Kapitel 9

Eben habe ich Valerya über WhatsApp drum gebeten, mich unter der Statue von Schneewittchen und ihrem Felix zu treffen. Seitdem hatte ich nicht mehr auf das Handy geguckt. Ihre Antwort darauf hatte ich gar nicht gelesen. Ich wartete einfach hier auf sie, in der Hoffnung, dass sie kommt. Wenn sie jedoch nicht kommt, muss ich mich schleunigst auf den Weg machen. Heute ist der erste Tag an der Akademie. Den möchte ich auf gar keinen Fall verpassen. Was ich vorher mit Val vorhabe? Um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst nicht genau. Vielleicht möchte ich den Kuss wiederholen, um Gewissheit, ob da was zwischen uns ist oder halt nicht, zu haben. Vielleicht... Ach keine Ahnung, warum ich das getan habe. Wahrscheinlich war es dumm. Was ist, wenn ich sie damit noch mehr kränke statt das Gegenteil zu bewirken? Absichtlich habe ich meiner Familie nichts davon erzählt. Seit gestern, als ich erst spät abends nach Hause kehrte, haben wir nicht mehr richtig geredet. Das ist das Gute bei meiner Familie. Sie verstehen mich halbwegs und wissen, wenn ich mich einmal abschotte von allem, dann brauche ich wirklich meine volle Ruhe. Zuletzt, als sie nicht verstanden haben, dass ich jene Ruhe benötige, war vor etwa zehn Jahren, als mein Vater starb. Ich war gerade acht Jahre alt, da starb er bei uns zu Hause. Wir sind umgezogen. Zu viele traurige Erinnerungen waren es.
Ich schaue auf meine Uhr. Bald muss ich los. Länger als fünf Minuten kann ich ihr nicht mehr geben. Von links nach rechts suche ich den Platz ab. Keine Spur von ihr. Besser ich gehe jetzt. Bestimmt wird sie gar nicht kommen, aber wenn ich jetzt gehe und sie genau in dem Augenblick kommt, ist es wie in einem schlechten Liebesfilm und wir verpassen uns, nur um uns Jahre später wiederzusehen. Andererseits wäre das sogar besser. So haben wir eine Chance. Oder auch nicht.
Wieder lasse ich meinen Blick durch die Gegend schweifen. Noch in weiterer Ferne streitet sich eine Gruppe von rothaarigen Menschen in Schottenröcken auf Englisch. Fast bin ich überlegt, ihnen meine Hilfe anzubieten.
Der nächste Blick auf die Uhr. Ich sollte, nein, ich muss gehen, bevor ich zu spät komme. "Jay, hier bin ich!!!", ruft sie laut über den Platz.
Ich schaue auf. Da ist sie oder besser da läuft sie. Val legt noch einen Zahn zu. Dann steht sie vor mir. Nicht wie die Male zuvor sieht sie mich direkt an. Ihr Blick ist stattdessen fest auf die Schotten gerichtet, die sich uns nähern, wohl wegen der Statue. Ich fühle mich mies. Das ist meine Schuld, ich habe sie verletzt. "Was da gestern passiert ist, tut mir leid...", fange ich an.
"Hör bitte auf, dich andauernd für irgendwas zu entschuldigen. Sag, was du wolltest, weshalb ich herkommen sollte. Du weißt, ich wohne nicht hier. Bedeutet, ich möchte, dass du auf den Punkt kommst, warum ich herkommen sollte, weil ich nur wegen dir hier bin", erläutert sie. Ihre Worte klingen beinahe abfällig. Ein noch schlechteres Gewissen plagt mich. Das hätte alles anders laufen können.
"Okay... Val, ich mag dich, aber ich weiß nicht auf welche Art und deswegen dachte ich... dachte ich, wir versuchen das mit dem Kuss nochmal. Ich habe noch nie jemanden geküsst und ich denke, das ist das Problem von gestern..."
"Einverstanden."
Waren meine Worte die richtige Entscheidung? War es richtig, auf einen erneuten Kuss hinauszuarbeiten? Oder hätte ich es einfach dabei belassen sollen? "Ich denke, wir könnten es Jahre später bereuen, es nicht nochmal versucht zu haben und somit vielleicht unser Happy-End aufs Spiel gesetzt zu haben... Das können wir dann nicht mehr ändern und..."
"Jay, ich bin einverstanden", unterbricht sie meinen Redeschwall.
"Gut, ich... Willst du oder soll ich?", meine Stimme zittert vor Aufregung. War es richtig? Oder falsch? Sind da unentdeckte Gefühle zwischen uns? Oder nicht? Oh Mann, ich halte das nicht mehr aus. Aus diesem Grund ziehe ich Val näher an mich und küsse sie - auf den Mund. Die Schotten pfeifen anerkennend. Ich fühle tief in mich hinein. Noch tiefer... Nichts. Nichts und wieder nichts. Außer freundschaftlichen Gefühlen ist da nichts. Null, Nada... Schade. Sie ist ein toller Mensch. Ob sie diese Abfuhr erneut verkraftet? Bei dem Gedanken wird mir jetzt schon schlecht. Was ich hasse, ist es, Menschen in meiner Umgebung zu verletzen. Aber soll ich eine Lüge leben, die irgendwann sowieso ans Licht kommt und noch verletzender ist? Nein. Lügen ist schlimm, Lügen über seine Gefühle zu verbreiten ist hingegen noch schlimmer.
Als sie den Kuss von sich aus beendet, sehe ich sie lange Zeit nur an, versuche etwas in ihrer Mimik zu lesen, zu erkennen. Ungeduldig und unsicher kratze ich mit dem Zeigefinger über einen Hautfetzen am Daumen. "Jay?"
"Hm?"
Stille. Keiner sagt etwas. Dabei ist es nicht diese angenehme Stille zwischen zwei Menschen, die auf dem besten Wege sind, sich ineinander zu verlieben. Im Gegenteil. Es ist komplett anders. Ich möchte nur noch weg, doch ich bleibe. Lange Zeit sehe ich sie weiterhin nur an. Auch sie spielt unsicher an ihrem Armband. "Valerya?"
"Hm?"
"Hast du etwas gespürt? War das für dich das Happy-End? Bitte sei ehrlich."
"Sofern die Ehrlichkeit auch von deiner Seite her kommen wird. Nein, ich habe nichts gespürt, so leid es mir tut. Gestern war ich so traurig und war mir sicher, dass ich heute nicht kommen würde, aber dann ist es mir klargeworden. Wir hatten das tun müssen, du hast Recht. Aber nein, ich stehe nicht auf dich, sorry", gesteht sie und ihren Augen sehe ich die Wahrheit an. Erleichtert atme ich auf. "Du bist eine tolle Frau, Valerya Marie. Du hast einen Wunsch, für den es sich zu kämpfen lohnt und ich wäre gerne ein Freund für dich, der dich unterstützt, wenn du seine Hilfe erwünschst. Ich hoffe, wir bleiben Freunde und gehen nicht einfach getrennte Wege", sage ich und nehme ihre Hand.
"Das wäre schön, Jornandes alias Jay. Ich wäre gerne auch eine Freundin für dich und ich hoffe, du findest dein Glück anderswo", mit einem Küsschen auf die Wange verabschiedet sie sich von mir. "Wir sehen uns. Bis bald, mein Freund."
"Bis bald", damit mache ich mich mit eiligen Schritten auf zur Akademie.

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