Kapitel 31
Wir suchen deine Geschichte", antwortet er gewissenhaft auf meine Frage.
„Meine Geschichte?", gehe ich sicher, mich nicht verhört zu haben.
„Beziehungsweise die Geschichte deiner Familie. Was es mit den De Vils auf sich hat und warum dein Hund womöglich gefährdet ist. Vielleicht können wir sogar in Erfahrung bringen, wie wir Pongo beschützen."
„Das tust du für mich?", frage ich erstaunt. Teils sprachlos blinzel ich mit den Augen.
„Natürlich. Für wen denn sonst? Mitunter selbstverständlich für Pongo, aber ja größtenteils für dich."
„Danke!"
„Kein Ding", macht er seine Tat selbst nieder. Da liegt seine Hand plötzlich behutsam auf meiner Wange. Weil die Wärme, die von ihm ausgeht, so verlockend für mich erscheint, lege ich meinen Kopf etwas schief, damit die Wange besser in seine Hand passt. Wir sind uns so nahe, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre und er andersherum wahrscheinlich meinen, außer meine Atmung hat bereits die ersten Aussetzer. Soll ich...? Sollte ich mich vorbeugen und ihn küssen? Nein... Oder? Das wäre komplett verrückt. Hier hinten brauchen wir kein Ehepaar zu mimen. Aber irgendwas zieht mich zu ihm, zu seinen Lippen hin. Hoffentlich starre ich nicht auffällig. Warte, starre ich? Oh Mist. Ich reiße meine Augen nach oben. Doch er übernimmt und drückt mich gegen das nächstbeste Regal, um meine Lippen im Sturm zu erobern. Das passt sich gut, so werden nicht nur meine vermutlich durch die blauen Lippen wieder warm, sondern mein gesamter Körper wärmt sich von innen heraus rasant auf. „Hunter...", keuche ich, sobald er den Kuss für einen kurzen Augenblick unterbricht.
Danach geht es genauso weiter. Mein ganzer Körper kribbelt und an meinem Unterleib fühlt es sich ungewohnt, jedoch keines Falls ungewollt an. Meine Füße berühren nicht mehr den Boden. Dabei habe ich keinen blassen Schimmer, ob es daran liegt, dass ich gerade auf Wolke sieben zu fliegen scheine oder daran, dass ich den Boden wirklich nicht berühre. Stattdessen hänge ich zur Hälfte im Regal und zur anderen Hälfte klammere ich an Hunter. Bei den Eichhörnchen, fühlt sich das gut an. „Hunter..."
Dieser lässt unerwartet plötzlich von mir ab und lässt mich wieder auf eigenen Beinen stehen, was nicht gerade leicht ist, wenn man Beine wie roten Wackelpudding hat. Rot, nicht grün. Der rote Wackelpudding schmeckt viel, viel besser. Gott sei Dank schlingt er zu meinem besseren Halt einen Arm um meine Taille. „Wir sollten das nicht tun, Jay."
Ich lasse den Kopf hängen. Was habe ich mir nur gedacht? Er steht auf Frauen und ich eigentlich auch. Glaube ich. Weiß ich. Okay, nein, weiß ich nicht. Keinerlei Erfahrungen. Hunter greift nach meinem Kinn und richtet meinen Kopf so, dass ich ihm in die Augen sehen muss. „Nicht hier."
„Was?"
„Du Dussel, ich will Sex mit dir, aber doch nicht hier. In einer Bücherei. Soll ich ehrlich sein? Bücher kann ich nicht mal sonderlich leiden. Wirst du dir bestimmt schon gedacht haben bei meinem Nichtwissen. Außerdem lass mich raten, hattest du noch keinen Sex, stimmt's? Zumindest noch keinen richtig guten Fick."
„Ich, also... äh..."
„Bist du noch Jungfrau?", will er den Prozess - und mein Gelabbere - verkürzen.
Unwohl schaue ich zu Boden. „Ja", gebe ich gequält zu. „Können wir es nicht... Jungmann nennen?"
Er lacht. „Von mir aus, Jungmann."
Gespielt böse schaue ich ihn an und schlage ihn auf die Brust. „Wo wollen wir anfangen zu suchen?"
„Falls du es nicht bemerkt hast, weil ich dir die Sinne vernebelt habe, habe ich angefangen zu suchen. Leider habe ich keine Ahnung, wo man hier anfängt. Vielleicht sollten wir in die Märchenecke. Womöglich steht dort mehr, als wir wissen."
„Auf geht's", diesmal ergreife ich als Erster seine Hand.
Gemeinsam forsten wir uns durch die Gänge zurück. Zwischendurch schlägt er vor, die Bibliothekarin um Rat zu fragen, doch och verneine mit einem ausgiebigen Kopfschütteln, wodurch er noch mehr Lachen und ich mir anhören muss: „Hat meine Frau etwa Angst?"
