Kapitel 32 - Jack Frost

Gerda blinzelt und ihr läuft ein bisschen Sabber aus dem Mund. Über ihren verschlafenen Anblick schmunzel ich. Sie bemerkt meinen Blick fast sofort und wischt mit ihrem Ärmel hektisch über ihren Mund. „Na, gut geschlafen?", frage ich die müde Gerda. Nach dem ich ihr und ihrem Patenkind Øystein gestern von einem Traum erzählt habe, den ich als Kind hatte, ist sie eingeschlafen. Ich weiß nicht, was mich getrieben hat, aber ich hätte die ganzen Stunden an ihrem Bett sitzen können, wenn ich nicht noch etwas anderes zutun gehabt hätte. Genauso wenig. Wie ich weiß, warum ich das alles tue. Wieso ich noch hier bin. Ich weiß es echt nicht. Vielleicht mag ich sie echt gerne und ja, vielleicht bin ich wirklich ein kleines Bisschen in sie verliebt. Ja, okay, ein kleines Bisschen mehr. Ja, ein bisschen viel mehr. Aber das ist doch total verrückt. Ich meine, ich kenne sie erst wie lange? Noch nicht mal einen Monat, in dem wir so gut wie nur Briefe geschrieben haben. Kann man sich durch Briefe in jemanden verlieben? Warum nicht? Stimmt, warum eigentlich nicht? Warum sollte man sich mittels Briefen nicht verlieben? In den Briefen habe ich viel mehr aus meinem Privatleben verraten, als auf Dates zuvor. Ich habe ihr viel mehr Privates anvertraut. Okay, ja, Fjella mag da eine Ausnahme sein, aber sie kenn ich auch schon seit wir klein waren. Gerda kenne ich erst seit kurzer Zeit, seit gefühlten Minuten und ich weiß bereits, dass sie mir etwas bedeutet. Und ich glaube, ihr geht es auch so. Zumindest habe ich da diesen kleinen, hauchfeinen Hoffnungsschimmer, dass sie genauso empfindet. Warum hätte sie mir sonst Tag für Tag zurückgeschrieben? An meinem interessanten Leben kann es nicht liegen, denn ich bin Vater und habe kaum irgendwas Spannendes zu erzählen, außer wie Snefnug sich entwickelt, was er bisher kann und was nicht, aber das interessiert schließlich nicht jedermann. Mich hätte es damals, bevor ich ihn adoptiert habe, nicht sonderlich interessiert und Gerda ist gerade in dem Alter, als ich Snefnug adoptierte.
„Ja", um ihre Müdigkeit noch weiter zu unterstreichen gähnt sie. Ich grinse. „Soll ich dich lieber schlafen lassen?"
„Nein, nein. Ich bin wach", mittlerweile sehen ihre Augen wirklich wacher auf. Mein Grinsen bleibt weiterhin bestehen, als ich für diese Frage all meinen Mut zusammen nehme: „Gehst du mit... mit mir aus?" Ich mache mich schon auf alles gefasst. Einen Korb zum Beispiel. Seit ein paar Tagen hatte ich nichts anderes zu tun, als dieses Date zu planen und als sie dann heute morgen aufgewacht ist, habe ich den Date-Plan ziemlich zeitgleich in die Tat umgesetzt. Ich hatte also auch die letzten Tage lang Zeit, mich auf eine Absage vorzubereiten. Innerlich versinke ich vor Scham im Boden, doch äußerlich lasse ich mir nichts anmerken. Das habe ich jeden Abend zuhause vor dem Spiegel geübt. Und dieses Geständnis war jetzt peinlich. Super. Verlegen stecke ich meine Hände in die Taschen und schaue mir ihr Zimmer an. Kann sie mir bitte endlich antworten? Eine Absage ist eindeutig besser als dieses elendig lange Warten. Allmählich habe ich das Gefühl, ich werde so ungeduldig wie mein Sohn. Es wird immer besser...
„Ja", antwortet sie plötzlich wie aus dem vollkommen überraschenden Nichts. Ach du... grüne Neune... Sie hat Ja gesagt! Ja! Oh, ich fühle mich gerade wie ein Mann, dessen Freundin gerade dem Heiratsantrag zugestimmt hat.
„Super... Ich meine, wir... Wärst du jetzt für ein Date bereit? Ich habe da was vorbereitet... und... Ich möchte...", verhaspel ich mich jedesmal, obwohl ich den Text zuvor gedanklich vorbereitet habe. Unsicher sehe ich ihr in die Augen. In so bescheuerten Ratgebern habe ich gelesen, dass man der Frau in die Augen sehen soll, ansonsten könnte sie denken, dass man sie nicht mag, dabei muss man jedoch aufpassen, nicht zu lange zu gucken, denn das wäre wiederum gruselig. Ja, ich habe mir zugegeben ein paar der Ratgeber gekauft, sie gelesen, dann an den Übungen verzweifelt, um sie schlussendlich in einem Karton unter meinem Bett zu verstecken. Mit Fjella war alles einfach. Wir brauchten nicht lange reden, bevor wir im Bett gelandet sind. Natürlich will ich Gerda nicht ins Bett kriegen, also doch schon, aber ich will etwas Echtes. Für mich war Fjella zwar jetzt nicht nichts Echtes, aber oh Mann... Ihr wisst schon, was ich meine.
