Kapitel 35

Eine Stunde später, in der ich aufgeregt durch den Raum getigert bin, in einem gescheiterten Versuch zu schlafen, ist es endlich soweit. Jannis steht mit einer goldenen Banane vor mir, an der zwei ebenso goldene Eier hängen. Und wenn ich Gold sage, dann meine ich auch Gold. „Äh was ist das?"
„Noch nie eine Banane gesehen?", legt er meine Frage ganz anders aus, als ich sie ursprünglich gemeint hatte.
„Doch schon..."
„Ja, ich weiß, was du meins. Das ist quasi der Zauberstab meines Vaters und wir müssen uns beeilen, denn wenn er mich erwischt..."
„...dann hat sich diese Aktion für uns beide gegessen", beende ich seine Worte, denn zufälligerweise hab ich ganz allmählich die Sache mit seinem Vater verstanden. Heißt, er muss mich hier nicht für dumm verkaufen.
„Genau. Ich weiß nämlich nicht, ob er nicht noch ein anderes Ass neben dem Ständer-Stab im Ärmel hat. Also zur Info, wir waren nie ein Paar. Mein Vater, dessen Name wir jetzt besser nicht in den Mund nehmen und schon gar nicht an ihn denken sollten, hat dich entführt, nachdem er dich retten musste. Du bist eigentlich in Jack Frost, meinen Cousin, verliebt gewesen und als du einen Unfall hattest, hat er meinen Vater um Hilfe gebeten. So bist du in unsere Fänge gekommen, sag ich jetzt mal so blöd. Mir wird gerade bewusst, wie heldenhaft du dich geopfert haben musst... Du wolltest dein Patenkind vor dem Ertrinken retten, obwohl du gar nicht schwimmen konntest... Wow, das war eine mutige Aktion von dir. Ich fange an dich immer mehr zu mögen, aber du gehörst meinem Cousin, darum habe ich noch eine weitere Bitte..."
„Halt warte mal. Ich habe echt einen Freund?"
„Nein. Ich glaube, noch seid ihr nicht zusammen, doch ihr habt euch beide sehr gern und ich bin mir sicher, aus euch wird ein gutes Paar werden. Nur bitte pass gut auf ihn auf. Er braucht jemanden wie dich, vor allem nachdem er seine Schwester Mille verloren hat... Er braucht dich. Sorge gut für ihn und vielleicht kannst du ihm ja bei Gelegenheit sagen, dass mir einfach alles leid tut."
„Was genau tut dir denn noch leid?"
„Mir tut alles leid, okay?"
Ich hebe die Hände auf Höhe meines Gesichts. „Okay."
„Ja, ich bin etwas gereizt... Sorry."
„Schon gut."
„Bereit, deine Erinnerungen zurück und von hier weg zu kommen?"
„Sowas von bereit", bei diesen Worten verzieht er leicht sein Gesicht. Das muss ihn verletzt haben, aber es ist mir egal. Wenn er so viele scheiße gebaut hat, wieso konnte er mich nicht früher gehen lassen? Musste er mich erst noch nackt sehen? Innerlich freue ich mich darauf, meine lang ersehnten Erinnerungen wieder zu erhalten. Ich wusste doch die ganze Zeit, dass hier etwas stinkt - und ich bin's ausnahmsweise nicht gewesen. Ich habe da unten im Märchenwald jemanden, für den ich womöglich Gefühle habe. Ich war eine Heldin und ich kann meine Familie wieder in die Arme nehmen. „Ist Flocke wirklich tot?"
