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Wir hatten uns in so vielen Gruppenstunden einfach nur im Kreis, oder, schlimmer noch, lediglich um uns selbst gedreht. Hatten stundenlang über ein und dasselbe Thema geredet, ohne jemals auf einen Punkt zu kommen. Hatten so viel Zeit mit Inhaltsleere vergeudet.

Und dann hatte es die wenigen sinnvollen Stunden gegeben, in denen sie uns beigebracht hatten, was unsere Krankheiten wirklich waren. Das chemische Ungleichgewicht hinter einer Depression. Die Wirkweisen einer PTBS. Die Effekte eines Triggers. Wie wir mit Panikattacken umgehen konnten. Ich hatte nie wirklich zugehört, aber ich erinnerte mich an dieses Video. Diesen Text. The body can only panic for a maximum of about 20 minutes.

Meine Brust lag an Harrys Schulterblättern und ich spürte das Herz in seinem Brustkorb schlagen. Roch den kalten Schweiß in seinem Nacken, sah die Carotis an seinem Hals pulsieren. Das war kein Ich bin so aufgeregt, ich sterbe gleich. Keine Floskel ohne Aussage. Keine gedankenlose Metapher.

„I-Ich sterbe."

„Du stirbst nicht." Seine Muskeln zuckten, als ich ihm meine Handflächen auf den Bauch legte. „Du musst atmen, Harry."

Meine Brust hob sich gegen seine Schulterblätter, kam dort einen Moment zur Ruhe, und senkte sich dann wieder.

„Atme gegen meine Hände. Tief in den Bauch. Erst ein..." Meine Brust an seinen Schulterblättern. Meine Hände auf seinem Bauch. Er folgte. Zu schnell, stolpernd und jenseits der Kontrolle. Doch wenigstens versuchte er es. Gemeinsam hielten wir inne.

„Dann aus."

Mein Atem an seinem Ohr. Seine Bauchdecke unter meinen Fingern.

„Ein..."

Brust, Schultern. Hände, Bauch. Wir waren Körper.

„...und aus."

Er hatte ein Muttermal gleich neben der Carotis, gleich unter seinem Bartschatten. Alles andere verschwamm.

„Du stirbst nicht", sagte ich nochmal, als ich sicher war, dass er meinem Atem folgte. „Auch wenn es sich so anfühlt. Spätestens in einer halben Stunde ist alles vorbei. Du musst nur atmen."

Brust, Schultern. Hände, Bauch. Von Distanz, von Blicken, von Berührungen mit heimlicher Absicht - zu seinem Körper, der sich mit jedem Atemzug an meinen lehnte. Meine Hände auf seinem Bauch und seine Hände, die sich auf meine legten.

„Red weiter."

Ich war nah genug, dass ich Harry schlucken hören konnte.

„Du stehst auf einem Boden aus Nussbaumholz. Fucking Mason Maner scheint daraus zu bestehen, als hätte man diese Anstalt einfach direkt aus einem Stamm geschnitzt. Zwei Schritte weiter von uns hat mal ein Teppich gelegen, beige mit kirschroten Punkten. Doch den hab ich direkt in meiner ersten Woche mit meinem Blut ruiniert und seitdem haben sie mir keinen neuen anvertraut."

Brust. Schultern. Er ließ ganz langsam los.

„Jemand hat in die Unterseite des Schreibtisches ‚Ich war hier' geritzt. Und wenn die Nacht wirklich dunkel ist, stelle ich mir die Leben aller vor, die bereits in diesem Zimmer gelebt haben. Wie viele auf der anderen Seite wieder herausgekommen sind. Wie viele hier waren, aber nicht..."

Jetzt schluckte ich. „Wenn die Nacht wirklich dunkel ist, frage ich mich, ob ich irgendwann an der anderen Seite wieder herauskomme."

Wir waren Körper und Atem und solange er mich nicht ansah, solange mich niemand ansah, konnte ich diese Dinge nicht nur denken, sondern sagen. Und wären das hier nicht die Wehen seiner Panikattacke, dann hätte ich vielleicht mehr gesagt.

„Vom Fenster aus kann man die Einfahrt sehen. Deswegen mag ich die Fenster im Aufenthaltsraum lieber, die gehen zum Meer raus. Nachts, bei offenem Fenster, kann man manchmal die Wellen hören."