„Können wir das nicht verschieben? Ich meine, ich würde gerne, aber hier ist das vollkommen unromantisch. Ich in diesem... Krankenzimmer... Außerdem sehe ich grässlich aus."
Natürlich. Sie will nicht. Und jetzt sucht sie krampfhaft nach Ausreden. Ich hätte mir keine Hoffnungen durch die Worte ihrer Freundinnen machen dürfen. Es ging alles so schnell und ich dachte, ihre Freundinnen sagten es auch so, dass sie sich über das Überraschungsdate freuen würde. Tja, Fehlanzeige. Du hast es vermasselt, Jack Frost, richtig vermasselt. Du hast es zu schnell angehen lassen. Wie war das gleich noch mit „es langsam angehen lassen"? „Es tut mir leid, ich dachte nur... wir haben das Vorhaben von einem Date irgendwie schon ein paarmal verschoben und ich wollte es nicht mehr verschieben... und... tut mir leid... Soll ich dir das Essen trotzdem bringen? Hunger hast du bestimmt", versuche ich nicht mehr an diesen Korb zu denken. Das wird mir noch länger im Magen hängen.
„Du... Du hast schon was vorbereitet?", sie sieht mich an und ich sehe beschämt weg. Das habe ich verdammt nochmal beschissen gelöst. Jetzt werde ich in ihren Augen gleich Mitleid für mich sehen, weil sie... Oh Mann... Aber so jemand ist sie doch nicht, oder?
„Ja", beantworte ich ihre Frage trotzdessen. Ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt oder eher in meine Teeniejahre. Mit Fjella war alles so leicht... Durch Jules war alles leichter. Er hat die Mädchen aufgerissen und manche an mich weitergegeben. Die Erfahrungen diesbezüglich habe ich durch ihn. Und so verstörend das alles auch klingt: Meine sexuelle, theoretische Aufklärung hatte ich von ihm. Und man will besser nicht wissen, wo er diese her hat. Immy wollte uns nicht aufklären, also mussten wir uns andere Möglichkeiten beschaffen. Das einzige, was wir mit Immy zu diesem Thema durchgekaut haben, war ein Regelblatt. Man muss verhüten und sowas, mehr nicht.
„Das wusste ich nicht... Oh... ich... Ich möchte unser Date auch nicht länger verschieben, aber ich sehe doof aus... und bei seinem ersten Date sollte man doch nicht doof aussehen, oder?"
Oh nein, jetzt fühlt sie sich schlecht mir gegenüber. Super. Genauso hatte ich das alles geplant. „Nein, nein. Alles gut. Du musst das nicht machen. Du..."
Doch sie beendet meinen Satz: „Ich möchte aber. Ich bin nur vielleicht ein bisschen... unerfahren... und ich weiß auch nicht. Doof? Ich möchte dieses Date wirklich, aber kann ich vielleicht vorher duschen? Ich möchte mich wirklich Frischmachen und wenigstens ein bisschen besser aussehen."
„Also ich finde ja, du siehst hübsch aus."
Sie sieht mich zweifelnd an, dann sieht sie an sich runter. Okay, ja, sie sieht aus, als ginge es ihr noch nicht richtig blendend. Ihre Wangen sind immer noch etwas blass, aber ich finde sie dennoch hübsch. Wunderhübsch. Ja, ganz im erst. Ich finde sie immer wunderhübsch. Oder wunderschön. Irgendwas in dem Bereich. „Jack, du brauchst nicht lügen. Ich sehe grauenhaft aus. Erst heute morgen bin ich aus meinem Halbkoma erwacht, also echt."
Ich beuge mich vor und küsse lächelnd ihre Nasenspitze. „Wie wäre es, wenn du Komplimente einfach mal annimmst?"
„Gute Idee", meint sie. „Würde ich ja gerne, aber..."
„Aber?"
„Ich versuche es ja", behauptet sie mit gekräuselter Nase. Mein Herz klopft so laut, dass sie das eigentlich hören müsste. Ihr Blick in Form von einer gekräuselten Nase sieht niedlich aus, was mich umso mehr verwirrt. Wie kann es sein, dass ich mich nur durch Briefe total in sie verknallt habe? Ich weiß es nicht. Ich frage mich in letzter Zeit ohnehin viel, was sie betrifft. Frage mich, wie jemand so stark sein kann, dass man nach dem Tod der Familie wieder aufstehen konnte. Ich hätte es nicht geschafft. Ich wäre am Boden zerstört gewesen, wäre in ein bodenloses Loch gefallen... Gerda holt mich zurück in die Gegenwart, als sie sich im Bett aufsetzt. Ich „eile" an ihre Seite und will ihr beim Aufstehen helfen. Sie winkt mit einem unsicheren Lächeln ab. „Sicher, dass du Duschen willst?" Sie verrenkt ihren Kopf, um unter ihrem Arm zu riechen, verzieht angewidert das Gesicht und nickt. „Ja, absolut sicher."