„Dein Polarfuchs?" Ich nicke, ängstlich vor der Wahrheit. „Nein, glaube nicht. Bereit für einen Flockenzauber?", mit einem Zwinkern gibt er mir ein Eis am Stiel. Ein Flockenzauber... Flocke lebt! Ich kann es spüren. Das ist ein Beweis. Aus diesem Grund habe ich sie Flocke genannt, weil ich Schneeflocken und den Zauber, den sie versprühen so liebe. Ich würde niemals meinen Geburtstag im Sommer feierten. Nicht mal für einen Typen. Warte, ich muss wieder zurück zum Thema. Warum ein Eis? Will er mich jetzt auf die dunkle Seite der Macht zurück bringen oder was? Selbst wenn der Sommer Eis hat, wo ich nicht abgeneigt wäre, möchte ich trotzdem richtiges Eis und kein Speiseeis haben. „Äh, Jannis, willst du mich auf den Arm nehmen?"
„Klar, gerne. Achso, so meintest du das. Nein, ich verarsche dich nicht, falls du das denkst. Iss das Eis, dann sollten deine Erinnerungen zurückkehren. Ich hoffe nur, ich habe das richtige Eis gegriffen. Du solltest wissen, mein Vater friert die Erinnerungen aller, was überwiegend Frauen wären, in einem Eis ein. Frag mich nicht, wie das funktioniert. Davon habe ich keine Ahnung." Skeptisch schlecke ich am Eis, während er sich ein Buch anschaut. „Och Menno, dieses Buch muss uralt sein. Ich wüsste nicht, dass er je ein Buch benutzt hat, um seine Kräfte auszuführen."
„Ist es nicht sogar logisch, die Erinnerungen in Speiseeis zu verpacken? Ich meine, da würde nie jemand drauf kommen, wo er doch über den Sommer herrscht und nicht über den eisigen, jedoch schönen Winter", labere ich vor mich hin.
„Was sagst du da? Wiederholst du das bitte nochmal? Warte, das ist es. Komm mit." Er reißt mir beinahe meine Hand aus, als er mich zügig hinter sich her zieht. Zum Glück habe ich alles, was ich brauche parat, aber anstatt durch die Tür auf den Flur zu gelangen, bleibt er stehen und kramt in dem großen Kleiderschrank. Achtlos wirft er mir eine dünne Jacke entgegen und noch ein paar andere Klamotten. „Zieh dir die an. Ich kann leider nicht sagen, wo du landest und wir wollen ja nicht, dass du erfrierst." Eilig ziehe ich mir die Sachen über, während er längst aus dem Fenster geklettert ist. Oh Mann, ernsthaft? Wieso müssen hier immerzu all Wege aus dem Fenster führen?
„Die Treppe durchs Haus können wir nicht nehmen, es könnte uns jemand hören."
„Jaja, ich hab's kapiert, dann sind wir fällig." Mit meinen Fingern deute ich den Tod an meinem Hals an. Ihr wisst schon, wie ich das meine. Zack und Kopf ab. Oder werden die Opfer in dieser Welt qualvoll von der Sonne verbrannt? Das stelle ich mir noch Chemiker vor, als einfach ab mit dem Kopf. Jannis nickt bloß. Als ich aus dem Fenster springe, fängt er mich auf und wir laufen weiter bis zu einer Tür aus Eis. Eis im Sommer? Aha ist klar. Und ich meine diesmal das richtige Eis. Ich wollte es nur erwähnt haben. Während des Laufens musste ich weiterhin das Eis schlecken. Seine Worte dazu lauteten: „Wenn du es nicht ganz aufisst, kann ich nicht garantieren, dass alle deine Erinnerungen zurückkommen." Also schlecke ich das letzte Bisschen auch noch auf. Ich hoffe nur nicht, dass ich auf dem Weg hierher einen Tropfen verloren habe.
„Fertig?"
„Jepp. Dann gib mir mal den Stiel. Ich lass mir da was einfallen. Also du weißt, was du zutun hast?"
„Ja, weiß ich. Ich hoffe, du weißt es auch, damit ich endlich nach Hause kann", werfe ich ihm etwas ungeduldig vor. Hallo! Ich will nach Hause!