Ohne etwas darauf zu erwidern gehe ich weiter, bleibe jedoch an einem Regal hängen. Dadurch fällt mir ein Buch auf den Kopf. Autsch. Ja, da bin ich wieder. Der Tollpatsch. Super gelaufen. Blamiere ich mich nicht schon genug vor dem Jäger? Diesem sehe ich an, dass er schon wieder lacht, was ich eigentlich knuffig finde, jedoch in dieser Situation nicht gerade angemessen. Aber er besinnt sich eines Besseren und kommt mir zur Hilfe. „Tut es arg weh?" Sanft betastet er meinen Kopf, auf den das Buch gefallen ist.
„Nein, alles Bestens."
Er sieht sich das Buch genauer an und hält es mir direkt unter die Augen. Mit seinen Finger tippt er auf den Titel des Buches. Da das Buch sehr, wirklich sehr nah ist, brauche ich einen Moment, um den Titel zu lesen. Rotkäppchen und der Böse Wolf steht dadrauf. „Woher kam das?"
Ich zeige auf das oberste Fach, an das wir ohne Leiter nicht dran kommen werden. Ob die Frau an der Theke eine Leiter für uns hat? Lieber verzichte ich darauf. „Da oben? Also gut, ich schlage vor, wir machen eine Räuberleiter und du versucht in Erfahrung zu bringen, ob da noch mehr Märchenbücher sind."
Nachdem er quasi meine Einverständnis bekommen hat, hievt er mich auf seineSchultern und ich suche auf den Buchrücken nach den Titeln. Brüderchen und Schwesterchen zusammen mit Hänsel und Gretel in einem Buch. Das war vorhersehbar. Schließlich sind es dieselben Geschwister. Spoileralarm, würden meine Schwestern jetzt sagen. Oh Mann, wie ich sie vermisse, wie ich Mama und meine Freunde vermisse. Ich werfe einen Blick nach unten auf den Haaransatz von dem Jäger. Er tut mir leid. Trotzdem werde ich ihn mitnehmen zu mir nach Hause. Sofern er mit meinen Freunden befreundet ist, gäbe es gewiss Leute, die ihn vermissen würde. Seufz. Mit meinem Finger streife ich die Buchrücken. „Bist du bald fertig?", drängelt er unter mir.
„Ja doch."
Ein paar der mir am sinnvollsten Erscheinenden ziehe ich raus, dann gebe ich ihm Bescheid, dass er mich runterlassen kann. Die Hälfte der Bücher gebe ich ihm. Wir setzen uns auf den mit Teppichen ausgelegten Boden nebeneinander. Es bedarf keiner Worte. Stillschweigend fangen wir bloß an zu lesen. Nach einiger Zeit beginnt er, mich mit seine, Finger über den Bauch zu streicheln. Meine Atmung geht ab da nur noch stoßweise. Mh-hm... das ist schön... so schön... ähem. Als ich sein siegessicheres Grinsen wahrnehme, lenke ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Geschichte vor mir. Was habe ich eben nochmal gelesen? Pinocchio?
Irgendwann habe ich mich dann auch wieder in die Geschichte rein gefunden. Jepp, es war der Junge mit der langen Nase. Warum ich das Märchen mitgenommen habe, weiß ich nicht mehr. Ohne mich darüber zu informieren, zieht mich Hunter zwischen seine Beine. Nur schwer kann ich meinen Atem erneut beruhigen. Diesmal gleitet sein Finger unter mein Kleid und ich beiße mir auf die Unterlippe. Autsch. Warum mache ich das? Um mich zusammenzureißen. Als sein Finger mit meinem Bauchnabel spielt, beuge ich meinen Rücken durch und... stöhne. „Hunter, hör bitte auf...", zische ich, obwohl ich weiß, wie machtlos ich in seiner Gegenwart bin.
„Übrigens weiß ich nun, dass die Gebrüder Grimm einen weiteren Bruder hatten", erzählt er zusammenhanglos, während ich noch versuche, mich zu konzentrieren.
„Aha", äußere ich mich.
„Ferdinand hieß er. Ebenfalls Märchenerzähler, war nur nicht so bekannt. Außerdem heißt es, er war schwul, weswegen er ausgegrenzt wurde. Oder aber er und einer der Gebrüder Grimm stritten sich mit ihm um eine Frau. Wer weiß. Beides mögliche Theorien. Voll interessant oder?"
„Hm-hm."
„Was hast du denn, Herzchen? Du bist ja gerade kaum gesprächig."
Grimmig schaue ich zu ihm nach hinten. Dummer Fehler... oder halt nicht. Wie man es nimmt, denn im nächsten Moment liegen seine Lippen fordernd auf meinen. Tief in mir drinnen kribbelt es ganz doll. Ich schließe die Augen, doch genauso schnell wie der Kuss begonnen hat, so abrupt hört er auch wieder auf. Dieser Fiesling! „Was soll das?"
Hunter legt seine Hand auf meinen Mund. „Sei leise."
