Kapitel 44

Das Taxi hält an. Wir steigen aus und Hunter geht zu dem Haus seiner Eltern, beziehungsweise dem Haus seiner Mutter und seines Stiefvaters, nur dass ich bis vor kurzem noch dachte, Jäger Stefan wäre sein richtiger Vater, nicht sein Stiefvater. Ich folge ihm, dadurch sehe ich, wie seine Hand zittert, als er sie nach der Klingel ausstreckt. Um ihm zu helfen, das durchzustehen, nehme ich seine Hand in meine. Beruhigend streichel ich mit meinem Finger über seinen Handrücken. Er zieht die Hand weg, was mir einen Stich im Herzen verpasst. Nicht, weil er gerade meine Hilfe nicht möchte, sondern eher, weil er sich selbst aufgibt, seinen Lebensmut verliert. Er starrt auf sein Handy, welches er gerade aus seiner Tasche gekramt hat. „Ah mein Vater hat mir geschrieben, dass er gut gelandet ist und mich vermisst. Er möchte mich sehen. Als Vorschlag für ein Treffen hat er geschrieben, dass Little John, auch bekannt als Björn, mit seiner Frau Goldie eine Party schmeißt. Wieso denkt er, ich will mich mit ihm treffen?"
Erst will ich ihn fragen, welcher Vater, dann, als er etwas über Little John sagt, weiß ich, wer gemeint ist. Robin Hood - sein Erzeuger. Ich versuche nochmal ihm irgendwie beizustehen, indem ich meine Hand auf seine Schulter lege. „Du musst nichts tun, was du nicht willst, Hunter."
„Hier", sagt er und reicht mir sein Handy. „Dieser Wichser lässt mich einfach nicht in Ruhe, egal in welcher Welt ich mich aufhalte."
Ich sehe mir die Nachrichten an, die Robin Hood ihm geschrieben hat. Die meisten lauten „Hallo, Sohn." oder „Gute Naht." oder aber „Ich habe dich lieb.". Andere sind aber auch Geburtstagswünsche oder Ideen für ein Treffen. Eine ist jedoch dabei, die mir einen kalten Schauer über den Nacken beschert. „Hast du noch Schule? Habe dich gerade gesehen." Kommt mir leicht stalkerhaft vor. Das ändert so ziemlich das Bild für mich von diesem Helden vom Sherwood Forest. Na ein Glück, dass sein Halbbruder anders ist. Zumindest hoffe ich das. „Darf ich fragen, warum du dich damit gerade noch weiter runterziehst und nicht stattdessen durch diese Tür gehst?", ich zeige auf die Haustür vor uns, die uns wie eine Mauer von seiner Familie trennt. Gerade jetzt könnte es zusätzlich die Mauer sein, die er in seinem Kopf errichtet hat.
„Da war ja was. Du wolltest zu deiner Familie gehen."
„Ich will nicht zu meiner Familie gehen. Also doch schon, aber erst, wenn ich mir sicher sein kann, dass du zu deiner Mutter gehst und mit ihr redest und es dir gutgeht."
„Mir geht es gut", wiegelt er natürlich ab. War zu erwarten.
„Hunter, ich kenne dich fast mein ganzes Leben. Ich weiß, dass es dir nicht gutgeht und ich werde nicht gehen, solange du das nicht in den Griff bekommst." Bei diesen Worten schiebe ich mir aus zu großer Unsicherheit ein paar mal zu viel die Brille auf die Nase.
„Was ist denn mit dir los, kleines Reh?" Verdattert blinzelt der Jäger mit den Augen.
Ich lächel. „Du bist passiert. Außerdem ist mir Familie wichtig, genauso wie dir. Du brauchst gar nicht so zu tun. Ich weiß, dass du deine Mutter vermisst hast."
Das überzeugt ihn. Ohne mit der Wimper zu Zucken klopft er an die Tür. „Weißt du, es ist echt verblüffend ironisch, dass ich der Sohn von zwei Helden bin - meiner Mutter Dorothy aus Oz, die ebenso als Heldin galt und meinem Vater aus dem Sherwood Forest. Wahrlich, welch Ironie."
„Deine Mutter ist Dorothy?"
„Soweit ich weiß, ja. Außer da hat sich was geändert. Meine Mutter heißt genau genommen Dorothy Anja Gale. Den Namen Anja hat sie angenommen, um meine Sicherheit zu gewährleisten oder so."
Im selben Moment öffnet sich jene Tür und Anja, Hunters Mutter, fällt ihrem Sohn in die Arme. Anja hat braune Locken, die ihr bis kurz über den Bauch reichen. Sie küsst ihn ab und ich kann mir förmlich vorstellen, wie er angewidert das Gesicht verzieht, aber insgeheim eigentlich nur eins ist: glücklich. Als sie sich schließlich von ihm löst, strahlt sie diese mütterliche Liebe aus. Irgendwann erfassen ihre grünen Augen mich. Freundlich lächel ich und reiche ihr die Hand. „Hallo, Frau Huntsman."