„Sei nicht so ungeduldig, immer mit der Ruhe, Gerda." Er fuchtelt mit dem Ständer-Penis-Eier-Stab vor der Tür herum, als plötzlich eine Blume größer wird. Grimmig schlägt Jannis auf den bizarren Stab ein. Man erkennt direkt sein Talent... über diesen Gedanken muss ich schmunzeln. Der war zugegeben ein wenig fies. Die Blume wird dennoch noch größer, bis sie sich unter meinen Popo stellt und mich quasi tragen möchte. Eine nette Sonnenblume. „Irgendwas stimmt mit dem Mist nicht", flucht er.
„Jannis, ich glaube, das soll so sein. Siehst du, die Blume will mich tragen." Zur Veranschaulichung setze ich mich auf die Blume, die kurz unter mir nachgibt, sich dann aber wieder fängt. Bevor die Blume mit mir davon fliegen kann, unterbrecht er sin vor sich Hingelabere, beziehungsweise sein Gefluche und nimmt mich in den Arm. „Ich werde dich vermissen, Gerda." Was soll ich sagen? Dass ich ihn auch vermisse? Das könnte ich beim besten Willen nicht, schließlich hat er mich entführt und mir obendrein meine Erinnerungen gestohlen! Okay, meinetwegen. Es war sein Vater... „Pass gut auf dich auf, Jannis." Mit einem traurigen Blick küsst er meine Stirn, dann lässt er mich gehen. Die Tür aus Eis öffnet sich und die Blume trägt mich bis zum Ende einer Brücke, an deren Ende ein gelber Drache mit Sonnenblumen auf dem Bauch auf mich wartet. Die Sonnenblume wirft mich ab und verbeugt sich zum Abschied vor mir. Ich nicke, dann fliege ich auf dem Drachenrücken durch die Wolkendecke. Ich komme den Wolken sogar so nah, dass ich sie berühren kann. Sie sind weich wie Zuckerwatte. Okay, okay, ja es gibt Magie und ich habe das Glück, sie derzeit um mich zu haben. Und in diesem absurden Teil meines Märchens ist Jannis Tidus wohl oder übel die gute Fee, die vorher dafür meine böse Fee war. Sobald wir langsam, aber sicher in Richtung Bodenhöhe fliegen, kann ich mehrere Personen ausfindig machen. Kay, der meinen Namen ruft. Seine Mimik kann ich aus dieser Höhe noch nicht erkennen, doch nicht mehr lange und wir liegen uns in den Armen, alle Streitereien vergessen. Selbst Mille scheint nach mir zu suchen und sogar auf diese blöde Tussi freue ich mich. Weiter hinten sehe ich den Rest meiner Familie, die Turmspitzen kann ich entdecken und dann sehe ich ihn. Jack Frost. Mein Herz klopft, die anderen sind allesamt in Vergessenheit geraten. In diesem Moment zählt nur er und als hätte der Drache meine Aufregung in Gegenwart dieses jungen Mannes gespürt - oder er konnte meine Gedanken lesen und er war es leid, das kann ich bei dem Fabelwesen nicht ganz einschätzen - setzt er mich direkt vor meinem Jack ab. Dafür musste er sich drehen, sodass ich kopfüber in den Schnee falle. Brrr, ist das kalt. Die wenigen Sachen, die ich mir oben in der Sommerwelt noch übergezogen habe, bringen nicht viel, doch das ist mir sowas von egal. „Jack!", rufe ich vor Freude aus. Er dreht sich um. Seine blauen Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. Heute sieht das blau trüb, fast traurig aus, doch es erhellt sich, als er mir mit jedem Schritt näher kommt. „Gerda! Oh Gott, du bist es wirklich!", voller Freude nimmt er mich in den Arm, hebt mich hoch und dreht sich ein paar Runden mit mir zusammen. „Wo warst du? Du glaubst nicht..." Auf einmal küsse ihn ihn, lege meine Lippen auf seine. Und er erwidert. Er erwidert den Kuss! Ein Kribbeln im Bauch breitet sich von ganz tief unten in mir aus. Seine Lippen erobern mich im Sturm. Ich lege meine