Kapitel 7 - Hunter

Ein Lied nach dem anderen dudelt aus den Lautsprechern. Wir schwingen die Hüften zur Musik. Zur späteren Stunde lädt Peter mich und Jay ins Haus ein. Die anderen dürfen natürlich ebenfalls mit, aber sie entscheiden, draußen zu bleiben. Connor hatte sich ohnehin gegen die Wohngemeinschaft entschieden. Er möchte die Zeit mit seiner Schwester genießen. Mein schlechtes Gewissen Heidi gegenüber hat mich eingeholt. Ja, Conni liebt Ylvie und möchte die verlorene Zeit wieder wettmachen, aber hat er denn gar kein Mitgefühl für seine Halbschwester? Trotzdem habe ich die Klappe gehalten.
Peter zeigt uns die einzelnen Zimmer. Von dem Eingang aus geht es in die Küche mit dem angrenzenden Esszimmer, von da aus ins Wohnzimmer. Vom Wohnzimmer geht es dann in das Büro von Heidi. Zum Schluss folgen das Badezimmer und die Schlafzimmer. Bisher wurden uns nur zwei Schlafräume gezeigt. Ich hoffe ja noch auf einen dritten. Aus Angst vor der Wahrheit, dass es keinen weiteren Raum mehr gibt, halte ich die Klappe. Doch Jay stellt die alles entscheidende Frage: „Ich will nicht undankbar sein, aber gibt es keine drei Schlafzimmer?"
„Das ist der Haken. Es gibt keinen weiteren Raum mehr. Ihr müsstet euch den Raum teilen. Daher schlage ich zwei Einzelbetten vor."
„Jaha, was denn sonst? Ein Ehebett für Jayjay und mich oder wie? Kommt nicht in die Tüte. Vergiss es."
„Und wenn schon. Früher habt ihr euch andauernd ein Bett geteilt. Ist das heute denn so anders?"
Ich will einen Blick mit Jay tauschen, aber der guckt stur geradeaus. Was hat der denn? Bekam ihm das bisschen Alkohol nicht gut? Also bitte, das wäre armselig, so wenig wie er getrunken hatte. Hatte er den Becher überhaupt leer gesoffen?
„Klar. Würdest du mit Lennox in demselben Bett schlafen? Nox ist ein schlechtes Beispiel. Nehmen wir Connor. Connor. Stell dir vor, du wärst das hier", ich deute auf uns beide. „Würdest du mit dem Wolf in einem Bett liegen?"
„Nein, ich habe aber auch eine Freundin."
„Dein Ernst?"
„Nein, wir besorgen euch günstige Betten und dann könnt ihr einziehen, wenn ihr alles geklärt habt."
Mit meiner Hand halte ich die beiden auf Abstand. Unterdessen lass ich das Telefon meiner Mutter klingeln. „Anja am Apparat. Hunter, bist du das?"
„Ja, bin ich. Du wolltest mich doch so dringend loswerden. Ich habe nette Leute gefunden, die eine WG mit mir gründen wollen. Weißt du, was das ist?"
„Hör auf, Hun. Ich liebe dich. Das alles habe ich nur für dich getan. Alles, was ich tue, tue ich noch für dich. Bitte lass das nicht zwischen uns stehen. Du bleibst bei mir."
„Wieso sollte ich? Du hast Stefan neulich selbst gesagt, wie sehr du dich freust, mich loszusein."
„Das ist nicht wahr! Du hast das falsch verstanden. Hunter, bitte. Komm nach Hause. Lass uns das nicht über dieses Ding klären, ja?"
„Das Ding ist ein Handy. H-a-n-d-y. Wie oft noch? Und nein, ich komme nicht zurück. Du kannst mir nicht mal zuhören. Meine WG besteht aus Heidi und Peter und vielleicht Jay. Erinnerst du dich noch oder hast du das auch vergessen?"
Meine Mutter unterdrückt ein Schluchzen. Es juckt mich nicht. Es juckt mich... nicht. „Peter, Heidi und Jay. Wie schön. Eine WG sagt du? Ich freue mich für dich, dass du deine alten Freunde gefunden hast. Das wird dir bestimmt guttun für deine Ausbildung. Ich bitte dich nur, vorher noch nach Hause zu kommen."
„Darf ich?"