„Jay, oh mein lieber Junge! Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?"
Sie bittet uns beide ins Haus und wir folgen ihrer Bitte. An ihrer Schürze klebt Blut. Wahrscheinlich kam Stefan gerade von der Jagd zurück. „Stefan, komm her und sieh, wer zurückgekommen ist!"
Man hört ein Poltern, dann sieht man, wie er aus der Küche in den Flur tritt. Er geht langsam, bis seine Augen aufleuchten und er schnellen Schrittes auf uns zukommt. „Hunter, mein Sohn! Es tut mir alles so, so leid. Alles, was ich dir angetan hab. Es war dir ungerecht gegenüber. Nur als ich erfahren habe, dass du... nicht mein Sohn bist, war ich... überfordert. Heillos überfordert. Du hättest da niemals drunter leiden dürfen. Das hätte nicht passieren dürfen. Es tut mir so schrecklich leid. Kannst du mir jemals verzeihen?"
Mein Freund setzt sich auf einen Stuhl, während er den Worten seines Stiefvaters folgt. „Wieso hast du dann nicht Mum im Stich gelassen?"
„Weil ich sie geliebt habe."
„Und mich nicht?", stochert er in den Wunden der Vergangenheit.
Sein Vater schaut gedemütigt drein. „Doch, natürlich habe ich dich geliebt. Und das werde ich immer tun. Ich habe dich großgezogen und für mich warst du immer mein Sohn. Deswegen tut es mir umso mehr leid. Ich weiß nicht, wie ich das entschuldigen kann und wahrscheinlich ist das überhaupt viel zu spät, aber ich hoffe, du gibst mir noch eine Chance. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war ein Mann, der sein ganzes Leben der Jagd sowie an oberster Priorität seiner Familie gewidmet hat. Dann warst du plötzlich nicht mehr mein Sohn und...", weint Jäger Stefan. Ich wusste es. Ich wusste, dass er seinen Sohn liebt. Früher, wenn ich zu Besuch hier war, habe ich Hunter immer um seinen Vater beneidet. Das war in der Zeit, als meiner verstorben war. Irgendwann wurden die Treffen hier im Hause Huntsman jedoch weniger. Jetzt weiß ich wenigstens, woran die seltenen Treffen gelegen haben. An dem Geheimnis, was an die Oberfläche kam. Dass Hunter nicht Stefan, sondern Robins Sohn ist. Doch Familie bedeutet nicht nur Blutsverwandtschaft. Es bedeutet, mit den Menschen zusammen sein, die man inständig liebt. Selbst wenn meine Schwestern nicht meine Schwestern wären, würde ich sie lieben. Sie wären immer noch meine Familie. Andersherum kann man jedoch ebenso Blutsverwandte haben, die für einen nicht als Familie zählen, wie mein Großvater zum Beispiel. Wäre ich Hunter, der seinen Vater stets bewundert hatte, würde ich ihm endlich und endgültig verzeihen.
„Papa, lass gut sein. Ich verzeihe dir. Unter einer Bedingung."
Stefan, der vor Scham sowie Schuldgefühlen auf die Knie gegangen ist, schaut nach oben. „Alles. Alles, was du willst."
„Dass wir wieder alle eine Familie werden."
Anja hält sich die Hände vors Gesicht, doch jeder in dem Raum bemerkt die Freudentränen, die über ihre Wangen kullern. Die drei fallen sich in die Arme und ich muss mich anstrengen, nicht loszuheulen. Ein Moment wie in einem Märchen. Unvergesslich, dramatisch und wunderschön und manchmal leider auch zerbrechlich. Okay, Ja, vielleicht haben meine Schwestern mich erzogen mit ihren Liebesfilmen, ihrem Barbie und Disney-Wahn. Gut möglich, dass sie ebenfalls die Erziehung meiner Mutter übernommen haben. Daher betrachte ich die Szene mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Hunters Mutter winkt mir zu. „Komm her", wispert sie in die angenehme Stille hinein.
Ich schüttel den Kopf. Das ist ihre Familie, da will ich nicht dazwischen funken, doch sie lässt nicht locker und zieht mich kurzerhand mit ihrer einen Hand in ihre Mitte. Als ich die Augen öffne, habe ich des Jägers braune Augen direkt vor mir. Ich lasse meinen Kopf auf seiner Brust ruhen. Lausche seinem Herzschlag. Fühle das Adrenalin langsam schwinden. Pongos Füße ertönen auf dem Boden. Kurze Zeit später spüre ich seine haarige Stirn an meiner Hand.

