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Mason Manor hatte nichts von einer Nervenheilanstalt. Was von außen aussah wie ein altmodisches Barockinternat, war im Inneren die verlassene Spielwiese teils zu moderner, teils viel zu konservativer Innenarchitekten.
Es gab eine Bibliothek, einen Leseraum, mehrere thematisch voneinander abweichende Ruheräume, eine Kreativwerkstatt, einen Fitnessraum und einen gottverdammten Raum voll mit Kissen, Decken, Hängematten und sonstwie entarteten Möbeln, deren einziger Zweck eine entspannte Liege- oder Sitzposition war. Selbst die Waschräume waren hochwertiger als die, die man in so manchen Hotels vorfand. Hätte es das Schwesternzimmer nicht gegeben, die dazugehörigen Schwestern in ihren Kitteln, den dezenten Geruch nach Desinfektionsmittel und den Krankenflügel, wäre man vielleicht nie auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um eine medizinische Einrichtung handelte. Mason Maner war eine Anstalt für privilegierte Irre, so wie ich es einer war, die es nicht mochten, wenn Dinge nach Krankheit, Defizit oder Versagen aussahen. Mason Manor war Durchdrehen in High Fashion. Im Gegensatz zu einigen der Anderen hatte ich mir dieses Privileg jedoch nicht erarbeitet, sondern war in es hineingeboren worden, ob mir das nun gefiel oder nicht.
Wer nach Mason Maner kam, hatte zuvor einen Haufen Geld in die Hand genommen und bekam dafür nicht nur eine vollkommen übergezogene Inneneinrichtung mitsamt zugehörigem Außengelände, sondern ein Programm, dass von morgens bis abends vollgepackt war. Sie bestimmten, wann wir Sport machten, uns kreativ betätigten, ein Buch lasen, uns weiterbildeten, uns entspannten; wann wir essen und was wir essen, wann wir schliefen, duschten und, natürlich, wann es Zeit für die Therapie war. Gruppengespräche, Einzelgespräche und ein Haufen Aktionen, um den Sozialcharakter der Gruppe zu stärken.
Einige von uns waren unter zu schweren Terminkalendern zusammengebrochen oder vor der Terminlast ihres täglichen Lebens geflohen, nur um hier das Gleiche serviert zu bekommen – nur saß man statt in einem Meeting in einem der Entspannungsräume, rutschte auf einem Kissen hin und her und versuchte, sich auf eine Stimme zu konzentrieren, die einen durch eine Mediation führen sollte, während man dachte und dachte und dachte und darüber hinaus nie die Zeit fand, wirklich loszulassen. Vielleicht war ich aber auch der einzige mit diesem Problem.
Abendessen gab es pünktlich um sechs und ich war nicht überrascht, als mir Harry in einem der Flure entgegenstolperte, die ganz und gar nicht in der Nähe des Speisesaals lagen. Es gab schlichtweg zu viele Flure, Abzweigungen und Räumlichkeiten, um sich auf Anhieb zurecht zu finden. Auch dafür waren die Paten da. Er wandte sich mehrmals nach links und rechts, versuchte eine der Türen zu öffnen und strich sich mit zusammengepressten Lippen das Haar aus der Stirn, bevor er mich bemerkte.
„Hey, ähm, kannst du...?"
„Hast du Shannon schon vergrault?"
Er kam näher und zögerte kurz, als er die Zigarette in meiner Hand bemerkte.
„Sie wollte mich eigentlich abholen. Naja, schätze, sie hat's vergessen."
Wie selbstverständlich stellte er sich an die breite Fensterbank, auf der ich Platz genommen hatte und folgte meinem Blick auf einen Teil des Außengeländes. In den letzten Tagen hatte es fast ausschließlich geregnet. Die Feuchtigkeit hing noch immer schwer an den Ästen der Eichen.
„Shannon hat es nicht so mit dem Essen. Nimm es ihr nicht übel", sagte ich schließlich. Er sagte nichts und ließ sich auch nicht dadurch aus der Fassung bringen, dass ich den Zigarettenrauch in seine Richtung blies.
„Der Speisesaal liegt in dem Flur rechts von diesem komischen Gemälde mit den Musikinstrumenten. Du bist links herum gegangen."
„Und wo sind wir hier?"
„Krankenstation. Hier hat man seine Ruhe, wenn nicht gerade einer von uns durchdreht."
„Drehen hier öfter welche durch?"
Ich stöhnte auf. „Shannon ist deine Patin. Die muss sich um deine Fragen kümmern. Du kommst übrigens zu spät zum Abendessen, da stehen die hier gar nicht drauf.
„Und was ist mit dir?"
Harry sah mich an. Und ich sah ihn an. Die Antwort auf seine Frage war offensichtlich und er hatte sie trotzdem gestellt, was implizierte, dass er etwas anderes damit meinte, dass es einen doppelten Boden in seiner Sprache gab, bei dessen Verschleierung er sich keine Mühe gab. Einen Moment lang blieben wir so. Dann gab ich nach, seufzte und rutschte von der Fensterbank. Den Zigarettenstummel trat ich aus und schob ihn mit der Spitze meines Schuhs in die Nische unter der Fensterbank.
„Los doch," ich drehte mich zu Harry um, der mir nicht auf dem Fuß folgte, sondern den Blick nun wieder aus dem Fenster gerichtet hatte, „beweg dich!"
Schwester Agnes schnalzte die Zunge und schüttelte gleichzeitig den Kopf, als wir in das gemächliche Treiben des Abendessens einfielen. Mir lag eine Bemerkung darüber auf der Zunge, dass sie froh sein konnte, dass ich überhaupt erschienen war, schließlich handelte es ich dabei um die Ausnahme der Regel, doch Harry kam mir zuvor und ergriff das Wort.
„Entschuldigen Sie bitte die Unhöflichkeit. Ich hatte einen kleinen Anflug von Heimweh und Panik in den Waschräumen. Michael hat mich gefunden und ich hab ein bisschen Zeit gebraucht, um mich zu beruhigen. Er hat mir geholfen."
Niemand am Tisch glaubte ihm. Doch statt die Lüge wie ein schlechter Lügner immer weiter zu entfalten und auszubreiten, setzte er sich einfach seelenruhig an den nächsten freien Tisch und legte die Hände auf die Oberschenkel. Ich setzte mich neben ihn, um seine Lüge zu untermauern, aber auch, weil wir zumindest für den Moment eine Allianz waren. Und echte Allianzen gab es hier selten.
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