Hand in seinen Nacken, da ich mit der anderen nichts anzufangen weiß, findet die andere Hand ebenfalls einen Platz in seinem Nacken, während er seine Hände auf meiner Hüfte platziert. Ich sehe nur noch ihn, ich spüre nur noch ihn... Zwischen uns würde nicht mal eine Schneeflocke passen, so eng umschlungen stehen wir da. Doch plötzlich sackt Jack in sich zusammen. Eben lagen seine Hände noch auf meiner Hüfte, seine Lippen auf meinen, nun liegt er da im Schnee. Ich halte mir die Hände verzweifelt ans Gesicht. Was ist geschehen? Habe ich den falschen Lippenstift drauf? Kann gar nicht sein, ich habe gar keinen Lippenstift. Hat er eine Gerda-Allergie? Will er mich nur veräppeln? Ich knie mich neben ihn in den Schnee. Es ist mir egal, dass es kalt ist. Hauptsache, ich kann ihn irgendwie retten. „Jack! Jack! Jack!", ich rüttel an ihm. Irgendwas muss doch vorgefallen sein. Irgendwas... JANNIS?! War er das? nein, das würde er nicht tun. Hoffe ich zumindest. Kay steht vor mir. „Gerda!"
„Nichts Gerda!", ermahne ich ihn und zeige auf den Wintergott. Noch atmet er und seinen Puls konnte ich auch spüren. Ich versuche es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Als ich auf seine Brust hämmere - selbstverständlich nicht im wörtlichen Sinne gemeint - flehe ich. Bitte, lieber Gott, lass mich nicht noch einen Menschen verlieren. Bitte tu mir das nicht an. Bitte. Hörst du?
„Was ist denn mit ihm? Siehst du, ich habe dir immer gesagt, du sollst keine wildfremden Typen küssen."
„Das ist nicht lustig." In Gedanken zeige ich meinem herzallerliebsten Bruder den Stinkefinger.
„Sorry."Ach ja klar, der liebe nette Kay, dem es ganz plötzlich leidtut. Das kaufe ich ihm doch nicht ab. Hält der mich für total bekloppt? Ich weiß, dass er Jack nie gemocht hatte, denn meine Erinnerungen sind zurückgekehrt. Tja, doof gelaufen, Bruderherz.
„Wirklich, Kay?!"
„Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?"
„Du denkst nicht nach, das hast du getan!", pampe ich ihn an. Was er getan hat? Ernsthaft?! Er hat in einer ernsten Situation einen doofen Spruch gelassen, das hat er getan! Mann, was mache ich hier eigentlich? Ich müsste mir stattdessen einen Plan zurecht legen, wie ich Jack retten kann. Verkackter, verblödeter Jannis! Wieso wollte ich ihm gleich nochmal helfen, wenn er gerade seinen Cousin umgebracht oder verletzt hat? Oder war ich das wirklich? Was ist nur passiert? Was hat Jannis mit mir gemacht? Diese Familie stinkt doch zur Hölle.
„Ich denke mehr nach als du! Ich werde zu Mille gehen und sie um Rat fragen. Sie ist schlauer als wir beide. Diese Worten mussten jetzt sein, Gerda, sorry." Wieder dieses Sorry, obwohl es ihm nicht leid tut. Na ja wenigstens hat er sich selbst ebenso als quasi dumm bezeichnet. „Bei Frau Holle, macht mich dieses Kind fertig!!!", dabei wirft er die Arme in die Luft. Ich ignoriere gerade die Stelle, an der mich als Kind betitelt hat und konzentriere mich auf das vorher. Frau Holle? Frau Holle, das ist es! Sie kann uns helfen! Sie ist doch seine Mutter, zumindest wenn er nicht genauso ist wie die aus der Sommerwelt, die gefühlt dauerhaft am Lügen sind. Während mein Bruder sich also aus dem staub macht zu seiner genauso dummen Freundin, bleibe ich neben Jack sitzen. Mir laufen die Tränen über mein Gesicht. Wie konnte das nur passieren? Warum passiert das immer mir, dass ich meine Liebsten verliere? Womit habe ich das verdient, Gott? Noch ist es ja nicht zu spät, oder?
