Kapitel 39

Vor einer Woche waren wir bei Immy Häkelchen. Sie hatte eine ziemlich moderne Wohnung. Es gab sogar einen Fernseher, den wir ihr erstmal erklären mussten und der zum Anderen auch noch versteckt war, damit keiner der ahnungslosen Besucher neidisch wurde, denn einen TV hatte sie nur durch Ju und seine Reise in ferne Welten bekommen. Auch eine versteckte Heizung war in ihrem Besitz. Allem in allem war ihre Wohnung nicht nur heimlich eingerichtet, man fühlte sich wohl und von außen war es mitunter eines der schönsten Häuser hier in der Gegend. Auf den Türen waren wieder kleine Zeichnungen von Rentieren, Süßigkeiten oder oder. Ein bisschen wie bei der Eiskönigin, die ich mir ständig mit meiner Schwester Hilde ansehen musste, als sie noch jünger war. Sobald sie den TV halbwegs verstanden hatte, ließ sie wahlloses Programm laufen, während sie uns Essen auf den Tisch stellte. Im Fernsehen wurden auf einmal die zwei Freunde Jay und Hunter als vermisst erklärt. Mit der Bitte, Bescheid zu geben, sofern man etwas von ihnen hören sollte. In dem Moment waren wir völlig verwirrt. Warum waren wir Freunde? Und vor allem seit wann? Ja, die Rede war definitiv von uns gewesen, denn die Ausstrahlung war aus unserem Wald. Hunter meinte, er hatte schon länger die Vermutung, dass wir uns kennen und dass unser Gedächtnis vielleicht ausgelöscht wurde. Verrückt und gruselig, aber auf alle Fälle eine nachvollziehbare Vermutung seinerseits. Danach, als wir aus Verwirrung immer öfter in die Plätzchenschale gegriffen hatten, waren wir noch bis zum Abendessen geblieben. Wir hatten Immy erzählt, dass ich ein Junge bin und woher wir genau kommen. Daraufhin sagte sie zu unserer Überraschung, dass sie es sich bereits fast gedacht hatte. Wir waren erst ziemlich geschockt über ihre Aussage, haben dann aber nur gelacht. Am Ende hatte sie uns noch den Tipp auf den Weg gegeben, wo wir anfangen könnten zu arbeiten. Mit einem großen ausgedehnten Danke und vollen Bäuchen sind wir schließlich nach Hause. Ach nein, erst waren wir noch bei Carlos vorbei, weil Hunter ihn nach einem Job als Kellner anhauen wollte. Carlos De Vil stellte ihn mit Vergnügen ein. Ich war abgeneigt, bis er uns erzählte, dass sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Was das war, fragt ihr euch? Tja, das wüsstet ihr wohl gern. Spaß beiseite. Er hatte sich gewünscht, dass seine Schwester einen Neuanfang bekäme. Irgendwie hat es unser Weihnachtsmann geschafft, diesenWunsch zu erfüllen. Cruella darf ihre Kindheit nochmal erleben, damit sie nicht mehr so gehässig ist. Auf Anfrage hat mir Carlos noch gesagt gehabt, was genau damals passiert ist: „Es war ein bisschen wie Romeo und Julia. Die De Vils und die Dearlys waren die reichsten in der Stadt. Deine Familie gelangte durch die Dressur und die Zucht von stolzen Dalmatinern zu großen Reichtum, meine mit dem Verkauf von deren Fellen. Wir waren konkurrierende Modelfamilien. Ihr mit Hunden, wir mit Hundefellen. Dein Vater und meine Schwester waren ewig ineinander verliebt, aber ihnen war eine Beziehung nicht vergönnt, weshalb er deine Mutter heiratete und mit ihr Kinder zeugte. Ich wusste, dass sie sich weiterhin heimlich trafen. An einem Abend geschah es dann. Dein Vater wurde erschossen. Ich kann mich nur noch an die Schreie meiner Schwester erinnern. Es war, als würden sie mir mein Herz herausreißen. Ich weiß, es klingt bestimmt übertrieben, aber es war schrecklich. Kurze Zeit vorher wurde mein Bruder tot aufgefunden. Es war der schrecklichste Tag für beide Familien. Diese Geschichte riss uns in den Ruin. Deine Familie, meine Familie. Meine Familie wurde kurzerhand in diese Welt verband." Schlussendlich liefen ihm Tränen übers Gesicht. Ich war etwas überfordert. Was, wenn er der Mörder meines Vaters war? Er hatte meinen Blick richtig gedeutet. „Falls du dich das fragst: Ich war es nicht. Und ich weiß auch nicht, wer es getan hat. Keiner weiß es. Manche sagten, es war die eigene Familie, die Dearlys, die ihren Sohn umgebracht hatten, aber ich möchte dein Familienbild nicht vollständig zerstören."
