Kapitel 37 - Hunter
Draußen vor der Sportwagenfabrik warten unsere beiden Mitstreiter auf uns. Mit einem Handschlag begrüße ich Jules. „Bereit zu verlieren?", provoziere ich ihn. Jay verdreht die Augen, worüber ich grinsen muss. Warum mag ich gefühlt alles was er tut? Warum kann ich nicht aufhören, ihm hinterher zu starren? Wieso? Wieso drehen sich meine Gedanken um nichts anderes außer ihn?
Nur wenige Minuten später nähern sich in einem rasanten Tempo die Flitzer der Gegner. Dabei wird keksiger Staub aufgewirbelt. Ich röchel. Im Normalfall liebe ich Kekse - davon futtere ich meistens viel zu viel. Sieht man mir wahrscheinlich an. „Ey, Ju! Bist du bereit richtig abzukacken?", gröllt ein Mädel mit einem blonden Bob mit Pony, einem Erdbeerhut, einem pinken viel zu kurzen Kleidchen, was den Blick auf ihren knackigen Arsch freigibt und langen pink weiß gestreiften Strümpfen, die ihr bis zu den Knien reichen plus der extrem krassen Schminke auf ihrem Gesicht.
„Was habt ihr alle für ein Problem mit mir? Denkt dran, wer euch die Geschenke untern Tannenbaum legt? Exakt, dieser hier", nörglerisch zeigt er auf sich selbst.
Das Mädel deutet mit zu Fäusten geballten Händen einen Heulkrampf an. „Du Baby." Darüber müssen wir anderen lachen. Tascha tätschelt ihm hingegen, nachdem sie ihn ebenfalls ausgelacht hat, die Schulter. „Okay, okay, Leute, bevor wir starten: Das ist Taffyta Muttonfudge. Die mit den grünen Zöpfen und der Kerze auf dem Kopf ist - wie man es sich vielleicht schon denken kann - Candlehead."
Ein anderes Mädchen mit grünen Haaren und insgesamt grünen Klamotten unterbricht ihn: „Minty Zaki." Der Junge neben ihr mit einem lolliähnlichen Helm stellt sich als Swizzle Malarkey heraus. Rancis Fluggerbutter - ein Junge mit einer viel zu goldenen Goldlocke und einem Outfit, das auf diesen leckeren Reese's Peanut Butter Cups basiert - flirtet Natascha an, wodurch unser Herr Weihnachtsmann eifersüchtig zu werden scheint. Witzig. Snowanna Rainbeau reicht uns die Hand, sodass bei ihren chaotisch verschiedenen Farben meine Augen einen mächtigen Schock erleiden. „Der mit dem Kürbis auf dem Kopf ist unser Hitzkopf Gloyd Orangeboar. Des weitern sind eure Gegner noch Jubileena Bing-Bing, Adorabeezle Winterpop, Crumbelina DiCaramello, Sticky Wipplesnit, Citrusella Flugpucker, Torvald Batterbutter und zu guter Letzt Nougetsia Brumblestain", zählt Santa auf. Als ob ich mir jeden einzelnen von denen merken kann. Ich bin froh, wenn ich sie in ihrem eigenen Spiel schlage. Das würde mir ausreichen. Der Honey Drop kommt auf uns zu und zieht mich und das Reh zu zwei Wagen. „Probefahrt", bestimmt sie.
Ich stöhne genervt auf, quetsche mich aber hinters Lenkrad, damit Jay sich hinter mir platzier. Der Drop erklärt mir die wichtigsten Knöpfe und Hebel. Ich drehe am Rad, drücke die Pedale durch, genauso wie bei jedem anderen Auto, damischen schon gefahren bin. Danach tauschen wir nochmal, um dem Reh die Chance zu geben, ebenso vorne zu sitzen. Als er vorne einsteigt, leuchten seine Augen auf, weshalb es mir die Entscheidung, wer im Rennen steuert, erschwert. Ich atme kurz ein, dann sage ich an ihn gewandt: „Willst du gleich vorne sitzen?"
„Meinst du ehrlich?", unsicher sieht er mich an. Süß, wie er sich um mich sorgt.
„Sonst würde ich nicht fragen. Du fährst. Versuch nur nicht, uns umzubringen, klar?"
„Ja." Seine Lippen formen ein Danke. Ich nicke. Er muss sich doch nicht jedes Mal bedanken. Oder entschuldigen. Aber vielleicht wurde er einfach so anständig erzogen. Möglich wäre es definitiv. Nicht so wie meine Eltern oder eher meine Mutter. Seit jenem Vorfall fühle ich mich nicht mehr zu meiner Familie zugehörig. Ich weiß, ich weiß, es klingt depressiv, doch es ist wahr. Meine Familie liegt seit diesem Fall in Schutt und Asche und das obwohl der Vorfall Jahre zurückliegt.