❄️

Nun stehen wir schon zum dritten Mal vor einer symbolischen Tür. Trommelwirbel... vor der Tür meiner Familie. Anja hatte mir gesagt, ich solle unbedingt zu meiner Familie gehen und ihnen sagen, dass es mir gutgeht. Zwar hatte ich das vor, aber das hatte ich ihr nicht gesagt. Nachdem Hunter seiner Familie versichert hat, dass er spätestens am Wochenende zu Besuch käme, sind wir zu meiner aufgebrochen. Sobald ich die Klingel betätigt habe, poltert es in unserem Haus, bis die Tür aufgerissen wird und Walda vor mir steht. „Mama, die Polizei ist da. Bestimmt sagen sie uns eh wieder, dass sie Jayjay nicht finden können", ruft meine Schwester ins Haus hinein.
Die vertrauten Stimmen haben mir so sehr gefehlt. Ich drücke sie an mich. Sie quietscht auf. „Oh Gott, Jayjay, du bist es! Ich dachte, du wärst ein Polizist, was du ja auch bist..."
„Noch nicht", erinnere ich sie grinsend. Ich nehme sie nochmal in den Arm und nochmal. „Du hast mir gefehlt."
„Du mir auch, großer Bruder."
Hinter Walda stehen bereits Mama, Trude und Hilde. „Jayjay!!!", freuen sie sich wie aus einem Munde. Sie ziehen mich ins Haus. Meine ältere Schwester wuschelt mir durch mein Haar. „Kleiner Bruder."
Meine Mutter drückt mich fest an ihre Brust, Hilde hingegen klammert sich von hinten an mich. In Hunters Richtung zucke ich mit den Achseln. Dieser grinst nur schief, bis Trude ihn mit ins Haus zieht und die Tür zusperrt. Pongo läuft freudig um die Frauen herum, sammelt hier und dort einige Streicheleinheiten. Als meine Mutter mich loslässt, falle ich wegen meiner kleinen Schwester auf den Boden. Wir lachen und ich nehme sie ebenfalls nochmal in den Arm. Pongo nutzt die Chance, dass ich auf seiner Höhe bin und schleckt mich im Gesicht ab. Ich versuche mich zum wehren. Meine Schwester kichert.
Mittlerweile überhäuft Trude meinen Freund mit lauter Fragen darüber, wo wir waren, was wir gemacht haben, wie wir ihnen sowas antun konnten. Hunter hebt beschwichtigend die Hände. „Wir wurden von einer Hexe..."
Trude sieht fassungslos in die Runde. Die Geschichte hätte sie wohl nicht erwartet. „Tischt uns keine Lügen auf, das glaube ich euch nicht."
„Wo ist die Hexe? Ich bring sie um!!", brettert meine kleinste Schwester mit knackenden Fäusten. Manchmal habe ich echt Angst vor diesem Dreier oder Vierer-Gespann - je nachdem, ob man meine Mutter dazuzählt. Ungerührt erzählt der Jäger die Geschichte weiter, nur bei demTeil mit Cruella hört er kurz auf zu erzählen, um mir die Chance zu geben, die Frage zu stellen. Sollte ich? Hunter hat es geschafft, mit seiner Familie Frieden zu schließen, dann sollte ich es doch wohl auf die Reihe bekommen, meine Mutter nach meinem Vater zu fragen. Genau das mache ich, sobald mein Freund mit der Geschichte geendet hat. „Mama, vielleicht ein unpassender Moment, aber ich bin in der Schneewelt auf Cruella getroffen... und e-es heißt, Papa und sie hatten eine Affäre. Ist das wahr?"
Meine Mutter schwächelt bei meiner Frage. Hunter fängt sie auf und setzt sie auf die Couch. Meine Schwestern laufen auf sie zu. Sie starren mich aus einer Mischung aus Angst und Schock an. Mist, ich hätte es nur unter vier Augen meiner Mutter gegenüber ansprechen sollen. Vielleicht weiß sie gar nichts darüber. Jetzt habe ich alle aufgewirbelt und meiner Familie ein schreckliches Bild über unseren Vater aufgetischt. Dabei war das gar nicht mein Ziel. Vater, es tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich werde es regeln. Mir läuft eine Träne übers Gesicht. Ich sehe hoch. Da sehe ich den Geist meines Vaters. „Geliebter Sohn, ich bin dir nicht böse. Irgendwann musste es ans Licht kommen. Ich danke dir, dass du mir meine Liebe zu Cruella verzeihst. Aber warum ich eigentlich hier bin, liegt daran, weil ich dir sagen möchte, dass ich dich liebe. Du bist der beste Sohn, den ein Vater sich nur wünschen kann. Und höre gut auf meine Worte, ja? Ich bin immer noch für dich da." Weitere Tränen bannen sich ihren Weg über meine Wangen. „Ich habe dich lieb, Papa. Das wollte ich dir schon immer noch einmal sagen können", schluchze ich.
„Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Richte deinen Schwestern und deiner Mutter bitte aus, dass ich sie liebe und bleib stets gütig. Und wenn es soweit ist, hat Hunter meine Erlaubnis."
„Deine Erlaubnis wofür?"

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