Kapitel 2
- sieben Jahre später -
Wo waren wir stehen geblieben?", knurrt Mille. Wirklich, wirklich angewidert verziehe ich das Gesicht. Warum tun mir die beiden das an? Und wieso können sie sich nicht nur auf ihr Schlafzimmer begrenzen und den anderen Räumen den Anblick ersparen?
„Ich weiß nicht."
„Oh mein kleiner, dreckiger, heißer..."
Mehr will ich nicht hören. Ich schließe die Ohren, summe in Gedanken ein Lied und versuche ihnen nicht gleich vor die Füße zu kotzen. Da zieht Kay meine Hände weg von Ohren. Ich weiß, dass er es ist, weil ich sie, die dauerhaft kalte Hände hat und ihn kenne. Ich kenne seine Hände, sein Lächeln... Nein, ich bin nicht in ihn verliebt. Ich dachte es, aber er ist für mich wie ein Bruder. Wie dem auch sei. Trotzdem muss er nicht vor meinen Augen mit ihr schmusen.
„Oh hej, Gerda, Süße."
Kann sie freundlicherweise aufhören, mich Süße zu nennen? Und obendrein mir nicht mehr auf den Keks gehen? Ich freue mich für Kay, wirklich. Wirklich, wirklich. Ich freue mich, ja. Aber hätte er sich nicht in eine andere Frau verlieben können? Eine, die nicht eiskalt ist und versucht sich bei mir durch Schleimen das, was sie mir angetan hat, zu entschuldigen?
„Godmorgen! Ich, ähm, bin dann Mal weg. Wartet nicht auf mich mit dem Essen", verhaspel ich mich.
„Ach Quatsch, bleib doch. Wir könnten..."
„Nein, nein, lasst mal. Anna hat gefragt, ob ich ihre Kinder heute babysitte", rede ich mich raus. Auf gar keinen Fall will ich nach diesem urpeinlichen Zusammenstoß etwas mit meinem Bruder Kay und seiner Königin Mille unternehmen. Ihre Sexspielchen vergraulen mich schon seit fast einem Jahr. Im Internet habe ich gelesen, es ist die zweite Phase in einer Beziehung. Erst kommt das Verliebtsein, dann die verrückten Sextests oder so. Was danach kommt, ist mir leider - oder zum Glück - entfallen.
„Schon wieder? Aber da warst du gestern erst. Muss sich Anna nicht Mal selbst um ihre Kinder kümmern?", meint mein Bruder, der die gesamte Konversation ungewohnt schweigsam war. Ist ihm die Situation derart peinlich? Als ob ich die beiden nicht schon oft genug erwischt habe, wie sie es an einer Wand auf dem Flur treiben oder auf dem Teppichboden vor dem Kamin oder an Weihnachten hinter dem Tannenbaum. Die Szene hinter dem Weihnachtsbaum war mitunter die schlimmste.
„Bestimmt, aber ihr kennt mich ja."
„Liebenswürdig wie immer, ja."
„Hilfsbereit", ergänzt Kay seine Freundin.
„Brav."
„Wohlerzogen."
Weiter geht es abwechselnd mit den Worten „Voller Fantasie", „Klug", „Artig" und so weiter und so fort. Ab dem Wort artig schalte ich ab. Ich verdrehe die Augen soweit wie irgend möglich. Puh. Warum müssen Pärchen dermaßen anstrengend sein? Als Mille das Wort „Jungfrau" in den Mund nimmt, sehe ich sie finster an. „Du weißt gar nichts über mich! Vielleicht hatte ich bereits Sex..."
„Ach ja? Mit wem?", neckt sie mich.
„Mit... mit..." Ja, mit wem könnte ich Sex gehabt haben? „Genau, mit deinem Freund."
Gleich darauf könnte ich mich selber ohrfeigen. Wie doof kann man sein? Ich würde nie Sex mit meinem Bruder haben wollen. Das wäre ja ekelhaft.
„Halt mich da ja raus, Gerd."
Gerd ist sein ach so angeblich witziger Spitzname für mich. Das A weglassen und ich mutieren zum Jungen, oder wie? Tsts. Lachend tätschelt mich seine Freundin. „Wie du meinst, Süße. Komm zu mir, wenn du Beratung benötigst. Deine Schwester ist für dich da. Ach ja und süße Frisur übrigens."