Wieder habe ich das Gefühl ihn zu kennen. Bloß woher? Woher sollte ich ihn kennen? Sind wir uns vielleicht doch schonmal auf einer Party von Heidi oder meinen anderen Freunden begegnet? Ne, das muss irgendwas anderes gewesen sein. Waren wir Freunde, doch unser Gedächtnis wurde ausgelöscht? Sowas passiert den Leuten im Märchenwald gefühlt ständig. Erst neulich hat die Herzkönig dem Hutmacher eins über gebrezelt. Wobei das noch ne andere Nummer ist. Die im Wunderland schlachten sich gefühlt andauernd ab. Aber das ist trotzdem ein verrückter Gedanke, oder? Abwegig ist es zwar nicht, aber na ja.
❄️
Jules landet seinen Schlitten elegant im Schneehaufen vor unserer Hütte. Jay, der nun wieder seine Perücke trägt, springt mir in die Arme. Widerwillig setze ich ihn auf dem Boden ab. Am liebsten würde ich ihn hier und jetzt hart rannehmen, doch wir haben Zuschauer, deswegen versuche ich mich zusammenzureißen. „Bevor wir uns verabschieden, schaut nochmal her."
Wir sehen ihn abwartend an. „Kommt da noch was?"
Herr Clause schließt seine Augen, während seine Hand auf dem Schlitten ruht. Da verwandelt sich sein Schlitten in einen schnittigen Neunelfer. Okay, jetzt bin ich verdammt nochmal wirklich richtig eifersüchtig auf den roten Hintern. „Ist das...?"
„Oh Junge, Ja, das ist ein ein Porsche 911. Was sagt ihr? So nen geilen Schlitten vom Weihnachtsmann habt ihr noch nie gesehen."
„Noch nie", stimme ich wie in Trance zu. Woah, hammergeiler Schlitten. Echt jetzt. Anderes kann man dazu nicht sagen. Jay schnipst vor meinem Gesicht rum, um mich aufmerksam zu machen, dass die zwei nach Hause wollen. „Danke für diese Haufen von Erlebnissen. Es war super."
„Kein Ding. Ich hatte auch meinen Spaß."
Ich klopfe Santa auf den Bauch und sage: „Du solltest mehr essen, Ju, sonst kippen die Kinder noch vom Stuhl so wie du vom Fleisch."
„Hähähä, wie witzig. Hohoho und bis bald. Wenn ich was rausgefunden habe, melde ich mich."
Das Reh winkt. „Tschüss."
„Gute Nacht", meint Natascha gähnend und schwingt sich zurück in den Schlitten, den Ju leider wieder zurück verwandelt hat, wobei der immer noch unfassbar cool ist, das muss man dem alten Gefährt lassen. Ich bücke mich runter zu Bambi, der vor Müdigkeit am Boden liegt. Rudi schleckt ihm liebevoll das Gesicht. Nachdem Rennen sind wir noch einen trinken gegangen. Die Getränke gingen auf den Gewinner Gloyd Orangeboar. Wir haben uns über die und das nett unterhalten. Jeder haute eine Geschichte nach der anderen raus. Allem in allem war es ein witziger Abend, Schrägstrich Nachmittag. Diese Taffyta hatte versucht, mich anzubaggern. Nicht böse gemeint, aber irgendwie hängen meine Gedanken momentan nur an der einen Person. Zu einer anderen Zeit wäre sie vielleicht mein One-Night-Stand gewesen. Spät abends ist Bambi dann mit Feline in der Bar aufgetaucht. Der schlimme Finger ist mit ihr allen Ernstes durch die Eisberge, die aus echtem Speiseeis bestehen, gelaufen. Will man wissen, was er angestellt hat? Besser nicht. Rudolph ist dafür stinksauer auf die beiden Knirpse. In der Bar haben wir nebenbei erfahren, dass Rudi die Frau ist und Dancer der Typ. Rudi hat nämlich, wer gut aufgepasst hat, weiß das, kein Geweih. Sprich er, ich meine sie, ist allein unter einer Bande von Männern. Mit viel Überzeugungskraft hat der zweite Weihnachtsmann sie im Team aufgenommen. Zum Abschied streichel ich dem Rentier die Stirn. Während Rudolph mich mit ihrer Nase anstupst, schleckt mir Bambi einmal durchs Gesicht. „Lass sich das nächste Mal besser nicht erwischen, Kumpel", beratschlage ich das junge Rentier. Dieser nickt, als hätte er mich wahrlich verstanden.
Wir winken noch einmal in Richtung unserer Freunde, dann gehen wir gemeinsam zur Tür herein. Sobald die Tür ins Schloss fällt, küsse ich Jay vorsichtig auf die Lippen. „Danke für den schönen Tag, Jayjay. Ich glaube, durch dich und all das fange ich an, wieder an Weihnachten zu glauben, also auch Dankeschön dafür." Ich lasse meine Stirn auf seiner ruhen. Lange Zeit verharren wir so, bis uns Pongo mit seinem Bellen halb zu Tode erschreckt.
