Kapitel 36
- fünf Jahre später -
Sei nicht so streng zu meiner Mutter", hatte er gesagt, als er mit seinen Jungs zur Tür raus gegangen war. Ich soll nicht so streng zu ihr sein?! Das meinte er ja wohl eher andersherum. Natürlich mag ich meine Schwiegermutter in Spe, aber sie kann mit der Zeit auch ungeheuer anstrengend werden und das sollte er selber gut genug wissen, wo er doch kurz davor stand, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Ja klar, ihr könnt jetzt meinetwegen sagen, was ihr wollt. Oh mein Gott, sie ist Frau Holle!! Oh du meine Güte, ja, das ist sie. Und?? Ich weiß selbst, wie gutmütig sie in den Augen anderer wirken kann, aber eigentlich kann sie auch eine richtig zickige Diva sein. Glaubt mir, ich lebe mittlerweile lange genug unter ihrem Dach, beziehungsweise mit meinem Jacky zusammen und sie war Tag für Tag da. Keine Ahnung, ob sie unsere Beziehung im Blick behalten wollte, ob ich wirklich für ihren Sohn geeignet bin, oder ob sie einfach bei ihrem Enkel sein wollte, ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich sie gut beurteilen, wo ich sie manchmal sogar direkt nach einer leidenschaftlichen Nacht mit Jack am Morgen in der Küche vorfand und mein Herz das vor Schreck beinahe nicht überlebt hätte. Ja, eine schreckliche Erinnerung, über die ich nicht gerne rede. Dann hat sie mir einmal meinen Flockenzauber versaut, weil sie mich zur Hausfrau machen wollte. Jack und ich hatten besprochen, dass wir beide zusammen den Haushalt schmeißen, nicht bloß ich alleine. Als sie dann erfahren hat, dass ich nicht kochen kann, musst ihr Sohn einschreiten, um mich aus der unangenehmen Situation zu befreien. Irgendwie ist sie ein wenig Helikoptermutter.
„Gerda-Schatz", höre ich ihre nervige Stimme und zucke zusammen. Ich erwarte Schlimmes. Heute ist Jack nicht da, um mich vor ihr zu retten. Wo ich doch heute in ihrem Schloss nächtige, bekomme ich es mit der Angst zutun, dass sie mich zum Kochen zwingen wird. Mein Verlobter hat zwar angefangen, mir das Kochen beizubringen, doch das heißt nicht, dass ich kochen kann. Dabei fällt mir ein, für wen ich das überhaupt mache. Für Jack. Für uns. Heute ist meine letzte Nacht als unverheiratete Frau. Manch einer würde sagen, dass wir noch zu jung sind, aber Jack war damals auch zu jung für einen eigenen Sohn und er hat es dennoch geschafft, auch wenn ihm jeder eingeredet hat, er würde es nicht packen als Vater. Und er hat es gepackt. Snefnug ist so ein wundervoller Junge und ich freue mich, zu dieser Familie gehören zu dürfen. Ja, morgen werden wir heiraten. Morgen an einem Freitag. Wie damals bei den Wikingern so üblich wegen der Göttin Frigg, die für die Ehe stand. Ich könnte euch so viel über Frigg, Odin und die Nordische Mythologie erzählen, da ich das für die Hochzeit in letzter Zeit alles gelernt habe. Unsere Hochzeit soll nämlich eine Wintermärchenhochzeit sein, was heißt, dass wir manche Traditionen aus dem Märchenwald, aber auch aus der Winterwunderwelt nehmen und sie kombinieren werden. Eine Winterwunderwelthochzeit nimmt sich die Traditionen größtenteils aus den alten Geschichten der Wikinger, was ziemlich cool ist. Außerdem passt es zu meinen beiden Wikingern, Jacky und Sne. „Bist du bereit, Schwiegertochter?", sie platzt in mein Zimmer und ich halte mir die Arme vor den Körper. Mann ey, darauf war ich nicht vorbereitet. Muss sie mich immer erschrecken? Macht ihr das Spaß? Besonders dann, wenn ich nackig bin oder was?
