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Ich saß ganz still da. Kein Herumlaufen, kein Blick aus den Fenstern. Meine Finger strichen nicht über die vielen Buchrücken, sie lagen in meinem Schoß und ich rieb mir, immer wieder, ohne damit aufhören zu können, über die Knöchel, denn obwohl die Prellungen und Abschürfungen längst verheilt waren - das dumpfe Gefühl war geblieben.
Dr. Williams ertrug mein Schweigen stoisch, genauso, wie ich es von ihr kannte. Ich würde heute reden, irgendwann, immerhin hatte ich um diese Notfallsitzung gebeten. Ich war nur noch nicht so weit. Ich wusste nicht, welche Sätze ich nutzen wollte und ob die Worte darin den richtigen Sinn ergaben. Ich war noch zu beschäftigt mit meinen Knöcheln.
„Pete Bell hat mir heute Morgen erzählt, dass er Harry und dich gestern nach Bettruhe in einem der Flure erwischt hat."
Ich hätte gern gefragt, ob er dabei so ekelhaft gegrinst hatte, wie er es in meiner Vorstellung tat. „Wir haben geredet. Der Flur kam mir dafür unverfänglicher vor, als eines unserer Zimmer."
Dr. Williams nickte. Ein Regelverstoß blieb ein Regelverstoß, aber gute Absicht und Logik konnten subkutan existieren. Ich ließ die Knöchel Knöchel sein und sah auf.
„Es geht nicht um Pete. Nicht richtig wenigstens", meine Stimme war noch immer so kratzig wie vor einer halben Stunde, als ich das Antidepressiva geschluckt und um diese Sitzung gebeten hatte. Noch vor dem Frühstück. Statt des Frühstücks. Hauptsache schnell. Ich hatte Harry nicht angesehen und die Übelkeit, die mir im Hals saß, hatte an diesem Morgen nur mittelbar mit dem Medikament zu tun. „Es geht um Aiden."
Und dann schwieg ich wieder, denn über Aiden zu reden war, als würde man glühende Kohlen in den Mund nehmen. Über Aiden zu reden brachte den Schmerz auf meinen Fingerknöcheln zurück und über Aiden zu reden ließ mich daran denken, dass ich einen Stift aus genau diesem Büro entwendet und auf die Unterseite meines Kleiderschranks geklebt hatte.
„Aiden hat damals", schon hier machten meine Worte keinen Sinn mehr, denn Aiden war nicht damals passiert. Damals markierte einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, dabei wurde er gefühlt erst vor fünf Minuten mit einer Trage aus seinem Zimmer auf die Krankenstation gebracht. Dieses Damals existierte nicht, denn dieses Damals war jetzt. Ich räusperte mich.
„Aiden und ich standen uns sehr schnell sehr nah, ich denke, das hat jeder mitgekriegt."
„Das war ziemlich offensichtlich." Sie machte sich keine Notizen, ihre Kladde hatte sie nicht einmal geöffnet. Seit meinem Erscheinen saß sie in ihrem Stuhl zurückgelehnt und betrachtete mich mit einem viel zu aufmerksamen Blick.
„An diesem Tag haben wir nachmittags mit Kat und Max zusammengesessen. Kat hat erzählt, dass sie eine Zeit lang bei einer Gruppe Männer gewohnt hat, die ihr Geld als Travestiekünstler verdient haben und... die genauen Umstände sind eigentlich egal. Man bekommt einfach irgendwann sowas wie einen sechsten Sinn dafür, wie wohl sich die Leute bei diesen Themen fühlen. Und meiner schlug bei Aiden an."
„Hat er etwas dazu gesagt?"
„Nein. Er wurde einfach plötzlich schweigsam und hat sich nicht mehr am Gespräch beteiligt. Sie wissen ja, dass er sonst mehr redete, als uns allen gut tat. Ich hab ihn abends darauf angesprochen."
