Kapitel 4

Soll ich oder soll ich nicht? Kristoff hat den Prinzen verhauen, als der einen blöden Spruch gelassen hat. Daher liegt der Königssohn nun unten in einer Arrestzelle mit einer blutenden Nase. Wo er zur Hälfte ausgeknockt wurde, müsste ich eine Chance bei ihm haben. Seit dem letzten Wortwechsel ekel ich mich ehrlich gesagt sehr, aber als ich mit dem Kiddies ein Brettspiel begonnen hatte, hatte ich schreckliche Bilder von toten Müttern mit viel, viel Blut - einer ganzen Menge halt - und ihren kläglich weinenden Kindern, die ihren Glauben an Gott sowie das Gute ungewollt aufgegeben haben. Ich hatte wirklich versucht, diese Bilder aus meinem Kopf zu streichen, doch es ging nicht. Mit der Zeit wurden sie sogar noch häufiger. Also sitze ich gerade in diesem Moment auf dem Klo und halte mir eine Pro und Kontra Liste vor Augen. Menschenleben retten oder auf dem Gewissen haben? Eigentlich eine einfache Frage. Eigentlich. Ja, eigentlich. Gefühlt sitzt auf meiner einen Schulter der Teufel, der mir sagt, ich solle mir das mit Hans nicht ein zweites Mal antun und auf der anderen Schulter mein Engel, welcher mir das Gegenteil, sprich das Gute für die Menschen rät. Was soll ich tun? Schaffe ich es, ihm noch einmal unversehrt zu entkommen? Was ist, wenn er wieder... versucht mich zum Geschlechtsverkehr zu drängen? Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Andererseits sitzt er momentan hinter Gittern. Er kann so viel Scheiße labern, wie er will, dennoch könnte er mir dabei nichts anhaben. Dank der Gitter. Hoffentlich. Leise öffne ich die Toilettentür und schleiche ganz still und heimlich über die Flure in den Keller, wo sich die Kerker befinden. Vor ein paar Jahren ist Anna mit mir hier unten hin, daher weiß ich, wo sich die Zellen befinden. Als ich vor diesen wenigen Jahren das erste Mal hier war, wollte ich mich unbedingt in eine Zelle setzen. Wie jedes kleines Kind. Anna meinte dann aus Spaß, dass sie für das richtige Feeling die Türen verriegeln könnte. „Nein!", habe ich geschrien. Lachend hat sie mich in ihre Arme geschlossen und ich habe mich an ihre Beine geklammert. Kay hat gelacht, als er hinter mir aus der Zelle kam. Der noch kleine Øystein hatte in den Armen seiner Mutter wie am Spieß geschrien.
Mit einer Lampe gehe ich durch die Gänge. Der fahle Lichtstrahl leitet mich. An einer der Türen mache ich halt. „Hallo?"
Keine Antwort. Ich leuchte hinein, da läuft mir eine Ratte über die Füße. Ich jauchze und springe und weiche aus. Alles gleichzeitig. Ihhhh! Iiiihhhh! Und ih! „Prinzessin, seid Ihr das?"
Oh nein. Nicht die Dienstmagd. Schnellen Schrittes begebe ich mich zum Ende des Ganges. Dort leuchte ich in die letzte Zelle und siehe da: Prinz Hans. „Ihr seid zurück", stellt er erfreut fest. Ich kneife die Augen zusammen, um ihn im Blick zu behalten.
„Nicht Euretwegen."
„Weswegen dann?"
„Entsprach die zu Grunde liegende Gesundheit Eures Volkes der Wahrheit?"
„Ja."
„Wirklich?"
„Ja", wiederholt der Prinz erneut.
„Wirklich, wirklich, wirklich, wirklich?"
„Ja, ja und ja."
„Sie haben ein überaus wertvolles Ja vergessen, das mich womöglich hätte überzeugen können", kommentiere ich. „Jedenfalls, kein Hinterhalt?"
„Nein. Es gibt keinen Hinterhalt."
„Warum Arendelle, das Euch verstoßen hat?", geht meine Fragerunde weiter. Wenn ich Lust dazu hätte und die Gefahr nicht bestünde, dass mein Tantchen mich gleich suchen käme, würde diese Fragerunde noch endlos so weitergehen können.