Ich nehme dem Reh die Jacke ab. Dann setzt er sich vor den Kamin mit dem gelben Buch. Oh Mann. Will er wirklich noch heute so spät anfangen zu lesen? Ohne ein Wort stelle ich einen Napf für Pongo auf den Boden ab, aus dem er nun fleißig futtert. Ich lasse mich neben Jay auf den Teppich gleiten. Kurz schaut er hoch. Ein Zeichen, dass er mich registriert hat. Wenigstens etwas. Schmunzelnd ziehe ich seinen Kopf auf meinen Schoß. Gedankenverloren kraule ich seine Kopfhaut.„Würdest du in unserer Welt auch einen Tannenbaum mit mir gemeinsam schmücken wollen?"
„Hä?"
„Würdest du in unserer Welt einen Tannenbaum mit mir zusammen schmücken wollen?", stelle ich meine Frage erneut. Man merkt, dass ich echt nicht ganz bei Sinnen bin.
„Warum fragst du? Du stehst doch nicht auf Weihnachten."
„Hast du mir eben nicht zugehört? Dank dem heutigen Tag fange ich wieder an zu glauben...", entsinne ich ihn. Meine Finger fahren wieder und wieder durch seine Haare, obwohl ich es zwischenzeitig gar nicht richtig bemerke.
„Glauben heißt nicht mögen", merkt das Reh an.
„Stimmt, da ist was dran. Ich stehe nicht darauf, aber das muss ja nicht gleich bedeuten, dass ich es nicht mag", beschreibe ich.
„Nochmal hä?!"
„Ach vergiss es."
Jay hält meinen Arm fest. „Ich werde es nicht vergessen. Erkläre es mir bitte."
„Ich mag Weihnachten, sogar sehr, aber ich hatte schon lange kein schönes Fest mehr gefeiert", bei dem Gedanken lasse ich den Kopf hängen. Wahrscheinlich erleide ich doch einer Depression. Aber als ich den aufmunternden Blick von meinem Reh bemerke, muss ich schlucken.
„Ja, ich würde mit dir einen Baum dekorieren."
„Und das sagst du jetzt ganz sicher nicht aus Mitleid zu mir?", versuche ich meine Gedanken wieder zu ordnen.
„Nein, die Antwort wollte ich dir längst gegeben haben, Hunter." Unsicher schiebt er seine Brille zurecht. Ich bin gewagt, sie ihm vom Kopf zu reißen.
Überrascht blinzel ich. Wir sehen uns lange in die Augen. Diese blauen Augen stehen im Kontrast zu meinem Vergleich mit einem Reh, aber das ist mir egal. Diese Augen sind dennoch wunderschön und unglaublich ehrlich. Sie passen perfekt zu diesem ehrlichen Mann. Seine Lippen, die sich so herrlich weich auf meinen anfüllen, würde ich liebend gerne berühren. Ansich würde ich ihn liebend gerne berühren, aber ich weiß nicht, ob er schon bereit dafür wäre. Ich muss mich in Griff bekommen, bevor der Jäger das Reh verschreckt. Dieses unschuldige kleine Reh und der gefährliche Jäger. Seit wann stehe ich eigentlich auf Männer? Wenn ich mich recht erinnere, schon seit ich „sexuell aktiv" war. Klar, habe ich es zwischendurch mit Frauen versucht, doch mit Männern lief es besser. Zwar habe ich bisher noch nicht die große Liebe gefunden und lebe mit dieser glücklich bis ans Ende ihrer Tage, aber mit einem Jungen bin ich dem in jungen Jahren ziemlich nahe gekommen. Dem bis ans Ende ihrer Tage. Da war ich ebenfalls noch unschuldig. Wir hatten Wahrheit oder Pflicht gespielt und er wollte kein Angsthase sein, weshalb er sich für Pflicht entschieden hatte. Seine Pflichtaufgabe war es, mich zu küssen. Als ich aus meinem Tagtraum erwache, sind die blauen Augen verschlossen. Jays Atem beruhigt sich. Er ist wohl auf meinem Schoß eingeschlafen. Um ihn nicht zu wecken, lege ich meine Hand so vorsichtig, wie es mir irgends möglich ist, unter seinen Kopf und meine andere platziere ich zwischen seinen Kniekehlen. Dann hebe ich ihn hoch und tapse auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Pongos Pfoten höre ich auf dem Boden uns folgen. In der Dunkelheit schaffe ich es mit ein paar Tricks, den Jungen aufs Bett zu hieven. Da ich viel zu müde bin, um noch länger wach zu bleiben, lasse ich mich gleich neben ihn fallen. Sein Hund jault, darum klopfe ich auf den Platz zwischen Jay und mir, nachdem ich uns zugedeckt habe. Ich höre quasi wie er vor Freude mit seinem Schwanz wedelt und dann mit Schwung auf dem Bett landet. Ich lasse ihn an meiner einen Hand schnuppern. Mit der anderen ziehe ich das Reh näher an mich heran. Sein ruhiger Atem lässt mich nur noch müder werden und es dauert nicht lange, bis auch ich wegdöse. „Gute Nacht, Po-", nuschel ich schläfrig in meinen Arm. Dabei steigt mir der Geruch von Süßigkeiten in die Nase. Habe voll vergessen, uns auszuziehen...
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