„Soll ich dir helfen?" Und ich merke selbst, wie bescheuert das klingt. Erstens sind wir noch nicht so weit, dass ich ihr beim Duschen helfen sollte und zweitens glaube ich, dass sie meine Hilfe gerade nicht möchte. Irgendwie will sie mir eher beweisen, dass sie es alleine schafft, wahrscheinlich weil sie eben doch nicht so stark ist, wie sie annimmt. Vielleicht hat sie den Tod ihrer Familie zwar in den Augen der anderen verkraftet, aber ich sehe erst jetzt, wie gebrochen sie innerlich eigentlich ist. Wie konnte sie das nur so lange aushalten, ohne mit jemanden darüber zu sprechen? Ich weiß, dass sie eine tolle Familie hat, die sie liebt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie nie darüber redet, wie es ihr in Wahrheit geht. Darum bewundere ich sie so - für ihre Familie tut sie alles. Sie tut alles, um ihre Familie nicht zu verlieren, opfert sich selbst für ihre Patenkinder und ich bin mir sicher, sie würde es wieder tun. Sie macht alles, damit es ihrer Familie gutgeht und wie es ihr dabei geht, ist ihr nicht wichtig. Ich finde, das bedeutet wahre Coolness, wahrer Mut wenn ihr mich fragt. Jemand, der beliebt ist, ist für mich nicht cool. Für mich bedeutet cool, das, was Gerda ist. Ein starkes und doch verletzliches Mädchen.
„Ich glaube, ich kann alleine duschen gehen. Aber danke", meint sie mit einem halben Lächeln. Ich lache. „Ja, okay." Sie fällt in mein Lachen ein. Ihr Lachen klingt so... bezaubernd, ich weiß nicht, wie man es sonst sagen soll. Wenn ich sage, sie klingt wie ein Engel, klingt es wohl echt sehr übertrieben, oder? Gibt es eigentlich etwas, was man an Gerda nicht mögen kann?
„Ja, gibt es. Ihre Aggressivität", wirft Kay in den Raum. Oh verdammt, hatte ich das echt laut gesagt? Gerdas Wangen färben sich leicht rosa. Anscheinend habe ich die Frage wirklich laut gesagt. „Gerd, wir müssen reden."
„Okay, schieß los", antwortet sie gerade raus und ich muss grinsen. Ich liebe ihre Kampflustigkeit, auch wenn sie damit versucht, ihre Emotionen hinter einer Maske zu verstecken. Irgendwann werde ich es schaffen, ihre Mauer zu durchbrechen und dann lasse ich sie nicht mehr gehen. Dann muss sie mit mir reden und jeden Tag aufs neue sagen, wie es ihr wirklich geht. Das schwöre ich, das werde ich machen.
„Jack, gehst du bitte?", wendet er sich mit einem Blick an mich, der zeigt, dass er sich zusammen reißen muss, nichts Falsche in ihrer Anwesenheit zu sagen. Keine Ahnung, warum, aber er hat seit ich hier bin ein Problem mit mir. Genau wie Mille, die eigentlich meine Schwester war, mich jedoch anscheinend nicht wieder erkennt.
„Jack ist unser Gast, er bleibt hier. Außerdem hat er mich gerettet." Ich sehe auf, als sie mich verteidigt. Sie lächelt mich an. Ich lächel zurück. In diesem Augenblick gibt es nur uns zwei - wir sehen uns in die Augen. Ihre Augen scheinen ebenso zu lächeln. Ihre blauen Augen treffen auf meine. Dann zerstört ihr Bruder bereits diesen besonderen Moment. Er verschränkt die Arme vor der Brust und schnaubt. „Kein Sex mit ihm."
Gerda hustet und starrt ihren Bruder finster an. „Tickst du noch ganz dicht? Das ist meine Sache."
„Nein, ist es nicht. Du bist meine kleine Schwester, ich dein großer Bruder. Kein Sex. Basta." Nun bekomme ich wieder diesen bösen Blick von ihm.
Ich hebe abwehrend die Arme. „Das hatte ich nicht vor, aber es ist trotzdem ganz allein Gerdas Entscheidung", werfe ich zurück. Er faucht wie ein Tiger und wieder kann ich mir das Lachen nur schwer verkneifen. Kay will seine Schwester nur beschützen. Ist es fies von mir? Oder ist er eigentlich der Fiese, der seiner Schwester nicht vertraut?
„KAY! Geh. Wie Jack schon sagt, es ist MEINE Sache. Ich weiß, dass du mein Bruder bist, aber das heißt nicht, dass du dich so aufführen darfst!!", donnert sie. Ich bekomme echt ein bisschen Angst und Kay guckt doof aus der Wäsche, dann geht er zur Tür hinaus. „Ich schicke dir jemanden, der dich duscht. Oder ich mache es."
„Du machst das ganz bestimmt nicht" und als er außer Hörweite ist, meint sie: „Ich entschuldige mich bei dir. Kay ist unmöglich."
„Er will dich beschützen"; verteidige ich ihn ausnahmsweise.

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