„Ja, darfst du, mein Sohn."
„Heute komme ich nicht nach Haus. Bin bei Peter, mach dir keine Sorgen. Bis irgendwann."
„Bis bald, ich habe dich lieb." Leider konnte ich nicht schnell genug auflegen, sodass sie diese Worte noch sagen konnte. Warum ich so abfällig geworden bin? Hat die Frau, die mich rausgepresst hat, selbst Schuld. Sie war es, die mich belogen und betrogen hat. Alle haben das. Mein angeblicher Vater. Alle. Wütend fixiere ich das bescheuerte Smartphone. Meine Freunde beobachten mich. „Ist alles gut bei deiner Familie?", fragt Jay vorsichtig, einfühlsam.
Innerlich verdrehe ich die Augen. Er meint es nur gut. Er meint es nur gut... „Es ist nicht mehr meine Familie. Kann ich heute schon hier schlafen?"
„Willst du darüber reden?", bietet er an.
„Sehe ich so aus?!", schnauze ich und meine Freunde zucken zusammen. Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte nur... ach keine Ahnung, was ich wollte. Alkohol. Dringend benötige ich den guten alten Alk. Der wird mir helfen, über das Telefonat hinwegzukommen. „Kann ich?"
„Ja klar, Kumpel. Brauchst du eine Zahnbürste oder so?"
„Nur ein Bett, mehr nicht."
„Das kriegen wir hin" Ich nicke. Besser wäre es.
Arm in Arm, so als wäre rein gar nichts vorgefallen, gehen wir raus in den Garten zu den anderen. Jay folgt uns mit einigem Abstand. Ich spüre seine Blicke auf mir. Er macht sich Sorgen um mich. Wie soll ich das nur durchhalten, wenn wir in einem Zimmer hausen? Besser ich vergraule ihn schleunigst. Damit würde ich die wieder gewonnene Freundschaft jedoch nicht stärken, nur ruinieren, besser ich lasse es also.
„Auf unser neues Zuhause!" Erneut stoßen wir an. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Je mehr Alk, desto besser das Vergessen. Bei Jays Grimasse muss ich lachen und trinke noch einen Schluck. Jay ist mutig, trinkt das ihm verhasste Getränk in einem Schluck aus. Vielleicht behalte ich ihn lieber im Auge. Nicht, dass er jemanden vor die Füße kotzt oder umkippt. Lennox' Augen leuchten gefährlich auf und ich ahne, was er vorhat. „Wahrheit oder Pflicht!"
Warum lassen wir uns eigentlich immer wieder darauf ein? Weil wir keine jämmerlichen Schisser sind. „Aber kein Küssen oder Rummachen oder anderes unter der Gürtellinie", meint unsere vermutlich einzige Jungfrau, ohne erhört zu werden. Ich werde bestimmt keinen Finger krümmen, um seine Worte vor dem Rest zu wiederholen. Er sollte für ein Leben als Polizist mehr Selbstbewusstsein erlangen. Dafür werde ich ihm so nur behilflich sein. Sons darf er noch nicht mal polizeiliche Büroarbeiten machen. „Adelheid. Wahrheit oder Pflicht?"
Heidi versucht die Prinzessin mit ihren Blicken zu erdolchen. Wir tun es ihr gleich. Conni hätte sie niemals mitbringen dürfen. Vor allem nicht bei unserem ersten gemeinsamen Treffen nach Jahren. Nox ist schon schlimm genug, aber die Zicke ist am beschissensten. Ich meine, Nox gehörte irgendwann mal dazu, aber er war und ist doof. „Wahrheit."
„Langweilerin. Na egal. Liebst du Peter wirklich oder schlägt dein kleines Herz immer noch für - wie war sein Name? - Jay?"
Jay und Heid prusten gleichzeitig los, dann lachen sie. „Bist du irre? Lass es sein, Liora, mit deiner Art erniedrigst du uns nicht.  Jetzt bin ich dran. Prinzessin, was wählt Ihr?"
Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Unsere Heidi spielt ihre Rolle hervorragend überzeugend. Die Prinzessin atmet zischelnd ein. „Wahrheit."