Diesmal rolle ich meine Augen. Das ist ein verheerend großer Unterschied zum Augen verdrehen. Ein ganz großer Unterschied. Mille hat mir heute morgen meine Haare zu einer Blume mit vielen glitzernden Haarnadeln geflochten. Leider muss ich gestehen, dass sie das ausgesprochen gut kann, dennoch ist sie noch lange nicht meine Schwester. Da zähle ich eher meinen Bruder, den ich nie kennenlernen durfte, als meinen richtigen Bruder.
Einfach gehen. Ich werde jetzt einfach das Haus verlassen. So erzogen wie ich bin, bedanke ich mich noch, dann stampfe ich an ihnen vorbei nach draußen in die wohl verdiente Freiheit, doch direkt wird mir bewusst, was ich vergessen habe. „Sie braucht dringend einen Freund", höre ich die blöde Kuh von Weitem sagen. Auf leisen Sohlen schleiche ich in mein Zimmer, wo ich mir meine Tasche vom Stuhl nehme und ein Buch dazu packe. Mit der Tasche und meiner Jacke, die ich mir rasch überziehe, schleiche ich zur Tür hinaus. Draußen schneit es mächtig. Über Nacht muss es an Schnee zugenommen haben, denn ich stecke bis zu den Knien darin fest. Andere würden sich darüber aufregen, doch ich wäre nicht ich, wenn ich nicht wäre wie ich bin. Ähm okay. Ja gut. Was wollte ich damit ausdrücken? Ganz egal.
Ich lache überglücklich und werfe mich in den Schnee hinein. Meine Füße, Beine, Arme und Hände bewege ich so, dass ich einen Schneeengel fabriziere. Und gleich noch einen. Alle guten Dinge sind drei, heißt es doch so schön. In mich hinein lächelnd bleibe ich im Schnee liegen. Denke daran, wie es war, als es nur Kay, Elsa und mich gab und manchmal oder eben sehr oft noch Anna, Kristoff, Øystein und Olaf. Jetzt gibt es mich, Annas Kinder Øystein, Sarijana Thala, Lennja und noch viele mehr. Meine Mutter Elsa lebt mit ihrer Frau und deren Tochter im Zauberwald. Manon, meine Stiefmutter und Madelen, meine Stiefschwester sind okay. Madelen ist mit der Zeit zu meiner besten Freundin geworden, aber die Beziehung zwischen meinem Bruder und Mille hat Kay irgendwie verändert. Nein, ich glaube nicht, dass Mille ihn nochmal verzaubert hat, doch verändert auf jeden Fall. Ich zucke mit den Achseln. Ist auch egal. Ändern kann ich schließlich eh nichts an der Situation.
Um mich abzulenken, nehme ich mir eine handvoll Schnee und werfe ihn in die Luft, sodass er auf mich herab nieselt. Freudig tanze ich gutesgehend durch den hohen Schnee. Drehe mich im Kreis um meine eigene Achse, schaue fasziniert in den Himmel und drehe und drehe mich immer noch. Keine gute Idee wird es dann jedoch, als ich mich an einer Piourette versuche. Ich falle voll auf die Nase. Doch es ist nur Schnee, also rappel ich mich hoch. Noch einmal streife ich verliebt über den Schnee.
💙
Leise öffne ich das kleine Tor zur Scheune des Schlosses und schleiche hindurch. Im Dunkeln mache ich ein ganz bestimmtes Rentier aus - Sven. Anstatt ihn mit einer Möhre zu begrüßen, klettere ich über Heuballen. Aus meinem Stiefel entnehme ich ein Messer. Mit meinem Finger streiche ich darüber. Onkel Kristoff hat es für mich verziert. Jetzt will ich ihm damit Angst einjagen. Oh Gott, mir wird gerade bewusst, wie das klingen muss. Natürlich bringe ich ihn nicht um oder sowas. Es wird nur ein kleiner Streich. So läuft das immer zwischen uns. Mal jagt er mir einen Schrecken ein, Mal ich. Heute bin ich dran, wie ich finde. Ich pirsche mich an ihn ran, denn neben Sven steht selbstredend der König mit den langen strohblonden Haaren. Grinsend mache ich mich groß und halte ihm das Messer an die Kehle. Okay, das klingt wirklich brutal. Aber ist es nicht. Wirklich nicht. Ich meine schon, aber ich würde ihm niemals etwas tun, außer er bricht Anna das Herz, jedoch glaube ich das kaum. Er liebt Anna. Seit Jahren beneide ich sie um ihre Liebe. So eine Liebe, wo sie morgens gemeinsam aufwachen und sich trotz der Erlebnisse verliebt in die Augen sehen. Diese Liebe, in der sie alles zusammen machen. In der es um Vertrauen geht und nicht um Macht oder Reichtum. Kris hat Anna nicht geheiratet, um reich zu werden, sondern um sein ganzes Leben mit ihr zu verbringen. Irgendwann. Irgendwann werde ich diesen besonderen Jemand finden, davon bin ich überzeugt oder hoffe es zumindest. Und diese Streiche spielen wir uns nur gegenseitig, weil er mir das Kämpfen beigebracht hat, damit mich keine alte Frau überrumpeln, keine Schneekönigin mich umbringen kann.