Hunter hat mir in der Zeit geholfen, damit zurechtzukommen. Ohne ihn hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft. Wäre in einen tiefen Abgrund, eine bodenlose Tiefe gefallen. Den Großteil wusste ich zwar, aber die Bestätigung zu bekommen, war noch schlimmer zu überwinden. Mein Vater hatte meine Mutter betrogen. Könnte ich ihm das je verzeihen? Was wäre gewesen, wäre er früher mit Cruella durchgebrannt? Meine Schwestern und mich hätte es nie gegeben. Wenn ich zuhause bin, habe ich mir fest vorgenommen, meine Mutter zu fragen, was sie darüber weiß. Oder ich werde meinen ach so tollen Großvater aufsuchen müssen. Vielleicht werde ich das Grab meines Vaters besuchen, um ihm die Fehler der Vergangenheit verzeihen zu können.
Fürs Erste bin ich froh, dass ich vor Cruella keine Angst zu haben brauch. Aber zurück zum Thema. Ich denke, das war es mit den Geschehnissen bisher. Ach ja, noch eine letzte Sache, die ich vergessen habe. Neben Hunter gibt es noch jemanden, der einen Job hat. Nämlich mich. Am Tag nach dem Besuch bei Frau Häkelchen, die nebenbei gesagt vielerlei selbstgehäkelte Figuren in ihrem Haus hatte, habe ich mir einen Job in einer Näherei gesucht. Dort habe ich Arielle kennengelernt. Wir haben uns viel unterhalten. Eben gerade war ich auch arbeiten und da haben wir uns selbstverständlich weiter über dies und jenes unterhalten. Sie wohnt zusammen mit einem gewissen Eric, in den sie scheinbar total verknallte ist. Ich wollte ihr ihre Hoffnungen nicht nehmen, denn in unserem Wald war sie wegen ihm, beziehungsweise der Liebe zu ihm schon nicht mehr am Leben,a bei ich denke das müssen sie zwei untereinander klären.
Gerade bin ich auf dem Weg zu der Bar, in der mein Ehemann arbeitet. Dort sind wir jeden Nachmittag nachdem Arbeit verabredet, um im Anschluss etwas zu trinken und dann nach Hause zu gehen. Ich gehe um ein Haus herum, vorbei an der Krippe und der Schlittschuhbahn, auf der die Kinder freudig miteinander spielen. Lächelnd sehe ich ihnen kurz zu. Ein Stück weiter gibt es eine Boutique mit hübschen Kleidern, die meinen Schwestern sicherlich gefallen würden. Es sind solche Kleider, die unten weit auseinander gehen mit weihnachtlichen Motiven. Zwischendurch habe ich überlegt, ob ich meinen Schwestern welche mitnehme, aber da ich nicht weiß, wann und ob ich hier rauskomme, nützt mir das wohl nichts. Einzige Möglichkeit wäre, eine Wunschliste an unseren Kumpel Jules zu schreiben. Das wäre eine geniale Idee! Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Ich Dussel. So könnte ich ihnen - meiner Mama eingeschlossen - ein Zeichen geben, dass ich lebe, dass es mir gutgeht und sie sich keine Sorgen um mich machen müssen. Ihnen vielleicht zum letzten Mal sagen, dass ich sie liebhabe. Um das in die Tat umzusetzen, lege ich einen Zahn zu. Ich sehe bereits die Bar, als ich plötzlich nach hinten gerissen werde und mir wer den Mund zuhält. Ich trete und schlage und trampel auf die Person ein. Nichts hilft. Mir kommen die Tränen. Ist es mir nicht vergönnt, meiner Familie wenigstens „Lebewohl" zu sagen? Was habe ich nur getan? Ich versuche mich zusammenzureißen, um nicht loszuheulen. Ich schließe die Augen, schlucke die Tränen runter. Wehre mich erneut. Versuche zu schreien und nochmal um mich zu schlagen. Die Schreie werden im Zaum erstickt. Gedanklich flehe ich um eine Freilassung. Eine einzelne Träne verlässt mein Auge. Es ist aussichtslos, vollkommen zwecklos. Wie konnte ich nur je darauf hoffen, meine Familie wieder in die Arme zu schließen? Das einzige, was Ich nun wahrnehme, ist wie mein Entführer mich durch endlose Gassen schleift. Mein Ende... ist nah...

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