„Noch bin ich es nicht", deute ich an. Selbstverständlich werde ich ihn heiraten, daran wird sich nichts ändern und mich bringt auch niemand davon ab. Nicht einmal sie. Doch man kann seine Schwiegermutter in Spe wohl ein bisschen veräppeln. Da ist nichts Verbotenes dran, korrekt?
„Was soll das heißen?"
„Nichts, nichts", winke ich ab. Unauffällig angel ich mir das weiße Kleid, das für das bevorstehende Ritual gedacht ist, doch Frau Holle hat es bereits bemerkt. Sie nimmt mir das Kleid aus der Hand und hält es mir hin, sodass ich es besser anziehen kann. Sie hilft mir und schnürt es hinten zu, dann dreht sie mich um, damit ich ihr in die Augen gucken kann und nimmt meine Hände in ihre. Ich spüre ihre faltigen Hände, was mich wieder daran erinnert, dass sie wegen mir in letzter zeit um einiges rasanter gealtert ist, denn sie hat ihre göttlichen Kräfte verloren. Auch ihre Feenflügel sind nicht länger für andere Augen unsichtbar. Ihre Magie ist gebrochen. Die einzige Magie steckt noch in diesen Flügeln. Wäre sie nicht derart stolz, hätte sie längst neue Magie erhalten können, aber sie will dafür nicht extra zurück zu den anderen Feen, also altert sie lieber schneller. Immer mal wieder in den ungelegensten Momenten kündigt sich mein schlechtes Gewissen an. Ihre fehlende Magie ist auf meinen Mist gewachsen. Okay, nicht direkt. Doch schon irgendwie. Mit den Kräften ihres Schwagers habe ich Jack vor fünf Jahren fast umgebracht, aber irgendwie hat sie diese dunkle Sommerkräfte aus mir rausgezogen und gegen ihre heilen Kräfte eingetauscht. Ich habe es immer noch nicht ganz durchblickt, obwohl sie und Jack ebenfalls es mir andauernd versuchen zu erklären.
„Können wir?", sie geht zur Tür und streckt mir ihre Hand entgegen. Mit einem Lächeln nehme ich ihre Hand. Wollen wir meine Schwiegermutter mal nicht enttäuschen. „Ja."
„Es wird dir gefallen, glaub mir. Es ist eine Ehre dieses Ritual, musst du wissen. Meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter, meine Ururgroßmutter..."
„Ich glaube, ich habe es verstanden." Ausnahmsweise. Ich weiß, dass ich nicht die hellste Kerze auf der Birne, äh Torte bin, aber so viel kapiere ich dann doch. Sie könnte einfach Vorfahrinnen sagen, ganz einfach, Punkt.
„Meine Mutter und deren Mütter zuvor haben dieses Ritual auch gemacht und an diesem Tage wirst du in den Kreis von ganz besonderen Frauen aufgenommen. Sie werden dich mit offenen Armen willkommen heißen, so wie sie es bei mir und den anderen Damen zuvor gemacht haben. Nicht jedes Mädchen wird die Ehre zuteil, zu den Hollefrauen dazuzugehören. Die Göttin der Fruchtbarkeit, der Ehe, Liebe, des Glücks, Frühlings und eine Zauberlehrerin, alias meine Ahnin, sie wird ein Auge auf uns haben und ab diesem Tage auch auf dich. Sie wird eurer Ehe Glück und Frieden bringen, wenn ihr sie ehrt. Sie wird euch die Möglichkeit geben, ganz viele entzückende und vor allem gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Und wenn es soweit ist und ihr zusammen alt geworden seid, du und Jack, dann wird sie ihn in Walhalla empfangen." Kurze Frage am Rande: Was passiert mit mir, wenn wir sterben? Komme ich ebenso nach Walhalla? Oder eher in die Hölle? Also ich meine, das klingt ja alles schön und gut, aber kann es nicht auch einmal Gleichberechtigung geben? Sie spricht noch weiter und obwohl ich weiß, dass es unhöflich ist, blende ich es aus. Das Wichtigste hat sie bereits gesagt und morgen wird das mit den Göttern nur nochmal ausführlicher kommen. Außerdem finde ich den heutigen Tag ziemlich unnötig, ohne die Bräuche zu beleidigen, aber ich sehne