Kapitel 38
Zu meiner großen Freude durfte Pongo die Nacht über bei uns im Bett verbringen. Dadurch konnte ich friedlich, ganz ohne Alpträume, schlafen. Nun will Hunter mit mir ins Tal hinunter zu Frau Häkelchen. Ich wickel mich in meinen Schal, setze mir eine Mütze auf den Kopf, ziehe mir Handschuhe an und zum Schluss mein Mantel. Der Jäger wartet bereits an der Tür auf mich. Also schlüpfe ich unter seinem Arm hindurch ins Freie. Eisige Kälte empfängt mich. Brrr, ist das kalt. Von dem Unterstand hole ich den Schlitten. Er setzt sich und klopft auf den freien Platz vor sich. Mit einem kurzen Zögern setze ich mich. „Sollen wir Pongo mitnehmen?"
Fragend versuche ich mich gutesgehend zu ihm umzudrehen. „Aber..."
„Ich glaube, ich kann ihn besser beschützen, wenn er mitkommt, anstatt ihn hier allein zu lassen."
„Okay", ich pfeife. „Pongo, komm her."
Mein Dalmatiner kommt zu uns stolziert, nachdem er mit seinem Fuß die Haustür zugeschmissen hat. Hunter macht große Augen. „Du hast deinen Hund genial dressiert."
„Ich weiß", dafür gebe ich ihm zur Belohnung einen Hundekeks. Nicht Hunter, sondern meinem Hund.
Der Jäger schlingt seinen Arm um mich. „Bereit?" Sobald ich nicke und mir die Augen zuhalte, stößt er sich ab und der Schlitten beginnt zu rutschen. Von weiter hinten höre ich Pongo glücklich bellen. Wir schlittern. Irgendwann driften wir ziemlich weit nach rechts. Ich jauchze. Höre die Kufen des Schlittens über den Schnee sausen. Dann werden wir in die Luft katapultiert. Oh nein, nicht schon wieder. In der nächsten Sekunde komme ich auf dem Boden auf und Hunter landet auf mir. Autschi. Der Jäger hustet, dann müssen wir beide lachen. Er hilft mir hoch. „Entschuldigung, wissen Sie, wo Frau Häkelchen wohnt?", wendet er sich direkt an eine Frau, die aus Sorge zu uns gelaufen kam.
„Ja, das weiß ich, doch das darf ich euch nicht sagen. Ihr seid Jay und Hunter, richtig?"
Verwundert nicken wir. Wieso darf die Frau uns das nicht sagen? Mein Hund und ich tauschen ahnungslose Blicke. „Hier für euch."
Die Frau gibt uns einen Zettel, danach verschwindet sie mit einem Fröhlichen Weihnachten in dem nächsten Geschäft. Auf dem Zettel steht, wir sollen ein Rentier, welches nicht echt ist, suchen. Da ich ihm den Zettel nach mir gegeben hat, weiß er auch, was gesucht wird und sieht sich um. Leider ist kein Rentier in Sicht. Suchend sehen wir uns um. Welches Rentier meint sie? Sollen wir Jules kontaktieren? Meint sie eins von den neun? Nicht echt... Bambi? Bambi ist ein Reh, kein Rentier. Setze deinen Verstand ein, Jay, entsinne ich mich in Gedanken. Ein Polizist will ich werden, dann sollte das ein Klacks für mich werden. Eigentlich. Betonung liegt auf diesem Fitzelwörtchen. Da! Unten am Eingang eines Geschäftes sehe ich eine Zeichnung von einem Rentier. Daneben sind noch weitere Zeichnungen, doch die interessieren mich gerade herzlich wenig. Ich bücke mich. Die Zeichnung befindet sich auf einer gut versteckten Schublade, die ich nun hervorziehe. Darin befinden sich Puzzleteile. Puzzle sind früher voll mein Ding gewesen. In meiner Kindheit habe ich andauernd gepuzzelt. Ob Immy das wegen ihrer Verbindung zum Weihnachtsmann weiß?
„Was ist das?" Ach stimmt, fast hätte ich ihn vergessen, daher hole ich die Teile raus und gebe sie ihm. „Ein Puzzle?"
„Gut erkannt. Kannst du puzzeln?"