Ich ohrfeige mich selbst und diesmal nicht nur in Gedanken, sondern richtig. Okay, jetzt bin ich wach. Ich darf Jack nicht verlieren und das meine ich nicht aus Eigennutzen. Er hat ein Kind, verflucht. Wenn er stirbt... Muss ich dann Mille erklären, dass das ihr Sohn ist? Das kann ich nicht. Sie hasst mich. Es kann nicht noch ein Kind, seinen Vater verlieren. Für mich war es schlimm, aber wie schlimm muss es wohl für diesen kleinen Racker sein? Was mache ich jetzt? Frau Holle, genau! Ich muss sie versuchen zu kontaktieren. Kann ich sie einfach rufen oder muss ich in den Schnee flüstern? Muss ich einen Brief schreiben? Egal, ich mache einfach etwas. Einmal tief durchatmen, die Tränen trocknen und all meine Kraft zusammen nehmen. „FRAU HOLLE!", schreie ich in die Nacht hinein. Oder ist es Tag? So finster wie es um mich zu sein scheint, könnte es genauso gut Nacht sein oder ein Wintertag, aber das ist gerade definitiv unwichtig. „HOLLE, HOLLE, HOLLE! Holleeeeeee!!! Bist du da? Bitte, Holle, Ihr Sohn braucht Sie", ich schreie mir die Seele aus dem Leib, bis eine Gestalt auf einer Wolke über mir schwebt. Um ehrlich zu sein habe ich Frau Holle noch nie live gesehen. Ich weiß, dass es sie gibt und ich kenne ihr Märchen, das gehört so ziemlich zu einer Allgemeinbildung hier im Märchenwald. Frau Holle hat schneeweißes Haar, das sich in Wolkenformation lockt, sprich ihre Locken sehen aus wie eine Wolke, vereinfacht gesagt. Sie trägt ein ebenso schneeweißes Kleid - was war anderes zu erwarten? - das an ein Nachthemd für Omas erinnert, heißt mit Spitze und einer Länge bis weit über die Knie. Ein Gürtel mit einer riesigen, echt aussehenden Schneeflocke schmückt ihr Outfit, sowie ihre zur Abwechslung grünen Schuhe. Ich habe von ihren Schuhen gehört, entweder kann sie weiße Schuhe tragen oder sie kann sie in grüne Schuhe verwandeln, die wie Ballerinas geformt sind, an denen sich grüne Schnüre das Bein bis zum Kleid hoch schlängeln. An den Schnüren sind kleine Blumen in den verschiedensten Farben. Das Grün soll Erzählungen nach Gras sein, was zusammen mit den Blümchen ihre Verbindung zu ihrer Rolle als Waldfee unterstreicht. Auch habe ich gehört, dass wer ihre eigentlich unsichtbaren Flügel sehen kann, entweder eine Fee ist oder jemand, der den Winter liebt, was anscheinend nur wenige sind. Angestrengt versuche ich etwas hinter ihrem Rücken zu sehen - und da! Tatsächlich sehe ich einen Flügel hinter ihrem Rücken hervorblitzen. Der Flügel schimmert in grünen Farben, was mich zum Thema Winter und somit zurück zu Jack in die Realität bringt. „Frau-„
„Was hast du getan, du dummes Kind?!", wettert sie wütend drauf los, als sie ihren Sohn entdeckt, dessen Hand ich gerade halte.