mich nach meinem Verlobten. Ich würde ihm zu gerne endlich in die Arme fallen und wünsche mir, wir wären längst verheiratet. Ich brauche diese Feierlichkeiten nicht mal, doch um allen eine Freude zu machen, die sich dafür Mühe gegeben haben, richte ich meine Krone und versuche die Lauscher zu öffnen. Das mit der Krone war bloß wörtlich gemeint. Ich habe keine Krone. Noch nicht. Leider bleibe ich wohl oder übel nicht lange in dem Genuss, keine Krone zu haben. Mit der Heirat rückt die Krönung zum Winterkönig und danach zur Königin immer näher. Und dreimal dürft ihr raten, wer das sein wird. Haha, ich und Jack. Leider. Nach Jack kommt Snefnug dran. Mille hat auf ihr Erbe verzichtet. Sie bleibt lieber die Schneekönigin. Außerdem ist sie eh eine Frau, zwar die Erstgeborene, aber immernoch eine Frau und ihr wisst, was das damals hieß. Eine Frau allein auf dem Thron. Na gut, sie könnte meinen Bruder heiraten, aber bislang ist eine Hochzeit von den beiden noch nicht in Sicht. Mittlerweile haben wir den riesigen Saal erreicht, von dem aus wie nach meinem Wissen gleich in die Bäder hinab steigen. Im Saal warten schon längst Freunde und Familie auf mich. Elsa, Anna, Immy, Calix, Mads, Manon, Bellina, Fjella, Mille und Tascha. Von der Treppe her höre ich Gepolter. Gespannt drehen wir uns alle in die Richtung der Tür. Wer kommt denn jetzt noch? Sarijanas halbes Gesicht sieht um die Ecke in den Raum, sobald sie mich inmitten der Frauen entdeckt, bewegen sich ihre Lippen. Ich muss schmunzeln. Irgendwie ahne ich, was gleich kommt. Im nächsten Moment stolpert Thala in den Raum und kommt auf mich zugelaufen. „Gerdi, nimmst du uns mit? Bitteeeee?", fleht sie fast schon weinerlich. Oh nein, wie süß. Ihrem Polarfuchsblick kann ich nicht widerstehen. Gerade will ich ihre Frage bejahen, da fällt mir Holla ins Wort. „Nein, Mäuschen. Es dürfen nur verheiratete Frauen mit." Warte was? Echt jetzt? Dann dürfen doch meine ganzen Freunde, alle in meinem Alter gar nicht mit. Calix zum Beispiel nicht und Fjella und Tascha auch nicht. Mads darf wenigstens mitkommen.
„Ich bin die Braut, oder?"
„Ja...", antwortet Holla sichtlich verwirrt.
„Und die Braut ist Königin, richtig?", eilt mir meine beste Freundin zur Hilfe.
„Ja schon, aber..."
„Dann bestimme ich, dass auch die unverheirateten mit dürfen."
„Außerdem bin ich verheiratet", behauptet Thala plötzlich. Ach ja. Ihr Kimm. Kimm ist eine ihrer Traumfiguren, der mit ihr auf einem Drachen geflogen ist und uns dann alle auf den Kopf gespuckt hat. Am Ende hatte ihr bester Freund dann sie küssen wollen, doch sie wollte nicht, um die Freundschaft nicht vollends zu zerstören, darum fing sie was mit dem Einäugigen Yall an, den sie bis dato noch gruselig fand. Schließlich haben sie und Kimm sich jedoch versöhnt. Manchmal frage ich ich, wie sie schon jetzt so viel Fantasie haben kann. „Und Sari ist es auch."
„Mit wem denn?", meint Frau Holle mit einem spöttischen Blick auf die zwei, nachdem sie eben nach der Zeit geguckt hat. Die Neunjährige sieht zu ihrer großen Schwester, die für sie ein Vorbild geworden ist. „Sari und ich sind verheiratet."
„Na und mit wem?", entnervt lässt die Winterkönigin die Augen rollen.
„Wir zwei." Achso meint meine süße Maus das. Die Schwestern haben sich gegenseitig geheiratet. Sarijana versteht es anscheinend auch und lässt die Schultern hängen. Hätte sie sich denn lieber jemand anderes gewünscht? Einen Jungen vielleicht? Schmunzelnd sehe ich mich zu meinen anderen Freunden um. Alle winken mir lächelnd zu. Ich winke zurück, bis sich Holla Holle mir in den Weg stellt. „Wir müssen."