„Gerda, h-hej", röchelt er. Sofort lasse ich ihn los. Kristoff fässt sich an seinen Hals.
„Sorry", murmel ich mit mulmigen Gefühl.
Mein Onkel winkt ab. „Alles gut. Du hattest ohnehin noch einen gut bei mir. Weißt du noch, was das letzte Mal passiert war? Du wärst fast gestorben. Du hast also noch ein paar mehr gut bei mir. Ein paar viel mehr."
„Ach das. Längst vergessene Sache."
„Für mich nicht. Du hättest tot sein können, Lieblingsnichte. Da war ich echt zu weit gegangen. Wie geht es dir? Was machst du hier?"
„Soll ich wieder gehen?", wende ich ein.
„Nein."
„Wie Ihr wünscht, Onkel König. Du weißt schon. Die Schneekönigin nervt", gehe ich nochmal auf seine Frage ein. Ich knabbere an meinem Finger.
Sven gebe ich seine Möhre. Neben ihm steht wie aus dem Nichts Olaf. „Und für dich habe ich eine Umarmung, Olaf."
„Oh ja!" Lächelnd lege ich meine Arme um den Schneemann. Dieser legt seine um mich. In dieser innigen Umarmung muss er niesen. Dabei schüttelt sich sein kleiner Körper. Die Nase fliegt dem verdutzten Rentier in den Mund. Liebevoll stopft er dem Schneemann die Nase wieder auf den rechten Platz.
„Wo ist dein Bruder?"
„Bei der Schneekönigin. Wo sonst?"
„Wo du Recht hast, hast du Recht. Aber ach, Gerda, lass sie doch. Wenn sie sich wirklich lieben, sollten sie wenigstens die Chance bekommen, zueinander zu finden. Ich weiß, du fühlst dich einsam, aber du wirst den Richtigen finden."
Meinen Kopf lege ich an seiner Schulter ab. „Hm, meinst du? Ja, vielleicht. Nur weißt du, was ich lustig finde? Ich darf nichts zu seiner Freundin sagen, doch - dafür könnte ich für wetten - wenn ich einen Freund finde, wird er am meckern sein."
„Wahrscheinlich. Geschwisterliebe halt. Und, meine Lieblingsnichte, zieh dich nicht runter. Du bist noch jung. Du bist hübsch und klug. Ich bin mir sicher, du wirst einen Freund finden. Und wenn nicht, dann sind die Jungs doof."
„Jungs sind doof", stimme ich ihm zu.
„So war das nicht... Egal. Als ich ein bisschen älter als du jetzt gerade warst, habe ich Anna kennengelernt. Vor mir war sie kurz davor, Hans zu heiraten. Es geht in der Liebe gediegen zu. Ich wollte zum Beispiel was mit einer Trollin anfangen. Wenn ich daran nur denke... Oh Mann. Glaub mir, die Liebe wird dich finden. Vielleicht bleibt sie nicht für ewig-"
„Wie bei dir und Anna", füge ich hinzu.
„...aber es ist nicht hoffnungslos. Bevor er dich jedoch heiraten darf, braucht er meine Erlaubnis."
„Und was ist mit Kay?", werfe ich ein.
„Wie? Was soll mit ihm sein?"
„Bräuchte er deine Erlaubnis denn nicht für eine Hochzeit mit Snowy?"
Seine Augenbraue hebt sich belustigt. „Snowy? Achso. Nein, braucht er nicht, denn du bist mein Liebling. Außerdem ist er älter", versucht er mich einzulullen. Er weiß genau, dass das bei mir nicht funktioniert. Okay, vielleicht ein winziges miniminikleines Bisschen. Bei dem Gedanken, dass Mille meine Schwägerin wird, schaudert es mir. Hauptsache, sie halten die Flitterwochen anderswo ab. Weitere Sexstellungen zu sehen, halten meine armen Augen nicht länger aus. Kris steht auf. Ich stehe ebenfalls auf und folge ihm mit vor der Brust verschränkten Armen. „Was ist?"
„Zwei. Jahre."
„Was heißt das?"