„Eher weniger. Bin daran immer verzweifelt", beantwortet er meine Frage ehrlich.
„Wenn es okay für dich ist, übernehme ich den Part. Meine Schwestern wollten immer, dass ich ihre Puzzle mit Prinzessinnen fertigstelle."
„Dann bist du wohl sehr gut darin. Habe wohl den Jackpot mit dir gezogen."
Seinen Worten wegen werde ich rot. Er grinst bloß und öffnet eine Tür, damit ich hindurch schlüpfen kann. Sobald ich im Warmen bin, macht er die Tür zu. Wir stehen in einem Café, so wie ich das beurteilen kann. „Einen großen Kakao bitte", bestellt er in Richtung Theke. Die Kellnerin quittiert seine Bestellung mit einem Nicken.
Wir setzen uns an einen Tisch mit einer roten Tischdecke mit Herzen. Auf dem Tisch steht eine Kerze mit Tannenzweigen zur Deko. Insgesamt gibt das Café ein romantisches Flair ab. Girlanden hängen von der Decke, in der Ecke entdecke ich ein Bücherregal und die geschwungene Treppe wurde ebenfalls mit Tanne dekoriert. Der Boden sieht aus als könne an über Süßigkeiten gehen. Aus zusammen gekniffenen Augen behalte ich Hunter im Blick. Ob das von ihm geplant war? Mit dem romantischen Café, meine ich. „Ist was?"
„Hm? Nein, nein. Nicht, dass ich wüsste. Und bei dir?", verhaspel ich mich.
Hunter sieht mich an, legt seinen Kopf schräg. „Bei mir ist nichts. Ich sehe dich bloß an."
Schüchtern senke ich den Kopf, aber er hebt mein Gesicht an, damit er mich weiter ansehen kann. Die Kellnerin unterbricht unseren Augenkontakt, in dem sie einen Becher heißer Schokolade zwischen uns abstellt. Als sie weggeht, hole ich die Puzzleteile aus meiner Manteltasche. „Hast du keins verloren? Deine Manteltasche ist auch ja nicht kaputt?"
„Nein. Wieso sollte sie kaputt sein?"
„Kennst du nicht den Film Polarexpress? Er verliert das Ticket sowie sein Geschenk, weil seine Tasche kaputt ist", erklärt er mir.
„Natürlich kenne ich den."
„Ich weiß noch, dass ich den jedes Jahr zusammen... mit meinem Vater an Weihnachten gesehen hab. Seitdem fand ich Eisenbahnen sehr spannend. Wobei Autos noch cooler sind", Hunter zwinkert mir zu.
„Darf ich dich fragen, warum dir das Sprechen über deiner Familie so schwer fällt?"
Ihm scheint es so unwohl, dass er sich diesmal von mir wegdreht. Der Jäger macht es sich auf der Bank bequem, verschränkt die Arme hinter dem Kopf. „Was findest du klingt besser: Heiße Schokolade, Kakao oder warme Schokolade?"
„Kakao benutze ich ständig, aber heiße Schokolade klingt finde ich schöner", gehe ich auf seinen Themenwechsel ein. Wenn er über seine Familie reden möchte, kann er das tun. Ansonsten soll er sich nicht gezwungen fühlen. Gar nicht so einfach, mir meine eigenen Worte ins Gedächtnis zu rufen. Mich würde schon interessieren, wieso, weshalb, warum. Es würde mich im Allgemeinen interessieren, woher er diese Fragen hat.
„Bei mir ist es andersherum."
Hm? Was? Achso, seine merkwürdige Frau über Kakao. Apropos, wo wir gerade dabei sind, bemerke ich, wie er aus dem Becher trinkt und ihn mir dann hinhält. „Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass ich nur einen für uns beide bestellt habe. Wir sind knapp bei Kasse", flüstert er mir ins Ohr. Die Kellnerin guckt schon ganz komisch, so als ob wir gleich ohne zu zahlen die Flucht ergreifen würden. Auf seine Frage, die mehr oder weniger eine war, schüttel ich den Kopf. „Wir küssen uns, da ist ein gemeinsamer Becher nichts anderes."
