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ᯓ★ erzählerin
Wir befanden uns mitten in der Nacht, als San diese damit verbrachte, die Rennpiste aufzuräumen. Zwar war dies sowieso ein Teil seines Berufs dafür zu sorgen, dass die Piste für den nächsten Tag sauber aussah, jedoch wäre es jetzt nicht nötig gewesen, die Bänke und Sitzreihen nach Müll zum Wegräumen durchzuschauen. Vorallem nicht mitten in der Nacht, nachdem die Reinungskräfte sowieso schon ihren Durchlauf gemacht hatten.
Dennoch lenkte sich der junge Mann durch solche Tätigkeiten von seinen eigenen Gedanken ab. Schließlich hatten wir es hier mit einem seelisch leidenden Menschen zutun. Einem jungen Menschen, der von sich behauptete, er sei leider zu dem Zeitpunkt, wo es hätte schon längst passieren sollen, nicht gestorben.
Solche Gedanken waren abschreckend für jemanden, der sich mit der Dunkelheit eines seelisch leidenden Menschen nicht auskannte. Doch solche Gedanken waren für San Alltag. Sie bildeten seine Fähigkeit zu Handeln und zu Denken, weshalb es sowieso ein gefährliches Leben war, welches San führte.
Ein Leben ohne Überlebensinstikt. Ein Leben, ohne Kontrolle über die Entscheidungen, die er machte. Denn Herrscher seines Wesens war er schon lange nicht mehr gewesen, sondern seine Seele.
Somit war San einer der Menschen, die beim Überqueren der Straßen nicht schaute, ob da vielleicht noch ein Auto kommen würde. Einer der Menschen, die beim zu heiß Duschen den Kolben nicht ins Lauwarme drehte. Einer der Menschen, die beim Motorradfahren stumpf auf das Gaspedal drückte, ohne jegliche Angst vor dem Kontrollverlust der Maschine.
Seufzend ging er die Sitzreihen Schritt für Schritt ohne jegliche Hektik entlang, bis er plötzlich ein kleines Büchlein entdeckte, welches er in die Hand nahm und sich für ein Moment anschaute. Es war ein braunes Notizheft, welches bestimmt ein Zuschauer dort liegen haben bzw. vergessen haben musste. Somit nahm der Schwarzhaarige das Notizheft an sich und lief die Reihen zur Treppe zurück, um das Notizheft zu den Fundsachen zu legen.
Jedoch fiel ihm mitten beim Laufen ein Zettel aus dem Notizheft, sodass er genervt die Augen verdrehte, das Stück Papier vom Boden aufhob und es eigentlich wortlos wieder zurück ins Heft legen wollte. Doch als er ein Blick auf das Papier wurf, welches ihm soeben rausgefallen war, verharrte er mit seinen Augen auf die äußerst schöne Zeichnung und blieb direkt stehen.
Es war eine anatomische Zeichnung von einem männlichen Körper, die äußerst realistisch und präzise aussah. Umso faszinierter betrachtete San die einzelnen, kleinen Details aus der Zeichnung, bevor er das Notizheft öffnete, in der Hoffnung noch mehr von solchen Zeichnungen zu finden.
Er blätterte Seite für Seite zeitlos entlang, musterte die eine Zeichnung nach der anderen, beeindruckt von dem Talent, welches der Besitzer haben musste, um so detaillierte Skizzen erschaffen zu können.
San merkte währenddessen gar nicht, wie ruhig es in seinem Kopf geworden war, während er sich die Zeichnungen alle konzentriert anschaute. Ein ungewohntes Geschehen, zumal es in San's Kopf genauso aussah, wie in einem Einkaufscenter an einem Samstagmittag.
Laut, grell, unangenehm und überstimulierend.
Zwar merkte der Biker im ersten Moment nicht, wie ruhig die Stimmen, Bilder und Gedanken in seinem Kopf wurden, doch sein Körper nahm es wahr. Die Muskeln entspannten sich, die Mimik wurde weicher und auch sein Atem nahm an Schwere ab.
,,Warte mal...",murmelte er leise zu sich selbst, als er plötzlich auf die nächste Seite blätterte und eine Zeichnung erkannte, die ihn überraschte.
,,Das bin doch ich...",stellte er geschockt fest, als er auf das genaue Abbild von sich runterblickte. Eine Zeichnung seines Seitenprofils, die genauso detailliert wie die anamotischen Zeichnungen zuvor aussah.