„Weil dem Königreich jegliche Freundschaften gekündigt wurden und Arendelle das netteste Land unter jenen Ländern ist."
„Aha."
Ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, sehe ich ihm finster ins Gesicht. Ich darf keine Schwäche zeigen. Ich darf keine Schwäche zeigen. Nicht wie damals bei der alten Blumenhexe. „Letzte Frage: Wie steht Ihr zu Eurem Volk?"
„Ich stehe zu meinem Volk. Reicht das aus?"
„Nein", ich verschränke die Arme vor der Brust. Wie kann er erwarten, dass DAS ausreicht?
„Na schön. Erzählt aber ja niemanden etwas davon. Ich stehe zu meinem Volk, so sehr, dass ich alles daran gesetzt habe, es zu beschützen. Ich habe bis zur letzten Minute für sie auf dem Schlachtfeld gestanden. Für sie habe ich sogar meiner großen Liebe - Eurer Tante - das Herz entzweit."
„Ich glaube Euch nicht", stelle ich fest.
„Ich weiß. Deswegen möchte ich mich bei Euch entschuldigen, Prinzessin Gerda. Ich habe Euch unrecht getan und sie danach verbal misshandelt, würde ich meinen. Es tut mir leid. An manchen Stellen haben meine Brüder mich wohl zu sehr nach ihrem Willen erzogen."
Ich stelle mich ganz nah vors Gitter, sodass er meinen Blick auch ja bemerkt. „Hört mir Mal zu. Dass was Euch mit Euren Brüdern wiederfahren ist, tut mir leid, aber das ist noch lange kein Grund, alle Menschen in ihrem Umfeld schäbig zu behandeln! Ich, Gerda Vinter, bin vielleicht keine geborene Prinzessin und werde es auch nie sein. Aber wenn ich Euch so ansehe, bin ich froh, dass ich keine Prinzessin bin."
In dem Lichtstrahl, der sein Licht teilweise beleuchtet und teils beschattet sehe ich eine leichte Verwirrung. „Wie meint Ihr das?"
„Elsa hat mich adoptiert. Und selbst wenn ich ihre richtige Tochter gewesen wäre, wäre ich genau genommen nie mehr als eine Prinzessin, soweit ich weiß."
„Stimmt. Trotzdem tut mir der Vorfall unsagbar leid und ist mir auch äußerst leiblich. Versteht mich nicht falsch, Ihr seid attraktiv, aber definitiv zu jung."
„Und Ihr zu alt", erwidere ich gelassen. Puh, zum Glück. Ein Problem weniger. Außer er will mich nur reinlegen. Das kann er sich jedoch abschminken. „Wieso seid Ihr hier und nicht einer Eurer Brüder?"
„Weil ich ihr Laufbursche bin oder wie man das hier nennt. Ich darf alles für sie erledigen, damit ich weniger Schläger bekomme. Außerdem liebe ich das Volk mehr als diese hirnamputierten Hornochsen. Tschuldigung."
„Gerda? Prinzessin Gerda, seid Ihr hier unten?", leiser murmelt die Dienstmagd, die bereits in meiner Nähe ist, zu sich selbst weiter: „Hier ist niemand. Alles gut. Ich bin in Sicherheit. Es ist nicht Gruseliges dabei. Alles ist bestens..."
„Kopf hoch, vielleicht holt einer Eurer Brüder Euch wieder raus", ich nicke ihm zu und renne zu der Magd. „God dag, fru Jørgensen."
Die Magd erschrickt fürchterlich. „Guten Tag, Prinzessin. Jagt mir nicht noch einmal solch einen Schrecken ein. Wir können nur hoffen, dass die Königsfamilie oben ihr Fehlen noch nicht bemerkt haben."
„Oh doch, das haben wir."
Ich schließe die Augen. Natürlich. Wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein. „Soll ich dich zu den liebeskranken Hühnern bei dir zu Hause bringen? Willst du's echt drauf ankommen lassen, junge Dame?", bekomme ich großen Ärger. Wäre es unhöflich, mir die Ohren zuzuhalten? Wahrscheinlich schon, denn schließlich habe ich das Geschrei wohl oder übel verdient.
„Nein", brumme ich. Selbst Øystein sieht mich enttäuscht an.

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