tage, seit ich meine Mutter umarmt und ihr gesagt hatte, dass das schon alles nicht so schlimm sei. Zweizwanzig Tage, die jeden Morgen gleich abliefen: Warten, bis es sieben Uhr wurde, irgendwie aufstehen, Pillen schlucken, Übelkeit.
Sie gaben mir etwas, um meinen Magen zu beruhigen, doch Tag für Tag war das Antidepressivum schneller und so saß ich Morgen für Morgen auf den Fliesen vor einer der Toilettenschüsseln und wartete darauf, dass es auf die eine oder andere Art abklang.
In der Zeit, in der Harrys Zimmer ein leeres gewesen war, hatte ich dabei meine Ruhe gehabt. Jetzt hörte ich ihm durch die Milchglastür zu den Duschräumen und die Holztür der Toilettenkabine beim Duschen zu. Am Morgen die Übelkeit, am Abend die Leere. Und dazwischen versicherte mir immer jemand, dass das bald schon werden würde.
Die Dusche verstummte. Eine Weile hörte ich nichts, dann schabte die Milchglastür über den Boden und einen Moment später reichte mir Harry einen feuchten Waschlappen durch den Schlitz zwischen Boden und Kabine.
„Leg dir den auf die Stirn.", sagte er, dann entfernten sich seine Schritte und wenig später hörte ich, wie er die Waschräume endgültig verließ.
Beim Frühstück setzte ich mich automatisch auf den leeren Platz neben ihn und niemand schien das zu hinterfragen. Er sah nur kurz von seinem Müsli auf und lächelte.
„Geht's dir besser?"
„Danke für den Lappen", gab ich zurück, um seiner Frage auszuweichen.
Er brummte und sagte dann nichts mehr. Dafür nickte Schwester Agnes anerkennend, als sie mir das Tablett mit meinem Frühstück brachte. Ich war zum Frühstück erschienen und saß nicht allein da. In einer Welt, die meine nur von außen betrachtete, war das ein Erfolg.
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