„Ich...", eine einzelne Träne verlässt mein Auge. Was habe ich denn getan? Kann mich mal jemand aufklären? Plötzlich reißt der Himmel auf, die Sonne kommt zum Vorschein und so schnell sie aufgetaucht ist, ist sie bereits wieder verschwunden. Was war das denn? Magie ist nichts für mich, wenn das jemand sagen wollte. Ja, auf dem Drachen zu reiten war unglaublich und die gemeinsame zeit mit Jack dank seiner Magie... Neben Frau Holle steht eine Nachricht im Schnee geschrieben. War das Jack? Oh guter Gott, er lebt. Freudig drehe ich mich zu ihm um. Gerda, ich wollte das nicht, es tut mir unglaublich leid. Mein Vater hat uns erwischt, er hatte das alles geplant und dir einen Fluch auferlegt. Würdest du Jack küssen, würdest du ihn umbringen... Nein, gar nicht gut. Das ist nicht von Jack. Das muss Jannis Tidus gewesen sein. Wer sonst könnte so dreist sein? mich zu belügen? Das hat er doch alles eingefädelt, um seinen Cousin zu zerstören. Wie Herzblatt kann man sein. In Richtung Himmel, genauer gesagt in die Richtung, aus der die Sonnenstrahlen kamen, zeige ich den Mittelfinger. Was für ein Doofkopf. Und mit dem wäre ich fast im Bett gelandet. Zuerst spüre ich die Hand von Frau Holle auf mir nicht, als sie meine Träne mit ihrem Kissen auffängt und ihre Hände komisch um ihr Kissen wandern lässt. Ich reiße die Augen auf, sie benutzt in meiner Anwesenheit Magie. Ich sehe von ihr zu ihrem Sohn. Hoffnungsvoll nehme ich seine Hand, bis ich mir bewusst werd, was ich getan habe. Ich habe sowas wie eine Krankheit übertragen. „Weine nicht, Kind. Ich habe dich falsch verurteilt. Du konntest nichts dafür, man hat dich ausgetrickst, aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Gib mir deine eine Hand und lege die andere auf mein Kissen."
Ein bisschen perplex folge ich ihren Anweisungen. Meine linke Hand gebe ich ihr, die rechte Hand lege ich auf ihr Kissen, was wirklich schön ist. Schneeflocken wirbeln um mich herum, ein wahrer Flockenzauber eben und zwar wortwörtlich scheinbar. „Liebst du ihn?"
„Wen?" Oh bin ich wirklich so dumm? Ich sehe zu Jack Frost, meinem Wintergott und nicke. Überraschenderweise schon, ja, auch wenn ich ihn nur so kurz kennenlernen konnte, die Briefe haben ausgereicht, um in mir diese Gefühle auszulösen. Ja, ich liebe ihn. Ich würde alles für ihn tun. Mich sogar selbst umbringen, wenn es sein müsste. Ich würde... alles tun. Nur um ihn zu retten, ihn wieder zurückzubringen. Zufrieden nickt auch seine Mutter und macht weiter mit ihrem Zauberkrams, von dem ich beim besten Willen ohnehin nichts verstehen würde. Als sie dann schwächelt, stütze ich sie und bekomme dafür ein zaghaftes Lächeln. Sie sieht blass aus und es macht mir Angst, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommen wird. Behutsam, nein unbeirrt nimmt sie meine Hand, ihr Blick bleibt dabei weiterhin auf ihren Sohn gerichtet. „Du musst ihn küssen. Wenn du ihn wirklich liebst, kannst du ihn nur so retten."
„Aber...", will ich einwenden.
„Es gibt nicht länger ein aber. Ich habe deine Sommersonnenkärfte, die dir mein Schwager gegeben haben muss, abgenommen und dir dafür meine Kräfte eingehaucht. So sollte es klappen und wenn nicht...", sie unterdrückt ein Schluchzen und ich streichel vorsichtig über ihren faltigen Handrücken. „Dann können wir nichts mehr für meinen Sohn tun..."
„Sagen Sie sowas nicht, aber wenn ich ihn küsse, was ist dann mit Ihnen?"