„Wie stehst du zu deinem Bruder? Hass oder Liebe?" Ihre Frage ist erstaunlich höflich. Wie kann sie so ruhig bleiben? Ich wäre der Prinzessin an die Kehle gesprungen. Blöde Kuh. Jay und Heidi. Unmögliches Bild. Da waren schon immer Heidi und Peter.
„Liebe?"
So gehen die Runden weiter. Hier ein paar neckende Fragen, da ein paar fiese Aufgaben. Damit es ja nicht langweilig wird, teilt der Gastgeber Alkohol aus. Wenn unsere Becher leer sind, schenkt er nach. Es bleibt nicht nur beim Bier. Es kommen noch Liköre und Gemische und anderes gutes Zeug dazu. Gerade schaue ich mal wieder zu Jay. Ich habe mir gedanklich geschworen, auf ihn aufzupassen. Dieses Versprechen breche ich nicht. Kodex und so. Ihm geht es gut. Langsam fährt er aus seiner Haut heraus, wird mutiger, trinkt eifrig mit.
Nox ist an der Reihe. Er schaut sich der Reihe nach seine Gegner an, obwohl wir das gar nicht sind, aber er ist der Nimmerlandjunge, für jeden Spaß, für jede Ärgerei zu haben. Sein Blick bleibt selbstredend an mir hängen. „Hunter, Wahrheit-"
Ich unterbreche ihn. „Pflicht, sollte dir allmählich klar sein."
„Küss Jay auf den Mund", fordert Pans Sohn.
„Denkst du nicht, diese Pflicht ist veraltet?", erwidere ich ruhig.
„Oh, ich habe gehofft, du würdest das sagen. Nein, nicht veraltet. Letztes Mal musste Jay dich küssen. Diesmal bist du an der Reihe. Etwa Angst, Jäger?"
„Niemals."
Ich drehe mich zu Jay. Dieser ist ganz grün im Gesicht und steht übereilt auf. Ich sehe ihn würgen. Autsch, das trifft mich hart. War unser letzter Kuss derart eklig? Mit sorgenvoller Miene folge ich ihm. Der Junge verlässt den Garten. Die anderen stehen besorgt auf, selbst Liora hat den Anstand, aufzustehen. „Ich komme wieder, bis gleich. Bringe ihn nur eben nach Hause", damit sprinte ich dem jungen Mann hinterher. „He, warte, Jayjay."
Unbeirrt geht er weiter. Dann übergibt er sich neben den nächsten Briefkasten. Ohoh, das wird mächtig Ärger geben. Der Briefkasten gehört nämlich Carl Fredericksen, einem mürrischen alten Mann, der den Briefkasten mit seiner verstorbenen Frau gestaltet hat.
Das ist meine Chance. Die letzten Meter Abstand zwischen uns verringere ich, bis ich direkt hinter der Blondine stehe - Alter Verwalter, er hat in den letzten Jahren laufen gelernt -  und auf seinen Hinterkopf gucken kann. Ich setze mich auf Augenhöhe von ihm hin. „He, alles klar, Jayjay?"
Ermüdet stützt er sich am Postkastenpfahl ab. Was weiß ich, wie man das sonst nennen mag. „Denkst du, die Person wird nicht sehr böse über die Kotze sein? Morgen mache ich es ganz bestimmt weg."
Morgen wirst du dich nicht mehr daran erinnern können. „Nein, das ist ein netter Mensch", lüge ich. Carl wird nichts davon erfahren. Sobald ich Jay zu Hause abgeliefert habe, werde ich das Umfeld des Briefkasten gutesgehend reinigen. Erstmal aber heißt es, ihn nach Hause zu bringen. Seine Konzentration ist wieder auf den armen Postkasten gerichtet. Auf einmal kippt er, Jay, nicht der Briefkasten, zur Seite. Ich kann ihn noch schnell genug auffangen, bevor sein Kopf auf dem Boden aufprallt. Na super. Ich nehme meinen alten Kumpel auf meinen Arm und trage ihn in die Richtung seines Familienhauses. Zwischendurch ertönt ein Schnarchen und ich muss an Peters Worte denken. Er hat recht und wo er recht hat, hat er recht. Jedenfalls, es stimmt, Jay und ich konnten früher ebenso zusammen in einem Bett liegen. Damals haben wir bis spät in die Nacht geredet über Gott und die Welt. Aber das ist Vergangenheit. Wir sind erwachsen.

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