„Kommt, Mädels", ich winke meine Patenkinder hinter mir her. Mahnend hebt Holla den Finger und stellt sich mir in den Weg. Ich schiebe mich an ihr vorbei und nehme Thala auf den Arm. Ein Glück, dass sie noch so klein ist. Theoretisch würde ich Sarijana auch noch hochbekommen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nicht will, daher nehme ich sie an die Hand. „Wo ist eigentlich Ilias?" Warte wie...? Ilias ist vier Jahre älter als sie. Andererseits ist er doch noch ein bisschen wie ein Kind dank Fjellas und Flókis liebevoller-Strenge-Erziehung. Da er vor den beiden kein richtiges Kind sein konnte, erlauben sie ihm alles, machen alles mit ihm, damit er sich wie ein Kind fühlt. Und ich weiß noch nicht, ob er bereit für Mädchen ist, aber wenn er es ist, glaube ich - so leid es mir für mein hübsches Patenkind tut - dass er auf Mädchen in seinem Alter steht. Aber man darf ja noch träumen. Und hoffen. Hoffen ist auch erlaubt.
„Der müsste bei Fjella sein. Er und Snefnug machen doch heute eine Pyjamaparty."
„Zockernacht", korrigiert mich Fje breit grinsend.
Ich hebe abwehrend die Hände bei diesem schweren Vorwurf. Haha. Vorwurf vor allem. Okay, war nicht lustig. Ich versuche mich nur abzulenken, weil ich doch aufgeregt bin. Besonders nachdem ich die Nordische Mythologie indirekt beleidigt habe. „Oh verzeih. Zockernacht."
„Mit Mädchen?", ängstlich sieht sie zwischen Fje und mir hin und her. Belustigt wechselt Fjella einen Blick mit mir. Ich beantworte ihren fragenden Blick mit einem leichten Nicken.
„Ganz viele Mädchen sind dabei."
„Was? Wie heißen die? Und wie alt sind sie? Ist das überhaupt gut für ihn?", blubbert Sari los. Ich kann nicht mehr an mich halten und pruste los. Ist das zuckersüß. Sie stellt die Erziehung von Fje quasi in Frage, nur weil sie unglaublich verknallt in den Jungen aus der Sommerwelt ist. „Was gibt es da zu lachen? Ilias ist noch nicht bereit für andere Mädchen..."
Ich halte mir die Hand vor den Mund und schlucke das Lachen sozusagen wieder runter. „Sorry. Aber, Sari, du musst schon zugeben, dass du gerade übertreibst. Wir haben ein Spaß gemacht. Es sind nur die beiden Jungs. Bloß dein geliebter Sommergott und Sne."
„Ts." Sie wirft sich tussig die langen Haare über die Schulter und lässt meine Hand los. Achselzuckend gehe ich an ihr vorbei, die Treppen nach unten. „Bringt das denn Unglück, dass du uns mit nach unten nimmst? Savanne ist sonst schuld. Sie ist gar nicht verheiratet. Das bin nur ich mit Kimm", flüstert sie mir mit Blick auf ihre Schwester kichernd ins Ohr. Ihr kichern kitzelt etwas. Ach, das habe ich mir schon gedacht. Sie und ihre Traumfigur Kimm. Und Savanne ist übrigens nicht falsch geschrieben und Thala hat auch nicht den richtigen Namen ihrer Schwester vergessen, aber als Lennja kleiner war, hat sie Sarijana aus Versehen so genannt. Und weil Geschwister sich nunmal gerne ärgern, hat Thala es sich mit Lennja zur Aufgabe gemacht, ihre große Schwester damit eins auszuwischen.
Hoffentlich nicht... Und wenn dann werde ich mich halt vor Freya verantworten, doch ich sehe nicht ein, dass meine Patenkinder und Freunde nicht mit zu dem Ritual dürfen. Wann werden sie denn die Chance dazu haben, solch einem Ritual beizuwohnen? Vermutlich nie, weil sie nur die Märchenwaldrituale kennenlernen werden. „Nein, bringt es nicht."
„Ehrlich?"