„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich habe mir den Fluch auferlegt, das mag sein, aber durch meine Kräfte konnte ich ihn bekämpfen. Jetzt hast du sie. Es ist zu kompliziert und wir haben nur wenig Zeit. Rette meinen Sohn, küss ihn endlich und wenn ich es nicht schaffen sollte, sag ihm, dass ich ihn liebe, ja? Und ich ihn nie hätte verurteilen dürfen. Versprich es mir, bitte."
„Ich verspreche es." Trotzdessen dass ich in letzter Zeit genug Versprechen für die nächsten tausend Jahre gegeben habe. Ich beuge mich endlich über Jack, dessen Gesicht erkaltet ist und seine blauen Augen mich starr ansehen. Ist es bereist zu spät? ich achte nicht mehr darauf. Ich hätte in meinem Leben soviele Dinge anders machen sollen, hätte Kay nicht hinterher laufen dürfen, doch das einzige, was gerade zählt, ist Jacks Leben zu retten. Ich schlucke, dann lege ich meine Lippen auf seine. Solange ich kann, versuche ich den Kuss zu halten. Wer weiß, desto länger ich ihn küsse, desto mehr Magie fließt durch mich in ihn, was weiß ich. Probieren geht über Studieren, außer ich habe nun alles nur noch schlimmer gemacht. Und das habe ich anscheinend, denn ich höre nur das Schluchzen von einer weiteren Märchenfigur, nicht von der erhofften Person. Jacks Hülle liegt leblos vor mir und ich könnte heulen, beziehungsweise heule ich ja bereits. Mein Gesicht ist tränenverschmiert. Achtlos wische ich die Tränen weg. Die brauche ich nicht. Was ich brauche, ist Magie, nein ein Wunder. Ein Wunder würde uns an dieser Stelle helfen. Während mir weitere Tränen übers Gesicht kullern, die ich diesmal jedoch kaum beachte, schniefe ich und versuche es nochmal und nochmal. Immer wieder landen meine Lippen auf seinen und immer wenn ich kurz davor, aufzugeben, zusammenzubrechen, denke ich an unsere gemeinsamen Momente, an die Briefe. Ich denke an das Gefühl, wenn er mich ebenfalls lieben würde, an die Gefühlsexplosion als er mich das erste Mal küsste...
„Du liebst ihn nicht wirklich", stellt Frau Holle grimmig fest. Manchmal kann ich nachvollziehen, warum Jack es nicht leicht mit ihr hatte. Jedesmal wenn etwas schief geht, nicht so läuft, wie sie es gerne hätte, wird sie aggressiv und anstrengend. Schluchzend breche ich zusammen. Ich weiß es doch auch nicht. Weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, die Wahrheit zu sagen... woher ich wusste, dass ich ihn liebe... ich will ihn doch einfach nur zurück haben... Vielleicht kann Mille mir ja mein Herz rausreißen und ihrem Bruder einsetzen...? Ein Fluss an Tränen kullert über mein Gesicht und zu spät sehe ich, wie ich den leblosen Jack Frost voll tropfe. Als ich ihn ansehe, werden meine Tränen nur noch mehr. Die blauen Augen, das markante Gesicht, die Lippen, die sich so gut auf meiner Haut angefühlt hatte, seine perfekte unperfekte Nase, das Kinn, die Schneehaare... Träne über Träne, als er plötzlich die Augen aufschlägt. „Jack", flüstere ich und er legt seine Hand unter mein Kinn.
„Gerda, weine nicht, wenn der Regen fällt..."
„Dam-Dam...", falle ich in den Refrain des Liedes mit ein und wir müssen beide lachen. Ich werfe mich ihm in die Arme. Lachend legt er seine Arme um mich und küsst mich. Endlich. Es kribbelt im Bauch und diesmal weiß ich mit Sicherheit, dass es kein Traum ist. Nicht mal ein Alptraum, denn es geht ihm gut.
