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Mason Manor hatte Regeln. Während der Mahlzeiten gab es eine Phase, in der niemand reden durfte. Nur Essen, keine Ablenkung. Das Verlassen der Einrichtung war nur dann gestattet, wenn man die ausdrückliche Erlaubnis dazu hatte. Termine wie Therapiesitzungen oder Gesundheitschecks waren verbindlich, Verspätungen oder Nichterscheinen stellten einen Regelbruch dar. In den Gruppentherapien ließen wir einander ausreden. Andere wurden nicht angeschrien. Gewalt gegen das Personal führte zu einer sofortigen Beendigung der Therapiemaßnahme. Keine Mobiltelefone. Kein Kontakt nach außen - außer man hatte, richtig, die ausdrückliche Erlaubnis.

Und es gab unsere Regeln. Ein Regelwerk, das schon vor dem ersten Patienten bestand und dem man automatisch zustimmte, sobald man seinen ersten Schritt durch die großen Flügeltüren des Haupteingangs setzte. Wir verrieten einander nicht. Niemals. Egal ob wir uns mochten, hassten oder uns egal waren. Jene, die am längsten hier waren, waren automatisch Respektspersonen. Sie waren weiser und klüger, weil sie den Scheiß schon länger mitmachten. Klinikpersonal wurde niemals zu einem Verbündeten. Zu einem Vertrauten vielleicht, ja, aber niemals zu einem Verbündeten, denn wir spielten in unterschiedlichen Teams. Und die wichtigste Regel: Jeder bekam immer nur so viel, wie er oder sie vertrug. Nicht mehr. Jemand, der am Boden lag, wurde nicht noch getreten.

Deswegen sagte an diesem Morgen niemand ein Wort, selbst als die Zeit des Schweigens für dieses Frühstück offiziell beendet wurde.

Shannon hatte schon bei der Medikamentenausgabe leise geschluchzt. Hatte versucht, das Wiegen zu verweigern, schließlich würde sie wegen dieser zwei Pillen und dem Schluck Wasser viel mehr wiegen. Jetzt war die Butter zu buttrig, die Scheibe Brot auf ihrem Teller mindestens acht Mal dicker als die von jedem anderen und sowieso bekam sie immer den größten Apfel. Einmal hatte sie behauptet, dass in ihren Äpfeln immer Würmer seien, weil sie ihr so zusätzliches Protein unterjubeln wollten. Ich wünschte, es wäre ihr mit dieser Behauptung nicht ernst gewesen.

Draußen rissen seit Stunden Windböen an Bäumen und Fassade, hier drin zerrte Shannon an unseren Nerven. Jeder von uns wurde nervös, wenn einer aus der eigenen Reihe das Gesicht verlor, denn es zeigte uns einmal mehr auf, wie dicht wir alle am Abgrund standen.

Ich trank einen letzten Schluck Tee. Harry verlagerte auf dem Stuhl neben mir das Gewicht von links nach rechts. Jacky rührte mit geschlossenen Augen in ihrem Porridge. Kat aß am anderen Ende des Raumes eine Banane und zwinkerte mir über den langen Tisch hinweg zu. Und überall dazwischen ein Stakkato aus Ich ess das nicht, könnt ihr vergessen und dem Geräusch von Keramik auf Holz, jedes Mal, wenn sie den Teller von sich schob.

Sonst spielten sie ein Duett, doch Finneas, der bei diesen Shows eigentlich mindestens die zweite Geige spielte, überraschte uns alle, indem er sein Frühstück als erster beendete. Er bewegte sich beim Abräumen seines Geschirrs derart steif, als hätte man seine Gelenke über Nacht mit Blei gefüllt und sie zu lang aushärten lassen. Er blickte kein einziges Mal auf.

Seine Füße hatten kaum die Schwelle des Raumes verlassen, als eine der Schwestern aufstand und ihm folgte.
Ungewöhnliches Verhalten machte aus uns allen potenzielle Täter. Und jemand, der seine Bulimie mehr zu lieben schien als das eigene Leben, war immer dann verdächtig, wenn er ohne Protest und mit zu viel Tempo das zuvor sorgsam abgewogene Frühstück aß.

Harrys Blick streifte meine linke Gesichtshälfte und ich nickte, ohne dass er fragen musste. Nur ein paar Tage hatten gereicht, um uns eine gewisse Routine anzueignen: das feuchte Tuch, das er mir jeden Morgen zwischen Fliesenboden und Toilettenkabinentür hindurchreichte. Der Kaffee, den ich ihm einschenkte, während er uns Besteck holte. Dass er fragte, ob ich fertig sei, bevor er unsere Tassen und ich unsere Teller abräumte.


Jeder Morgen war ein Anfang, seit Harry Styles nach Mason Manor gekommen war. Und es dauerte eine wahre Ewigkeit, bis ich mir dessen bewusst wurde.

Wir trafen uns. Immer wieder. Nicht mit Absicht, nicht wie Oh du hast heute auch Ergotherapie bei Smith? Cool. Lass uns doch zehn Minuten vorher in dem Gang bei dieser Kintsugi-Vase treffen und zusammen hingehen. Nein. Harry und ich waren zwei Planeten des gleichen Universums, deren Umlaufbahnen sich schnitten, begegneten, kreuzten und manchmal nebeneinanderher liefen.