Ich werfe die Hände in die Luft. Olaf und Sven verfolgen unsere Konversation mit den Augen. „Zwei Jahre ist Kay älter als ich. Noch nicht Mal. Bloß ein bisschen mehr als ein Jahr."
Ich warte darauf, dass er etwas wie „Ist das dein Ernst?" sagt, so wie sonst auch, stattdessen hält er mir den Mund zu und deutet auf die Gestalt in der Mitte des Hofes. Wacker schlägt die Person sich durch die Schneemassen. „Wer ist das?", möchte ich erfahren.
„Hansch", gurgelt mein Onkel.
„Wer?"
„Hans", spricht er den Namen deutlich Hans. Kurz krame ich in meinem Gedächtnis. Prinz Hans von den südlichen Inseln? Oder welcher Hans? „Soll ich ihn angreifen?", biete ich meine Mithilfe an.
„Ja, mach. Und werfe ihn den Löwen zum Frass vor."
„Wir haben keine Löwen", kommentiere ich gewissenhaft.
„Dann überbringen wir ihn halt Simba als Geschenk von König zu König."
Ich nicke nur, um mich vorzubereiten. Dafür richte ich mein Kleid. Verdattert sieht mich Kristoff an. Tja, der wird gleich sein großes Wunder erleben. Genauso wie sein verhasster Feind Hans.
Mit einem freundlichen Lächeln und meiner Flechtfrisur, die nach Mille - die nebenbei gesagt, die Schneekönigin ist, die Kay hatte töten wollen - jeden Mann betört, begebe ich mich erhobenen Hauptes auf den mir fremden Mann zu. Nicht ganz fremd. Ich kenne seine Tricks, seine Maschen. Ich weiß, dass er für Macht meine Tante im Stich gelassen hat. Allein dafür möchte ich ihm gerne mächtig den Arsch versohlen. Verdient hätte er es. „Hallöchen, suchst du etwas?"
„Sie haben gefälligst anders mit mir zu sprechen!! Ein Prinz steht hier vor dir, jawohl!", wütet er los. Okay, okay. Kein netter Typ. Wie konnte mein Tantchen nur auf diesen Doofkopf reinfallen? Da war ja was. Er hat sie zu Anfang umgarnt. Außerdem wusste sie nicht, was es heißt, verliebt zu sein.
„Undskyld! - Verzeihung! Sucht Ihr jemanden, Eure Königliche Hoheit?", tue ich auf liebreizendes Weib. Der Höflichkeit halber mache ich sogar noch einen Knicks.
„Königin Anna." Das habe ich mir gedacht. Aber warum? Es wäre viel leichter, mit einem normalen Menschen zu reden, als mit solch einem trotteligen Königssohn.
„Wer seid Ihr? Ansonsten darf ich Euch leider nicht den Weg zu ihr weisen."
„Sieht man das nicht, du nutzloses Weib?", faucht er entrüstet. Stolz legt er sich die Hand auf die Brust. „Nun denn, ich bin Prinz Hans von den südlichen Inseln."
„Oh ah, das ist jetzt blöd."
„Was ist blöd?", erfragt er.
„Die Königin hat jedem hier gesagt, Prinz Hans darf nicht zu ihr. Eigentlich dürftet Ihr noch nicht Mal hier sein. Besser ich helfe Euch, den Weg zu Eurem Schiff zurückzufinden."
„Das ist Jahre her. Anna ist naiv, nicht nachtragend. Sagt wohin oder ich finde allein den Weg."
Ich setze meinen Lippenstift, den ich mir bereits aus Zwecken der Sicherheit zuvor aus meiner Tasche geholt habe, an die Lippen. Sobald der Königssohn seine Aufmerksamkeit auf das Schloss legt, nutze ich meine Chance: Ich drücke auf den versteckten Knopf an dem Lippenstift und dieser wird schnell größer zu einem Schwert, einer der besten Waffe, die ich je in den Händen halten durfte. Der Prinz erschrickt. „Wa-?"
„Hau lieber ab, bevor ich dir hiermit die Kehle aufschlitze!"
Der Trottel nimmt seine Füße in die Hand und läuft davon, doch er kommt nicht weit, denn er hat den vielen Schnee vergessen und verliert das Gleichgewicht. Mit meinem Schwert stürze ich auf ihn. Das Kämpfen mit dem Schwert haben Kris und ich von Arthur gelernt. Dieser hatte sich netterweise Zeit für uns genommen. Dank uns gibt er jetzt Kurse im Schwertkampf, im Bogenschießen und noch anderen Techniken. Hans schreit. „Frieden, Frieden, ich komme in Frieden! Bitte!", beteuert er.
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