„Jack", schluchzt seine Mutter auf. Sie rutscht über den Schnee zu uns und schlingt die Arme um ihn, da ich jedoch in seinen Armen liege, umarmt sie ebenso mich gleich mit. „Ich liebe dich, mein Schatz. Ich habe dich ungerecht behandelt damals, als deine Schwester..."
„Mutter."
„Nein, Jack Findus. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich war die Mutter. Ich hätte öfter für euch da sein müssen, hätte selbst nach deiner Schwester suchen müssen. Stattdessen musstest du viel zu früh Verantwortung - für ein Kind! - übernehmen, dabei warst du selbst noch ein Kind. Ich habe in der Vergangenheit so viel kaputt gemacht, so viel verpasst..."
„Mutter, es ist gut...", ich sehe, dass sich auch in seinen Augen Tränen ansammeln. Sanft streiche ich über seinen Arm. Zugegeben es ist ein bisschen seltsam, in diesem liebevollen Moment zwischen den beiden zu sitzen, andererseits ist es mindestens genauso schön, diese Ehre haben zu dürfen. „Ich liebe dich auch." Nach all seinen Erzählungen weiß ich, dass ihm diese Worte seiner Mutter gegenüber nicht leicht fielen, wo sie doch schließlich nie Zeit für ihn und seine Schwester gehabt hatte. Diesen Moment stört jedoch ein Schneeknirschen, als würde jemand durch den Schnee Zapfen. Ich spitze die Ohren. Hm, könnte ein Mann sein. In Erwartung gleich noch Väterchen Frost vor mir zu haben, drehe ich mich um, doch hinter mir steht Kay, der gerade zum husten ansetzen wollte, um auf sich aufmerksam zu machen. Auf sich und Mille. Bei Frau Holle, ist das gruselig, dass sie sich derart anschleichen kann. Das ist nämlich eine ihrer Fähigkeiten; durch den Schnee schleichen. Logisch, oder? Na ja, geht so. Frau Holle kneift die Augen zusammen. Ach stimmt ja, habe ich euch darüber aufgeklärt? Meine Erinnerungen sind wohl noch nicht komplett zurück. Na egal, ich erkläre es nochmal kurz. Sofern ihr es bereits wisst und das ganze drumherum nicht nochmal haben wollt, lest einfach ein paar Zeilen weiter unten wieder mit. Jack Frost ist der Sohn von Väterchen Frost und seiner Frau Frau Holle. Mille, bekannt als Schneekönigin und meine Erzfeindin und zugleich die feste Freundin meines Bruders - sehr kompliziert, ich weiß - ist Jacks Schwester. Puff, Gedanken explodiert. Okay, Spaß beiseite. Jedenfalls hatte ich ja einen Unfall, bei dem ich fast ertrunken wäre, in eiskaltem Wasser nebenbei gesagt und Jack hat mich gerettet. In der Zwischenzeit, in der er darauf gewartet hatte, dass ich wach werde, hatte er versucht mit der Eishexe zu sprechen, doch der Eisblock hat ihm nicht zugehört.
Frau Holle sieht also von Kay, Jack, Mille und mir hin und her und scheint kaum etwas zu verstehen. Sie beugt sich zu mir, als ihr bewusst wird, dass sie sich ursprünglich an Jack hatte wenden wollen. „Wer ist das?", fragt sie mich dennoch, vielleicht um nicht als Bekloppte abgestempelt zu werden. „Das ist Ihre Tochter", sage ich einen Ton zu laut und ich glaube, Jack fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. Nicht weil er diese Information nicht hatte, er hatte vermutlich nur nicht erwartet, dass ich mit der Tür ins Haus fallen würde. „Ups", schiebe ich hinterher. Versucht unauffällig schiele ich zu Mille. Hat sie das gehört? Soweit wie ihre Glubschaugen aufgerissen sind, tippe ich mal auf Jap. Jap, sie hat es gehört. Doppelt-Upsi.

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