„Es bringt kein Unglück, versprochen." Trotzdem sollten Jack und ich womöglich auf Nummer sicher gehen und keine Kinder zeugen. Wer weiß, ob an der Theorie mit dem Unglück nicht doch was hängt...
„Okay", erleichtert fährt sie sich über die Stirn wie eine kleine Dramaqueen. Unten in den Bädern angekommen riecht es herrlich und der Ausblick ist unglaublich. Durch die großen Fensterscheiben kann man direkt die große Schneelandschaft, wo ich meistens mit Jack und Sne herum tolle, überblicken. Wow. Immer wieder kann ich nicht anders, als ins Staunen zu geraten. Schnee ist meine Welt. Ich habe Schnee immer geliebt, obwohl ich nicht die Tochter von Snehvid war. Trotzdem ist meine Lieblingsfarbe rot wie die Farben meiner Mutter und dennoch stehe ich hier in einem weißen Kleid. Mit dem strahlendsten Lächeln tippelt sie auf mich zu und will mir eine Krone aufsetzen. „Halt", ich halte die Hände vor meinen Kopf. Ihr Lächeln stirbt für eine Sekunde. „Was denn jetzt?"
„Ich hätte gerne eine andere Krone."
„Eine andere Krone!", kann es die Königin vor Wut nicht fassen. Ups. Jetzt habe ich die Fee sauer gemacht. War da meine Absicht? Nein, tatsächlich nicht. „Willst du das überhaupt?"
„Ja, ich möchte Jack heiraten, aber ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen und damit breche ich noch nicht mal deinen Brauch. Du sagtest mir, meine Aufgabe ist es, die Krone meiner Mutter zu tragen...", wähle ich meine Worte mit Bedacht, denke scharf nach, um sie nicht noch mehr zu verärgern.
Sie hält mir die Tiara unter die Nase, doch ich schiebe sie von mir. „Ja!"
„Du bist aber genau genommen nicht meine Mutter." Elsa kneift die Augen zusammen. Ahnt sie, was ich vorhabe? Kann eigentlich nicht sein. Ich hoffe nur nicht, dass sie gerade denkt, dass ich sie damit meine, weil ich möchte sie nicht verletzen. Nur die Krone meiner leiblichen Mutter...
„Aber deine Mutter hatte nichts." Okay, Holla hat anscheinend verstanden, dass ich meine leibliche Mutter meine, die verstorben ist, bevor ich sie mit meinem Freund bekannt machen konnte. Heute kann ich darüber sprechen, früher fiel es mir nicht leicht. Ja, meine Mutter ist tot und ja, die Mutter von Kay ist wieder aufgetaucht, genauso wie sein Vater. Richtig gehört, Mathies und Snehvid haben den Brand überlebt. Mein Vater und meine Mutter nicht und über Kays und meinen Großpapa wissen wir nichts. Er wurde nicht gefunden. Also vielleicht lebt er noch irgendwo da draußen, vielleicht auch nicht. Aber ich weiß, dass es ihm gutgeht, denn er ist ein Kämpfer, der nicht so leicht aufgibt. Entweder ist er nun im Himmel und wacht zusammen mit meinen Eltern über mich oder aber er denkt hier unten auf der Erde an mich. Womöglich kann er sich nicht mal mehr an mich erinnern, wenn es ihm so wie seiner Tochter ergangen ist. Snehvid hat nämlich ihr Gedächtnis verloren. Prognose: für immer.
„Das mag sein, aber sie hätte mir eine Krone aus Blumen für genau diesen Anlass gebastelt. Und die hätte ich genommen, deswegen möchte ich gerne einen Blumenkranz als Krone haben."
„Aber, aber...", die Königin schnauft und streckt ihre Hände nach mir aus und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich nicht bis zum geht nicht mehr knuddeln wird. Wohl eher hat sie vor, mich zu erwürgen. Stellt sie euch so vor wie die Mischung aus den beiden Emojis: dem Qualm schnaufenden und dem rot angelaufenen. Okay, ich muss das Lachen wieder runterschlucken. Dafür beiße ich mir auf die Zunge. Uhhh, das tat weh, aber egal. Wenigstens kann ich jetzt erstmal nicht lachen. Mille legt ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter. „Was spräche denn dagegen, mor? Dann trage ich deine Krone eben." Wann will sie die Krone tragen? Moment, wird sie meinem Bruder einen Antrag machen?