In einer Stunde Werken und Gestalten arbeitete er an dem Tisch neben meinem; in der Kunsttherapie begann er ein abstraktes Bild, für das er jede Farbe benutzte und mich fragte, ob ich ihm etwas von der Strukturpaste abgeben könnte. Während all dieser Gruppentherapien in den möglichsten und unmöglichsten Zusammensetzungen saß er immer, mal mehr und mal weniger, neben mir. Manchmal übersprangen meine Gedanken jede zwischen uns sitzende Person.

Wir begegneten uns auf den Gängen. Unsere Blicke trafen sich im Aufenthaltsraum. Selbst in unseren Zimmern trennte uns nur eine Wand.

Dieses Mal trafen wir uns beim Yoga, einem Ort, an dem ich mich selbst nie vermutet hätte und den ich mir sonst bloß mit Jacky teilte - sie froh darum, dass es eine Dreiviertelstunde absolut okay war, dass sie nicht sprach und ich so weit hinten im Raum wie nur möglich. Aus Gründen.

Genau dazwischen rollte Harry eine dritte Matte aus und zupfte eine Fluse von dem dunkelblauen Kapuzenpullover, den er heute trug, ehe er sich niedersinken ließ. Er hatte ein Lächeln für jeden von uns: zuerst Helen, die ihr Fahrrad zwei Mal die Woche am Haupttor anlehnte, um uns in samtweichen Anweisungen anzuleiten. Dann Jacky, die Harrys Bewegungen aus dem Augenwinkel verfolgte, so wie sie uns alle heimlich verfolgte. Und zuletzt für mich. Ein kurzes Lächeln, vielleicht eine Sekunde lang, in dieser fließenden Bewegung, mit der er sich kurz zu mir umdrehte. Ein flüchtiges Du schon wieder, wie eine Erinnerung all der ungesagten Worte zwischen uns, die ich ihm vielleicht nur in den Mund legte. Oder er mir?

Wir streckten und dehnten uns. Es war langsames Yoga, die Art, bei der man vollständig zur Ruhe kommt und seinem Körper in jeder Position die nötige Zeit lässt, um gänzlich anzukommen. Während Jacky nie die Augen schloss, hatte ich mich schon immer geweigert, meine auch nur für eine Sekunde zu öffnen.

Ich spürte meine Muskeln. Spürte jede Sehne, spürte alles von meinen Zehenspitzen bis zu meinen gottverdammten Fingerkuppen. Nur für einen Moment dachte ich daran, dass neben meinem Atem irgendwo auch Harrys existierte, doch dann war da schon nichts mehr. Ich war innerhalb von Minuten nur noch in mir.

Und das war der schlimmste Ort der Welt.

Da waren Musik und Minzgeruch. Bewegung und Stillstand. Helens ruhige Stimme die sagte, dass es okay sei. Dass wir hinfühlen sollten. Das alles, was wir empfanden okay sei.

Es ist okay. Du bist okay. Du bist sicher. Du bist hier in Sicherheit.

Es ist okay.

Ich realisierte es immer erst am Ende. Erst in der Schlussentspannung, immer dann, wenn ich unfähig war, die Finger zu bewegen oder die Füße kreisen zu lassen, denn immer dann, wenn ich zu mir fand, fand ich nicht mehr heraus.

Beim ersten Mal hatte ich geschluchzt. Mittlerweile weinte ich bloß noch lautlos, die Augen geschlossen, die Fäuste geballt, als könnte ich es doch noch aufhalten.

Jacky verließ als erste den Raum. Ihre Schritte waren unverwechselbar, weil sie immerzu schlurfte. Im nächsten Moment deckte mich Helen mit einer dieser grauen Wolldecken zu, die immer rochen, als seien sie eben erst frisch aus dem Trockner gekommen. Das hier war einstudiert, denn es passierte immer wieder.

Harry ging nicht. Jacky war gegangen, die Decke war längst auf mir ausgebreitet worden, doch sein Paar Füße Richtung Tür fehlte. Seine Unsicherheit erfüllte den ganzen Raum.

„Ist schon okay."

Ich wusste, dass Helen lächelte. Vielleicht legte sie Harry sogar eine Hand auf den Arm. Ich konnte sein Zögern spüren.

„Ich könnte..."

„Er braucht einfach ein bisschen Zeit."

Und Harry verstand, auch wenn seine Schritte vorsichtig klangen und er die Tür hinter sich derart zaghaft schloss, als hinge unser aller Leben davon ab. Erst jetzt war es wirklich still im Raum.

„Nimm dir die Zeit, die du brauchst, Michael." Samtweich und warm, vom anderen Ende des Raumes. Helen hatte nie darüber reden wollen, warum ich jedes Mal weinte. Sie war mir nie näher gekommen, als dass sie mit mir darauf wartete, dass ich herausfand.

„Alles in deinem Tempo. Es ist okay."

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