„Aber vielleicht gefallen dir unsere Küsse gar nicht", kommentiert er mit einem unsicheren Blick in meine Richtung.
Aus diesem Grund sage ich „Doch, tun sie." und trinke einen großen Schluck vom Kakao. Fast verschlucke ich mich dabei. Um mich abzulenken, beginne ich mit dem Puzzle. Leider bin ich bereits nach kürzester Zeit damit fertig, sodass ich keine Ablenkung mehr habe. Mit schiefen Kopf sehe ich mir das entstandene Bild an. Ein Turm. Ein Uhrenturm, um es genauer zu sagen. Oder wie nennt man das doch gleich? Glockenturm? Sowas in der Art halt. Ein Turm mit einer Uhr. Daher - und vielleicht auch, weil ich es gerne habe, wenn er mich ansieht - tippe ich ihn an und zeige von dem fertigen Puzzle auf den Turm. Er versteht und wir leeren eilig den Becher. Die Bezahlung lässt er auf dem Tisch liegen, während ich schon zur Tür hinausrenne. Kurze Zeit später stehen wir vor dem Turm. Hunter ist der erste, der die Treppen erklimmt. Ich beeile mich, ihm zu folgen. Hand in Hand laufen wir die Wendeltreppe hinauf. Oben angekommen sind wir vollkommen aus der Puste. Es sieht aus, als würde er den Ausblick genießen, also stelle ich mich neben ihn. Der Blick ist wahrlich atemberaubend, doch wir haben anderes vor. Womöglich hatte das Immy für uns vorgesehen. Ein kleiner Spaß, um ihre schöne Welt kennenzulernen. Hunter findet einen weiteren Zettel am Boden. Diesen lesen wir ohne zu zögern zusammen. Wir sollen nach einem Brunnen suchen, aus dem kein Wasser mehr kommt. Verwirrt sehen wir uns an. Meine Stirn bleibt gerunzelt, als ich mich umsehe. „Da!"
Ich begebe mich neben ihn an die Banderole. „Siehst du den Brunnen mit dem eingefrorenen Wasser?"
Stimmt. Ein Brunnen, aus dem kein Wasser mehr kommt, weil das Wasser gefroren ist. Macht Sinn. Denke ich. Wir sputen uns, wieder vom Turm runterzukommen. Dabei falle ich fast die Treppe runter. Zum Glück fängt mich Hunters Rücken sozusagen auf, wobei er jedoch selbst beinahe ins Stolpern gerät, aber er fängt sich Gott sei Dank noch rechtzeitig. Lachend zieht er mich hinter sich her. Draußen laufen wir direkt zum Brunnen. Zuerst bemerke ich die Kälte um mich herum gar nicht, bis wir vor dem Brunnen stehen. Jetzt friere ich. Hunter sieht mein Zittern und gibt mir seine Jacke. Ich schüttel dem Kopf. „Nein, du brauchst sie selbst."
„Nein, nimm."
Da ich sie noch immer nicht entgegen nehme, legt er sie mir einfach um. Ich lege den Kopf schief und sehe ihn gespielt böse an. „Tu nichts so, du kannst es mir eh nicht lange verübeln."
Wo er recht hat, hat er recht, denn ich kann sowieso niemandem lange genug etwas verübeln. Manchmal ist das echt unpraktisch. Meine gute Erziehung, meine ich. Oder war das keine gute Erziehung? Doch, ich denke schon. Meine Mutter hat mich und meine Schwestern zu artigen Menschen erzogen. Viel zu artigen würde ich sagen. Zumindest auf meine Schwestern bezogen.
„Ah, guck mal da oben!", ich entdecke zuerst den neuen Zettel. Ich klettere auf den Brunnen und will jenen Zettel in meinen Finger bekommen, doch ich vergesse das glatte Eis und rutsche aus. Ich bin wahrlich ein Tollpatsch. Ich sehe mich schon hart auf den Boden aufschlagen, weshalb ich die Augen lieber verschließe. Doch als ich sie wieder öffne, liege ich in Hunters sicheren Armen. Er hat mich vor einem Sturz bewahrt. Dankbar lächel ich ihn an. „Bin wohl echt ein Tollpatsch, was."
„Ja, manchmal", er grinst verschmitzt.
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