Ich ließ den Teil aus, in dem es darum ging, dass ich mich ständig zu den Ruhezeiten in sein Zimmer geschlichen hatte. Dass die Fenstersicherung in seinem - jetzt Harrys - Zimmer kaputt war und man es deswegen einen winzigen Spalt breit öffnen konnte. Nicht genug, um eine Hand durchzustrecken, aber breit genug, um Zigarettenqualm hinauszupusten. Ich ließ den Teil aus, der mich schwach aussehen ließ, denn Aiden war Aiden und mich hatte nie etwas hart gemacht. Auch wenn ich gern so tat, auch wenn ich es mir wünschte. Ich war schwach geblieben wenn es um andere Menschen ging. Und Aiden war die Sorte Mensch, die einen Raum betrat und jeden dazu brachte, ihn anzusehen. Jeder hatte immerzu in Aidens Nähe sein wollen und jeder hätte darüber Zeugnis abgelegt, was für ein feiner Kerl er war.
Alles, was nun folgte, tat weh.
„Er hat gelacht. Erst nur leise, als er jedoch merkte, dass ich es ernst meinte, lachte er immer lauter. Schüttelte den Kopf und schubste mich so ein bisschen, als hätte ich den besten Witz erzählt, den er jemals gehört hatte. Dabei hatte ich ihn gefragt, ob er ein Problem mit Menschen hatte, die queer sind. Er hat erst aufgehört zu lachen, als ich ihm sagte, dass ich schwul bin."
Es blieb still zwischen uns. Eine ganze, lange Weile, in der ich meinen zu hohen Puls hätte bemerken können, die Übelkeit, die mir nicht mehr nur im Hals saß, sondern sich langsam nach oben fraß. Ich rieb mit der einen Hand immer wieder über die Fingerknöchel der anderen. Die Muskeln meines Körpers waren unsicher, ob sie sich für Kampf oder Flucht entscheiden würden. Das alles war ein hätte, würde, wenn. Denn ich spürte nur Scham und Schmerz.
„Was ist dann passiert, Michael?"
„Er", ich zuckte die Schultern, als wäre das keine große Sache. Nicht der Rede wert. „Er wurde mit einem Mal vollkommen ernst, hat mich auf eine Art gemustert, für die man keinen sechsten Sinn braucht und mir gesagt, dass er jetzt verstünde, warum mein Vater so angewidert von mir sei. Danach..."
Ich brach ab. Das Danach war eine Geschichte, in der ich mir die Fingerknöchel beider Hände an einem Jochbein aufschlug. Manche Dinge kamen ohne Worte aus.
Ich hatte mich noch nie geprügelt, nie ernsthaft. Jungenraufereien, bei denen alle mehr lachten als zuschlugen und keiner eine Ahnung hatte, wie man eine richtige Faust ballte, zählten wohl kaum. Wenn man ein vernünftiges Hirn hatte, über ausreichend Hirnzellen verfügte und diese zu nutzen wusste, so dachte ich zumindest, wäre man kugelsicher. Das war vor Mason Manor. Nach Mason Manor würde ich noch immer wissen, wie es sich anfühlte, wenn einem fremdes Blut auf der Haut trocknete, während sie denjenigen wegbrachten, auf dem man eben noch gehockt hatte. Wie es war, wenn sich die Realität für den Moment komplett ausschaltete, nur um einen plötzlich wieder einzuholen.
Aidens Gesicht hatte kaum noch ausgesehen wie sein Gesicht. Da war Blut gewesen. Jemand hatte geschrien, dass er einen Puls hatte. Ein anderer hatte gesagt, dass man das schon wieder hinkriegen würde. Aiden war reglos geblieben. Und ich hatte nie nach ihm gefragt.
„Warum erzählst du mir das gerade heute?" Dr. Williams griff nun doch nach der Kladde und blätterte einige Seiten um, bis sie eine unbeschriebene gefunden hatte. Die meisten hier arbeiteten mit Laptops oder Tablets, sie hatte sich jedoch nie Notizen auf einem technischen Gerät gemacht. Ich mochte diese Kladde, deren Seiten immer ein bisschen ausgefranst wirkten.
„Jemand hier sollte wissen, dass ich Aiden nicht aus Langeweile oder Jux verprügelt habe."
„Du könntest..."
Es den anderen sagen vervollständigte ich sie im Stillen, schüttelte jedoch den Kopf, bevor sie ausreden konnte. „Nein, kann ich nicht. Aber ich konnte es Ihnen erzählen, und das habe ich hiermit getan."
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