Also lausche ich in die Stille der Bücherei hinein. Gerade will ich sagen, dass ich nichts höre, vor dem man sich fürchten muss, als mich eine breite Gänsehaut überzieht. Warum ist es hier so kalt geworden, obwohl ich an ihn geschmiegt bin? Jetzt höre ich es auch. Diese Stimme... die kenne ich. Aus meinen Alpträumen, in denen mir meine Familie genommen wird. Cruella De Vil. Leise stehe ich auf, dicht gefolgt von dem Fiesling.
Und tatsächlich. Cruella steht direkt vor der Theke und tuschelt mit der gruseligen Tante. Angestrengt versuche ich zu verstehen, worüber sie plaudern. Hunter geht näher heran und deutet mit seiner Hand an, ihm zu folgen. Das tue ich. So langsam versteht man Bruchstücke. „Dearlys... vernichten... De Vils... verbannt... will, dass du das Buch vernichtest."
Dearlys und De Vils. Nichts, dass ich nicht schon wusste. Unsere Familien hatten eine Vergangenheit. „Tod. Des. Dalmatiners."
Fast hätte ich laut gekeucht. Meinen Pongo kriegt sie nicht, geschrien. Aber Hunter hält mir meinen Mund wieder zu. Vielleicht kann ich ihn beißen, doch ich weiß, dass er es nur gut meint. Wir beide sehen, wie Cruella ein gelbes Buch hochhält, welches allen Anschein nach vernichtet werden soll.
Kurz scheint Hunter nachzudenken, dann erinnert er mich an Wickie aus der Kinderserie mit dem intelligenten jungen Wikinger und ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen. Danach verschwindet er aus meinem Blickfeld und just in dem Moment kommt mir selbst eine Idee. Ich suche nach einem gelben Buch. Als ich eins habe, kommt mir der Jägersohn mit einem grünen Buch entgegen. Ist er farbenblind oder ist ihm etwas anderes eingefallen?
„Hatten wir dieselbe Idee?", flüstert er.
„Keine Ahnung."
„Deine ist besser mit dem gelben Buch."
„Also bist du nicht farbenblind?", hake ich zweifelnd nach.
„Nein und du auch nicht. Ich schlage vor, wir tauschen dieses mit dem, was diese Gruseltante eben zurückgelassen hat. Während du sie ablenkst mit einer Ausleihe einiger Bücher, nehme ich das Buch. Oder willst du's andersherum?"
„Nein, nein, mach du ruhig. Ich übernehme die Ablenkung."
Er streckt seinen Daumen hoch. Während er mich mit Büchern vollpackt, versuche ich erstmal nicht das Gleichgewicht zu verlieren und obendrein mich seelisch auf eine Ablenkung einzustellen. Ich schaffe das.
Startklar gehen wir zu der Bibliothekarin. „Meine Frau würde gerne diese ganzen Bücher ausleihen. Sie liebt Bücher über alles. Ginge das?"
Die Frau nickt. „Haben Sie einen Ausweis?"
Ein bisschen regt es mich auf, dass er erneut das Reden für mich übernimmt. Andererseits stört es mich nicht, so brauche ich nicht allzu sehr zu lügen. „Wir sind neu hier, daher haben wir noch keinen. Könnten Sie uns einen ausstellen?"
„Das kann ich machen, wenn Sie Geduld haben. Das dauert immer etwas."
„Alles gut, wir haben Zeit", richtet er ihr aus.
Deswegen stelle ich meine Büchersammlung auf dem Tresen ab und warte auf Hunters Plan. Dieser gerät ins Taumeln und reißt die Bücher, darunter ebenso das gelbe Buch von Cruella, mit zu Boden. Sobald ich seinen Blick bemerke, tue ich auf erschrockene Ehefrau, indem ich die Hände vor den Mund mache. Die Bibliothekarin, die gerade unterhalb des Tresens etwas gesucht hat, versucht sich zu beruhigen, das sehe ich an ihrem Blick. „Tut mir leid. Tut mir so unendlich leid. Immer wieder sagt mir meine Frau, ich sei ein Tollpatsch", plappert er gekonnt drauf los, während er das eine gelbe Buch hinter seinem Rücken verschwinden lässt und die restlichen Bücher zusammen mit dem falschen gelben Buch zusammensammelt.
„Schon gut", murrt die Alte abgenervt.
Hunter kommt mit den Büchern auf dem Arm hoch. Die Bücher stellt er zurück an ihren Platz. Das gelbe Buch legt er abseits hin. Die Frau hat nichts gemerkt. „Liebling, wir haben unseren Besuch total vergessen", meint er dann.
Die Bibliothekarin schaut zwischen uns hin und her. „Unseren Besuch? Ach ja, meine Tante. Oh, wie konnten wir das nur vergessen?" Um es bildhafter darzustellen, fasse ich mir an die Stirn, als wäre ich schusselig.
„Können Sie die Bücher für meine Frau zurücklegen? Wir müssen dringend los. Haben total die Zeit vergessen. Wissen Sie, wenn meine Frau liest, dann vergisst sie alles um sich herum. Manchmal sogar mich."
„Erzähle keinen Quatsch, Liebster!", steige ich in die Lüge ein.
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