Kapitel 25 - Fjella

Er hat mich als fett beleidigt, meinen Bruder, den ich über alles liebe, als übergewichtig, nur um jetzt neben mir zu stehen und meine Hand zu halten, während ich mich um meinen Kindheitskumpel sorge, der gerade erfahren hat, dass seine Mutter im Krankenhaus liegt. Über diese Ironie muss ich grinsen. Früher dachte ich immer, mein bester Freund und ich kämen eines Tages zusammen, dann treffe ich mit gebrochenen Herzen auf Flóki und jetzt wollten er und ich doch wirklich heute ausgehen. Das nenne ich wahre Ironie, also wirklich. Ich meine, was hat er mir alles angetan?
Ich erinner mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Er hatte mich eine Woche zuvor als zu breit betitelt und sich dann entschuldigt, es wäre bloß ein Spaß gewesen und dann hatte ich plötzlich einen Traum, indem er mich küsst. Indem er mich so richtig küsst. „Warum sagst du nicht einfach, dass du Gefühle für mich hast?", hat er gesagt.
„Wieso sagst du es nicht?", konterte ich.
„Weil ich Angst habe."
„Als ob du vor irgendwas Angst hättest..."
Er steckte seine Hände tief in die Hosentaschen. „Weißt du, ich habe vor vielen Dingen Angst."
„Was würdest du tun, wenn ich es zugeben würde?"
„Dich küssen, wahrscheinlich", beantwortete er mir, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Dann ja, ich habe Gefühle für dich."
„Das ist gut, ich nämlich auch für dich" und damit beugte ich mich zu ihm runter, denn er war kleiner als ich und legte meine Lippen auf seine. Er zog mich näher zu sich und dieses ganz bestimmte Kribbeln durchzog meinen Körper. Jedes noch so kleine Körperteil ging in Flammen auf.
Danach wurde ich wach, weil Immy mich für die Schule geweckt hatte. Am Ende des Tages saß ich für die letzten beiden Schulstunden neben ihm. Wir zofften uns, doch ich konnte nur an seine wundervollen Lippen auf meinen denken. Immer wieder fasste ich mir heimlich an meine Lippe oder starrte auf seine, doch die Worte, die er zuletzt zu mir gesagt hatte, rissen mich aus meiner romantischen Fantasie. Er hatte im Biologieunterricht gesagt, dass ich diesen einen Stoff unbedingt bräuchte, um Fett loszuwerden und dann habe ich mich doch dummerweise noch mit ihm unterhalten. Darüber, dass mein Bruder übergewichtig sei. Er meinte, dass es stimmen würde, er habe meinen Bruder schließlich mal gesehen. Ab dem Punkt habe ich kein einziges Wort mehr mit ihm gewechselt, bis ich ihn vor einem Jahr in dem einen Restaurant angetroffen habe. Er hatte sich entschuldigt und hat ein ganzes Jahr versucht, mich zu einem Date mit ihm zu überreden. Tja und jetzt stehen wir hier. Vielleicht war es dumm, ihm zu verzeihen, aber Träume lügen nicht und oh mein Gott, allein seine sanften Küsse lassen bei mir die Funken sprühen. Und ich fühle mich echt verrückt, dass ich das mache. Mit ihm. Der, der mich und Jules beleidigt hat, aber heißt es nicht immer, Liebe macht verrückt oder so?
Flóki streichelt mit seinen Fingern meine Hand. Ich drehe mich zu ihm um und lächel ihn dankbar an. Er beugt sich zu mir vor und küsst meine Stirn. Um das zu erklären: Ja, er ist immer noch kleiner als ich, aber er steht, während ich auf einem Stuhl Platz genommen habe. „Wie geht es dir?"
„Ich glaube, mir geht es besser als Jack. So aufgelöst habe ich ihn kaum erlebt. Nur das eine Mal... als er seine Schwester verloren hat."
„Meinst du Mille?", fragt er. Stumm nicke ich. Wir sprechen ihren Namen nicht mehr aus. Eigentlich schade. Man könnte sie in Ehren halten, wenn man ihren Namen sagt. Das, was wir hier abziehen, das nicht-drüber-sprechen ist so, als würden wir sie mit allen Mitteln und Wegen vergessen wollen, als wäre sie dieser Voldemort aus Harry Potter. So von wegen Du-weißt-schon-wer. Ich finde es schrecklich, aber ich weiß auch, warum Jack es tut, weil er sie noch immer vermisst, weil er sie liebt und weil er sich um sie sorgt. Jeden Abend sitzt er am Fenster und betet für sie. Betet, dass sie noch am Leben ist, dass es ihr gutgeht, hofft darauf, dass er sie eines Tages findet.
„Ja, aber sei lieber leise. Ihr Name wird nicht mehr gesagt. Das Thema Mille wird lieber umgangen, weil..."
„Ich verstehe", meint er. „Tut mir leid."
„Nicht schlimm. Kanntest du sie?"
„Ich wusste, wer sie war. Die Winterprinzessin. Die Wintertochter. Namen hatte sie viele, aber ich glaube begegnet bin ich ihr nie. Du kanntest sie, stimmt's?" Ich nicke. „Natürlich kanntest du sie. Du bist mit ihrer Familie befreundet, wie man gerade sieht."
„Ja."
Dort, wo Jack Frost eben gesessen hat, herrscht nun gähnende Leere. Als ich mit Snefnug angekommen bin, hat er seinen Sohn an die Hand genommen und ist mit ihm in das Krankenzimmer von Frau Holle. Sie hatte einen Schlaganfall, aber ich hätte im Leben nicht gedacht, dass er zu ihr gehen würde. Klar, liebt er seine Mutter irgendwie, dennoch gibt es da diese Abneigung ihr gegenüber. Unsere Eltern waren nich die besten Eltern, doch wir haben diese Zeit überstanden, nur er schlechter als wir. Er hat das Vertrauen zu seinen Eltern verloren. Darum ist er schließlich vor ein paar Tagen bei ihnen ausgezogen, um mit Sne einen Neuanfang zu starten. In diesem Moment fällt mir der Brief auf seinem Stuhl ins Auge. Ich nehme und lese ihn. Es ist von einer Gerda. Sie hat ihn ermutigt zu seiner Mutter zu gehen. Erst will ich eifersüchtig sein, dann merke ich jedoch, wie dumm es ist, weil es zum Einen ihm geholfen hat und zum Anderen haben wir die Beziehung zwischen uns geklärt. Wir sind keine Freunde mehr, auch keine Freunde plus, aber wir sind Geschwister, die absolut keine Gefühle füreinander haben. Und es war die beste Entscheidung. Ja, ich dachte die ganze Zeit über, ich hätte noch Gefühle für ihn, doch eigentlich habe ich mich eher selbst belogen. Ich habe mich einfach an den Gedanken geklammert, ich würde ihn noch lieben und er wäre der einzige für mich. dabei habe ich gar nicht gesehen, dass andere Mütter schöne Söhne haben, so sagt man doch. „Was ist das?"
„Ein Brief von Gerda."
„Wer ist das?", möchte er wissen, doch ich zucke nur mit den Achseln. „Ich weiß es nicht, aber ich denke, wenn die Zeit reif ist, werden wir es erfahren."

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