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Wenn man durch das Panoramafenster des Aufenthaltsraums sah, dann blickte man direkt aufs Meer. Nun, nicht ganz direkt, aber man konnte seinen Blick den Hügel hinuntergleiten lassen und über eine der Dünen hinweg die Brandung ausmachen. Allein für diesen Ausblick lohnte sich hier alles, und genau damit tröstete ich mich immer dann, wenn es besonders hart wurde. Am liebsten saß ich in der Nacht hier, öffnete eines der Kippfenster nahe der Decke, lauschte den Wellen und war, manchmal zum ersten Mal am ganzen Tag, wirklich bloß allein. Mit mir. Mit meinen Gedanken. Dann konnte ich mir zuhören, oder zumindest gespannt darauf warten, dass sich endlich wieder etwas in mir regte, dass die Emotionen zurückkamen.

Es war reiner Zufall, dass ich an jenem Tag nicht auf das Meer hinaussah oder anderweitig abgelenkt war, sondern in meinem Zimmer auf der genau gegenüberliegenden Seite der Anstalt saß, den Kopf auf einen Arm gestützt, den Blick eigentlich nur lose aus dem Fenster gerichtet, ohne ein festes Ziel, ohne Blickrichtung. Mit dem Zeigefinger strich ich mir über den feinen Bartschatten an meinem Kinn und vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte mein Unterbewusstsein aber auch dafür gesorgt, dass ich an diesem Tag, zu dieser Zeit, genau dort saß. Denn so war ich der erste, der einen Blick auf ihn werfen konnte. Schon kurz nach diesem ersten Blick würde sich alles ändern und es war dieser Moment, in dem ich ihn wahrnahm, wie ich ihn nie wieder wahrnehmen würde: zum ersten Mal, ohne Prägung, ohne Erinnerung, ohne jeden Vergleichswert.

Der schwarze Wagen fiel mir erst auf, als er schon fast die komplette Einfahrt hinter sich gebracht hatte und vor dem Haupteingang zum Stehen kam. Fast hätte ich ihn verpasst. Der schwarze Lack glänzte im Sonnenlicht und ich kniff die Augen zusammen, beobachtete, wie sich auf der Fahrerseite die Tür öffnete und der Fahrer hinaustrat. Auch wenn ich es hier oben nicht hörte, so wusste ich doch, wie der Kies unter seinen Schuhsohlen knirschte. Der Fahrer hatte bereits den Kofferraum geöffnet und hievte gerade eine sichtlich schwere Tasche hinaus, als sich die Tür hinten rechts öffnete und jemand einen Fuß hinausstreckte. Zögernd, als wollte man erst testen, ob das Wasser wohl temperiert war. Wirre braune Haare und ein Gesicht, halb versteckt hinter einer Wayfarer, folgten. Er ging zu dem Fahrer, half ihm beim Ausladen des Gepäcks und legte ihm zur Verabschiedung eine Hand auf die Schulter. Der Fahrer nickte ihm ein letztes Mal zu, verschwand wieder im Wagen und schenkte unserem Neuankömmling diese letzten Sekunden in Freiheit, in denen er dem Auto hinterhersehen und sich innerlich auf die Dinge vorbereiten konnte, die nun auf ihn warteten.

Keine zwei Sekunden nachdem er endlich unter dem Vordach verschwunden war, klingelte es im unteren Stockwerk an der Tür. Ich seufzte, rieb mir durch das Gesicht und erhob mich schwerfällig von meinem Stuhl, bloß um meine Tür zu öffnen und mich in den Rahmen zu lehnen. Die ersten Schritte waren immer die gleichen: jeder neue Patient bekam einen Paten oder, wie in diesem Fall, eine Patin zur Seite. Eine Bezugsperson, wohlinstruiert durch die Schwestern, die für die Begrüßung zuständig war, dem Neuen sein Zimmer und schließlich den Rest der Anstalt zeigte. Erst dann meldete man sich im Schwesternzimmer offiziell an. Angeblich sollte das für einen sanften Einstieg sorgen, vielleicht war es aber auch nur eine besondere Form der Beschäftigungstherapie für jene, die schon ein bisschen zu lang hier waren und sich langweilten. Das einzig freie Zimmer lag auf meinem Flur, es war also nur eine Frage der Zeit, wann er in Shannons Begleitung hier heraufkommen und mir die Gelegenheit bieten würde, ihn aus nächster Nähe zu betrachten, ohne bis zum Abendessen warten zu müssen. Als sie um die Ecke bogen erklärte ihm Shannon gerade, wie lang sie schon hier war. Sein Blick fiel an ihr vorbei auf mich, ein Detail, das ihr nicht verborgen blieb, denn sie verstummte und warf mir ebenfalls einen Blick zu. Er lächelte und streckte seine Hand schon aus, noch bevor er nah genug war, dass ich sie hätte ergreifen können.

„Hi, ich bin Harry."

Er hatte große, dabei jedoch ungewöhnlich feingliedrige Hände. Gepflegter als der Durchschnitt. Schöne Hände. Hände, die warm aussahen. Ich ignorierte jene, die er mir entgegenstreckte, obgleich sie nun in greifbare Nähe gerückt war und ließ meine tief in den Taschen meiner Stoffhose vergraben.

„Ich weiß wer du bist. Wir alle wissen das. Du kannst dir die Vorstellungsrunde also sparen."

So schnell wie er sie ausgestreckt hatte, zog er die Hand wieder zurück. Das Lächeln verschwand.

„Gott Michael, warum musst du immer so ein Arsch sein?" herrschte mich Shannon an und betonte das immer besonders giftig.

„Weil ich einer bin, schon vergessen?"

Ich trat einen Schritt zurück und bedachte Harry mit einem letzten Blick.

„Willkommen in Mason Maner", brummte ich, dann knallte ich meine Tür zu.

„Keine Sorge," hörte ich Shannon nun gedämpft sagen, „der kriegt sich schon bald ein."

Dann entfernten sich ihre Schritte.

Das war er. Der Tag, an dem Harry einzog. Sein erster Tag war mein einundzwanzigster und doch war das hier so etwas wie ein Neuanfang für uns beide. Ab jetzt würde sich alles ändern.

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