Zwar änderte sich nichts an der Mimik von San, so sehr er es verlernt hatte, seine Gefühle auszudrücken, doch innerlich spürte er den Schock darüber, nicht nur eine, sondern aufeinmal ganz viele solcher Zeichnungen von sich zu sehen. Skizzen von seinem Profil, seinem Körper, kleinen Details wie z.B. seinen Augen, den Lippen.
Neben den Zeichnungen waren auch kleine Notizen aufgeschrieben, was der Moment war, wo sich der junge Mann auf eins der Sitzplätze erstmal niederließ, um sich alle Zeichnungen bis ins Detail mal angeschaut und durchstudiert zu haben. Schließlich konnte er es immernoch nicht fassen, was er gerade in seinen Händen hielt.
Welcher Mensch würde mich bloß so haargenau zeichnen? Diese Zeichnungen mussten doch Stunden an Arbeit kosten, so realistisch wie sie gezeichnet wurden. Das fragte sich San gerade beim Anschauen der Seiten, überwältigt davon, wie gut der Besitzer ihn bereits von seinen optischen Eigenschaften einstudiert haben musste.
Dennoch spürte San aufeinmal einen massiven Selbsthass in sich hochkommen. Ein Gefühl der Beklemmung in seiner Brust, je mehr er sich an Zeichnungen anschaute und Notizen durchlas, die bestimmt Gedanken des Besitzers ihm gegenüber sein mussten. Jedenfalls sah dies für San so aus, als er sich paar Notizen durchlas.
"If I could change, the way that you look at yourself, you wouldn't wonder why you're here."
08.03.
"And I don't know what I'm crying for.
I don't think I could love you more. It might not be long, I'll love you 'til the day that I die."
24.04.
"I want you to see how you look to me."
13.05.
"I had a dream. I got everything I wanted. But when I wake up, I see
You with me."
07.06.
Irritiert über den so intimen Inhalt der Worte, die neben den Skizzen von ihm standen, blickte San auf die Worte runter und versuchte diese einzuordnen. Doch für so einen dysregulierten Menschen wie San, waren Zuneigung und solch' eine hingebungsvolle Form von Liebe unfassbar fremd, demzufolge er nicht wusste, wie er bloß reagieren sollte.
Dementsprechend reagierten seine negativen Selbstüberzeugungen sofort als Abwehrmechanismus gegen diese Zuneigung, und er spürte den innerlichen Stress ihn überkommen.
San hasste sich wirklich. Er hasste es, wie sein Haar ihm ins Gesicht fiel und wie seine Augen ihm die süße Unschuld einer Katze gaben. Er hasste es, aufzuwachen und in den Spiegel zu schauen und zu sehen, wie ihn die Person anstarrte, die er am wenigsten mochte. Undzwar sich selbst.
Von der Art, wie sich seine Brust hob und sunk, wenn er atmete, bis zu den verborgenen Emotionen, denen er sich nicht stellen konnte, konnte er keinen Teil von sich ertragen. San hatte wirklich Angst vor sich selbst. Er hatte Angst, dass die Worte, die er sprach, nicht die Wahrheit waren und dass er vergessen hatte, wer er eigentlich war.
Er hatte Angst, dass nichts jemals genug sein würde, um sich vollständig zu fühlen. Von der Art, wie er seinen Scham kaum zurückhalten konnte, bis zu den Albträumen, die jede Nacht in seinem Kopf lebendig wurden, wünschte er, er hätte den Mut, sich selbst zu akzeptieren.
Dies hatte er jedoch nicht, weshalb er etwas schluckte und das Heft direkt schloss, es aus Reflex zur Seite warf und sich durch das Haar raufte. Schweratmend durch all diese Gedanken und überfordert mit diesen zeitaufwendigen Zeichnungen sowie den liebevollen Worten spürte er den Druck in seinem Kopf, demzufolge er einfach aufstand und davon ging.
So, als würde er auf diese Weise seinen Gefühlen entkommen können. Dennoch ganz genau wissend darüber, dass ihn die Gefühle und Gedanken spätestens zur Einschlafzeit wieder einholen würden.
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ᯓ★ Nochmal ein intensiver Einblick in San's Herzen. Diese FF habe ich übrigens angelehnt, an vielen Songlyriken von Billie Eilish geschrieben... :)
Von wem das Heft wohl sein könnte...? ;)
- Eure Eleja 𖹭
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