Ich verstummte. Nur noch mein Atem gegen Harrys Rücken und er atmete synchron gegen unsere Hände. Ich konnte sein Herz kaum noch spüren.

„Danke."

Ich hielt mich von Floskeln ab. Kein Aber klar, Keine Ursache, oder Ist doch selbstverständlich. Wenn man war, wie wir waren, war nichts jemals selbstverständlich. Und wahrscheinlich wusste Harry das.

Es wurde besser. Ganz langsam. Sein Körper wurde weicher, seine Atmung fand zu ihrem eigenen Rhythmus zurück, bis unklar war, wessen Brustkorb den anderen imitierte. Doch statt sich sofort von mir zu lösen, legte er den Kopf in den Nacken, entließ die Anspannung mit einem tiefen Seufzen und streifte meine Wange mit seinem Haar. Er roch noch immer nach Angst.

„Bist du okay?"
Er nickte. „Ja. Ich... Keine Ahnung. Tut mir leid. Es ist mitten in der Nacht."
„Ja. Beim nächsten Mal bitte nur zu den gängigen Geschäftszeiten."
Die Muskeln unter meinen Händen zuckten, als er schnaubte. Seine Finger strichen über meine. Vielleicht unbewusst. Ich wartete, bis ich sicher war, dass die Panik verebt war. Dann wartete ich noch einen Moment länger.

Den Nachtpfleger belog ich, dann baute ich einen Stapel aus Handtüchtern und der weichsten Kleidung, die ich besaß. Die Panik hatte Harry ausgehölt zurückgelassen: Er saß da, auf der Kante meines Bettes, die Schultern zusammengesunken, und nippte an meiner Wasserflasche. Seine Augen lagen müde in ihren Höhlen und ich musste unweigerlich daran denken, dass er nie wirklich krank ausgesehen hatte. Bisher hatte er nie ausgesehen, als würde er hierher gehören.

Das Licht in den Waschräumen machte es nicht besser. Doch ich wusste: Schlimmer, als weißes Licht in zu steilen Winkeln, das all unseren Schatten noch mehr Tiefe verlieh, war ein Aufwachen, bei dem man den Terror der letzten Nacht nicht nur unter, sondern auch auf der Haut spürte. Ersteres war ein notwendiges Übel, um letzterem zu entgehen.

Während ich ihm aus seinem Shirt half, versuchte ich, die Muskeln darunter zu ignorieren. Ich hatte sie unter meinen Fingerspitzen gespürt, und das war schon zu viel gewesen. Er streifte sich die Hose von den Beinen, ich drehte das Wasser in der Duschkabine auf, damit es warm war, sobald er sich darunter stellte. Ich erlaubte mir keinen einzigen Blick tiefer als zu seinen Schlüsselbeinen. Selbst seine nackten Schultern erschienen mir intim.

„Ich bleib genau hier. Wenn was ist."
Er nickte.

Ich faltete seine Kleidung zusammen. Der Stoff war warm und klamm. Und dann standen wir da. Er unter dem warmen Wasser, ich in dem kleinen Vorraum der Duschkabine. Wir blieben, bis der Wasserdampf dichter Nebel wurde, in dem sich mein Haar wellte. Bis der Wasserstrahl schließlich abbrach und für einen Moment nur Stille und leises Tropfen blieben. Ich wickelte ihn in ein Handtuch, sobald er die Kabine verließ. Er kräuselte die Nase, während ich seine Haare mit einem zweiten Handtuch trocknete. Nach und nach reichte ich ihm Kleidung, die sich so an seinen Körper schmiegte, als machte sie keinen Unterschied zwischen ihm und mir.

Wir redeten nicht. Nichts benötigte mehr Worte und alles war längst gesagt. Ein paar Stunden später schmiegten sich Nacht und Tag aneinander, bevor sie ihre Positionen wechselten. Und Harry schlief neben mir. Mit ruhigem Atem und einem Herzschlag, der von außen nicht sichtbar war. Er roch wieder nach sich. Und ein bisschen nach mir.

Vielleicht hörte ich in dieser Nacht auf zu denken. Vuelleicht war ich jetzt einer dieser Menschen, die ins Meer rannten, blind für Strömungen oder lebensgefährliche Panikreaktionen Ertrinkender. Rettung gegen Selbsterhaltung. Vielleicht wurde man zu so jemandem, wenn es um etwas ging.

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