„Aber die Traditionen..."
„Es ist doch kein direkter Traditionsbruch", bekräftigt Tante Anna mich.
„Meinetwegen, macht was ihr wollt. Ich gebe euch fünf - FÜNF! - Minuten. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn ihr dann keinen Blumenkranz als Krone habt, setzt sie die Krone hier auf", willigt meine Schwiegermutter in Spe ein.
„Zehn", will ich vereinbaren.
„Sieben Minuten."
„Acht."
„Ihr bekommt acht Minuten", wahrscheinlich möchte sie sich vor ihren Göttern nicht mit mir zoffen und ich möchte es eigentlich auch nicht.
„Ich möchte mitbasteln", Calix und Bellina nehmen die kleine Maus an die Hand. Zusammen klettern sie aus dem Fenster in den Schnee. Schnee, denkt ihr euch, da gibt's doch gar keine Blumen. Natürlich gibt es die. Wir leben in einer magischen Welt. An eurer Stelle würde mich in meiner Geschichte nichts mehr wundern. Glaubt mir, man gewöhnt sich dran. Selbst Sarijana steigt aus dem Fenster und folgt den anderen, die bereits hinter der Schlossmauer verschwunden sind. „Du kennst den Ablauf?", möchte Mille von mir wissen. Sie und ihre Mutter stecken in einem angeregten Gespräch und da Holla immer wieder so finster zu mir rüber linst, glaube ich, es geht um mich.
„Ja und keine Sorge, noch etwas werde ich nicht ändern. So ist zumindest der Plan", ich zwinkere ihr zu. Sie kichert und reckt hinter dem Rücken ihrer Mutter den Daumen nach oben.
Nach sieben Minuten greift meine Schwiegermutter nach ihrer Krone und kommt auf mich zu. Ich will vor ihr flüchten, doch das wäre echt kindisch. Dürfte ich ihr gegenüber an dieser Stelle auch erwähnen, dass ich ihr bereits tausendmal vererbtes Brautkleid nicht mal tragen möchte? Meine Mädels haben doch noch eine halbe Minute. Bestimmt sind sie gleich fertig. Ha, ich habe recht. Just in dem Moment biegen sie um die Ecke. Doch eine Krone scheinen sie nicht dabei zu haben... oh schade... Ob Holla das Blumenpflücken absichtlich sabotiert hat? Eigentlich dürfte das ja nicht mehr funktionieren. Aus zugekniffenen Augen starre ich sie an. „Was ist?", sie stemmt die eine Hand in die Hüfte. Nichts, nichts, alles bestens. Breit grinsend kommt da Thala auf mich zu. Lennja ist unterdessen bei ihrer Mutter geblieben. Oh, was sehe ich denn da? Die Mädels haben es wirklich geschafft. Stolz hält Thala die Blumenreihe hoch. Ich knie mich hin und lasse sie mir von ihr aufsetzen. Als ich mich wieder aufrichte, nickt mir die Winterkönigin alias dem Schwiegermonster zufrieden zu. „Wir können beginnen... Unsere Gerda ist nun nicht länger eine Jungfrau..."
„Das war sie schon länger nicht mehr", raunt Mad Calix ins Ohr und Elsa wirft ihr einen bösen Blick zu, der meine beste Freundin verstummen lässt. Doch einen Augenblick sehe ich, wie ein Lachen auch ihre Lippen umspielt. Ich schüttel den Kopf. Na und, dann bin ich halt keine Jungfrau mehr... Dessen müsste sich die winterliche Märchenfigur doch ebenfalls bewusst sein.
„Und in unserem Ritual werden wir sie nun von der Jungfräulichkeit reinigen, damit sie morgen ihrem Prinzen frisch und gereinigt entgegen treten kann.
„Was heißt Jungfrau?", will Lennja wissen, sobald sie sich ihren Finger erst in die Nase, dann in den Mund steckt. Über diesen Anblick muss ich mal wieder lachen. Es ist zu drollig, wie Sari obendrein noch die Augen verdreht und sich genervt gegen die Stirn haut und Anna heiß und kalt zugleich wird. „Das heißt, dass sich Jack und Gerda religiös durch Sex vereinen können. Weißt du, was Sex bedeutet? Das ist, wenn mama und papa..." Prompt unterbricht Anna ihre älteste Tochter. „Eine Jungfrau ist ein anderes Wort für Meerjungfrau. Hörst du, das Wort Jungfrau steckt da sogar drin. Gerda ist jetzt eine... junge Frau, eine Meerjungfrau, die von ihrem Jacky geküsst werden muss, damit sie eine richtige Frau wird."
„Ja genau und dann muss er seinen Meerjungmann-Schwanz in sie stecken oder was?", verdreht Sarijana die Worte ihrer Mutter. Anna atmet tief durch und knetet ihre Hände. Holla scheint fassungslos und kurz vor einem Anfall. Ein bisschen tut sie mir dann doch leid, ich meine, sie meint es doch nur gut für mich. Noch mehr tut mir jedoch gerade Anna leid. Sarijana ist so eine kleine Zimtziege in letzter Zeit. Na ja, ich schiebe es gern auf die Pubertät. Hauptsache, ich behalte recht, sodass ihre Art und Weise, wie sie mit ihren Mitmenschen umgeht, sich bald auch schon wieder legt. „War das mit Arielle denn auch so?"
„Äh ja, natürlich und jetzt müssen wir zuhören, also schön leise", meine Tante hält sich ihren Zeigefinger vor den Mund und Lennja macht es ihr gleich. „Pssssstttt", pscht das kleinste Prinzesschen auch uns an.
„Psssttt", mache auch ich lächelnd. Als sie dann freudig in die Hände klatscht, macht Holla kopfschüttelnd weiter. Sie deutet in meine Richtung und ich verstehe. Von Mille lasse ich mir das Kleid aufschnüren und Mad nimmt mir die improvisiere Blumenkrone, bestehend aus Maiglöckchen und Schneerosen, ab. Nach einem Nicken in Hollas Richtung setze ich meinen ersten Fuß in das Wasser. „Die Kornblume steht für die Vereinigung zweier Liebenden, die Sehnsucht...", sie deutet auf die blaue Pflanze im Becken. Das Wasser ist fast zu heiß, als ich einen weiteren Schritt hinein steige. „Schafgarbe für die Kraft, die ihr brauchen werdet, wenn es mal nicht so gut läuft. Denn ohne Streit funktioniert letztes Endes nicht mal die perfekteste Ehe." Ein weiterer Schritt. Oh ja, so langsam ist die Wärm angenehm. Sofern wir das Fenster öffnen dürften, wäre die Hitze um einiges angenehmer, wo es draußen eiskalt ist. Dabei wird mir wieder bewusst, dass ich komplett nackt bin. So schwer es mir fällt, gehört da ebenfalls zur Tradition. Angeblich sollen meine Ahninnen wie ein Vorhang vor dem Fenster stehen oder schweben, sodass mich kein anderer Außenstehender sehen dürfte. Eigentlich. Der Legende nach. Ich glaube der Legende nicht alles. „Rosmarin für eure gegenseitige Treue und euer bevorstehendes Glück. Außerdem soll es dich wacher für morgen machen." Ein weiterer Schritt, nun stecke ich bis zum Hals im Wasser. Das waren wohl ein paar zu hastige Schritte... Eigentlich war es geplant, dass Frau Hole noch drei weitere Pflanzen aufzählt, bis sie sich auf den Beckenrand kniet und das ganze dann wie eine Taufe aussehen lässt, wenn sie mir das Wasser aus ihren Händen über den Kopf tröpfelt. „Und zu guter Letzt", sie kniet sich an den Rand. Anscheinend kann sie sehr spontan handeln. Sie nimmt eine Hand mit dem warmen Kräuterwasser und schüttet es langsam über Kopf und Haar. Sachte lässt sie ihren Finger an meinem Kinn kreisen. Sie küsst meine Stirn. „...Salbei, damit eure Ehe ab morgen ewiglich halten wird."
Nach ihrer Erlaubnis tauche ich unter und schwimme eine Bahn. Ich nehme den Duft in mir auf. Diese Kräuter werden mich nun mein Leben lang begleiten. Als ich auftauche, lässt Lennja ihre Beinchen im Wasser baumeln. Mein jüngstes Patenkind ziehe ich ins Wasser und mit einem ängstlichen Blick auf Holla, schlüpft Thala ebenfalls ins Becken. Gemeinsam spritzen wir Sarijana ab, die etwas abseits steht und auf ihr Handy schaut. Sie kreischt und lässt ihr Handy fallen. Sobald sie sich zu mir umdreht, zucke ich mit den Schultern. Rückwärts kraulend biete ich ihr an, uns Gesellschaft zu leisten. Erst denke ich, sie will bockig abhauen, doch stattdessen macht die Prinzessin einen nahezu perfekten Köper. Dafür erntet sie neidische Blicke sowie einen kleinen Applaus meiner Wenigkeit. Nachdem uns meine Schwiegermutter jedoch durch ein Klatschen zu verstehen gegeben hat, dass der Spaß jetzt vorbei ist, klettern wir aus dem Becken. Sarijana strecke ich die Hand entgegen, um ihr raufzuhelfen, die sie zu meiner Überraschung sogar zur Hilfe nimmt. Lennja und Thala wurden unterdessen von ihrer Mutter aus dem Becken gehoben. Jetzt kommt das kalte Becken... ob ich mich darüber freuen soll, weiß ich noch nicht. Ich meine, ich bin mit einem Wintergott fast verheiratet, weil ich ihn liebe, das heißt aber nicht, dass ich es liebe, Selbstmord zu begehen. Nur mal so als Information am Rande. Sehe ich da etwa Rosen auf der Wasseroberfläche des kalten Wassers tanzen? Oh mein Gott, okay, dieses Becken werde ich trotz Kerze lieben... „Achso, Gerda, ich soll dir die liebsten Glückwünsche von Rose ausrichten, denn sie wird morgen nicht kommen."
„Aber war sie nicht mit meiner Mutter befreundet?" Eigentlich kenne ich Prinzessin Aurora gar nicht wirklich. Ich kenne ihr Märchen, klar, wer kennt es nicht. Aber ihre Person, sie selbst kenne ich nicht. Woher auch? Außer von Feierlichkeiten, auf denen sie kaum erscheint. Ich hatte nur gehört, dass sie und Belle früher mit meiner leiblichen Mutter und meiner Tante befreundet waren. Sie nannten sich die Rosenbande. Ihr könnt euch schon denken, warum - Dornröschen eben, das erklärt schon alles, dann Belle und ihre Rose, die sie unbedingt haben wollte und dann Schneeweißchen und Rosenrot, die Mädchen mit dem Rosengarten. Zu der Zeit, wo meine Mutter noch am Leben war, konnten sie Rose bei ihren tiefen Depressionen helfen, doch als eine nach dem anderen ihren Märchenprinzen fand und Rose als einzige zurückblieb wurden die Depressionen schlimmer und die anderen merkten es zu spät.
„Ja, aber sie erscheint sowieso immer nur kurz bei den Tauffeiern ihrer Patenkinder beispielsweise."
„Schade."
„Ja, sehr. Aber sie lässt Grüße ausrichten." Hm, man kann ja nichts dran ändern. Vielleicht kann ich versuchen, sie und Snehvid wieder zu Freunden zu machen. Das wäre doch schön. Und Belle geht mit. Bevor wir zu einem klaren Schluss kommen können, nimmt mich Holla an die Hand und führt mich zum Becken. „Möchte ihr diesmal jemand ins Wasser folgen?" Keine Antwort ist auch eine Antwort... das passt hier ziemlich deutig. Das Wasser ist wohl noch kälter, als ich angenommen hatte... Muss ich das wirklich machen...? „Nun, mein schönes Kind, nehmen dich Freya und unsere Vorfahren in ihren Kreis auf. Du bist ab heute bereit, für die Empfängnis, ein Kind zu gebähren... doch du darfst niemals leichtsinnig handeln. Du bist bereit für die Empfängnis mit deinem Gatten, meinem Sohn Jack. Nicht für die Empfängnis mit einem anderen und so geben wir dir unser vollstes Vertrauen, auf dass du es gut bewahrst und uns nicht hintergehst. So heißen wir dich willkommen."
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