Kapitel 29 - Hunter

Wir haben keine Freunde hier, Hunter", wie er meinen Namen betont, ihn ausspricht. Oh Mann. Konzentration! Das Reh gehört nicht mir. Das ist aber nichts, was ich nicht enden könnte. Ich bin der Jäger, er das Reh... Und außerdem sind wir theoretischerweise gerade verheiratet, also doch, genau genommen gehört er mir. Noch. Im Moment.
„Doch, Tascha, Immy Häkelchen und - ob andere es glauben werden oder halt nicht - den Weihnachtsmann."
„Hunter! Wir können hier niemanden trauen!"
Ich ziehe eine Schnute. „Nicht mal dem Weihnachtsmann?"
Ein kleines Lächeln huscht über seine Lippen. „So leid es mir tut, aber wahrscheinlich nicht mal ihm", meint.
„Was ist denn los? Es ist, als hätten wir gerade die Rollen getauscht, du und ich. Du bist eher der, der den Glauben an Weihnachten noch nicht aufgegeben hat. Im Normalfall. Jetzt bin ich es, der an Jules glaubt. Wie bekomme ich dich dazu, wieder zurückzutauschen?"
„Weiß nicht... Meinst du wirklich, wir können ihnen trauen?", seine Stimme sowie sein Puls scheinen sich allmählich zu beruhigen.
„Vertraust du mir?"
Zu meiner Überraschung antwortet er mit so einer Gewissheit in seinen Worten, die keinen Platz für Zweifel lassen: „Ja."
„Dann vertrau mir auch in diesen Dingen. Du bist mir komischerweise irgendwie wichtig und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir gerade ein Ehepaar mimen, aber was ich weiß, ist, dass ich dich sowie alles, was dir lieb ist, beschützen werde. Ich denke, man könnte sagen, wir sind jetzt also gezwungenermaßen sowas wie Freunde. Was hältst du davon? Heißt aber auch, du musst mir in Sachen Pongo vertrauen. Ich beschütze ihn nämlich genauso wie dich. Ich vertraue ihn nur Leuten an, den ich ebenfalls vertraue. Und ich sage nur eins, ich will Polizist werden, was bedeutet, dass ich wirklich genau weiß, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Und jetzt habe ich denke ich viel zu sehr um den heißen Brei herum geredet und hoffe du verstehst trotzdem, was ich sagen wollte, denn ich weiß es gerade selbst nicht mehr."
Überrascht, vielleicht auch ein wenig durcheinander, blinzelt er. „Ja, ich habe es verstanden und ich danke dir für deine Unterstützung. Ich vertraue dir. Tut mir leid."
Über seine Entschuldigung verdrehe ich innerlich die Augen. Kann der mal aufhören, sich zu entschuldigen? „Schon gut. Können wir los?"
„Ja. Wohin denn genau?"
„Eigentlich sollte es eine Überraschung werden, aber ich denke jetzt ist eh alles egal. Es geht in die Bibliothek", verkünde ich mit meinen schauspielerisch ausgeprägten Talenten, die ich genau genommen nicht besitze, aber das muss ja keiner wissen.
„In die Bücherei? Was sollen wir denn da?"
„Ich dachte, du bist eine Leseratte durch und durch."
„Ja, ich bin eine Leseratte durch und durch. Na und? Wir können doch nicht einfach anfangen, das Leben hier zu genießen. Wir müssen an unser Leben vorher denken, an unsere Freunde und ich an meine Familie. Du als Polizist solltest es besser wissen, nicht aufzugeben."
Innerlich verdrehe ich die Augen. Am liebsten würde ich hier bleiben. Hier leben. Oder eher hier ein neues Leben anfangen. Weg von der blöden Schlampe alias meiner Mutter. Weg von meine Vater, der ebenfalls seine Frau betrogen hat und weg von meinem Stiefvater, von dem ich jahrelang geglaubt hatte, er sei mein richtiger Vater. Bis das alles ans Licht kam, hatte ich ein gutes, ein schönes Leben. Ich war ein normaler Junge mit einer Mutter und einem Vater, die verheiratet waren. Unser Familienleben war beinahe perfekt, bis die Lüge meiner Mutter ans Licht kam und mein Vater nicht mehr mein Vater, sondern mein Stiefvater war. An diesem Tage hatte mein eigentlicher Stiefvater angefangen, mich zu verstoßen. Ich war nicht mehr sein Fleisch und Blut. Meiner Mutter konnte er verzeihen, mir nie, dabei konnte ich bei der ganzen Sache doch am wenigsten für. Vielleicht sieht er jedes Mal, wenn er mich ansieht, den Fehler meiner Mutter in meinen Augen. Vielleicht war die Bindung, die ich all die Jahre gefühlt hatte zwischen uns, für ihn gar nicht real. Vielleicht... hasst er mich einfach abgrundtief. Ja, vielleicht, sogar wahrscheinlich stimmt das. Ich versuche mein inneres Gefühlschaos aus Hass, Trauer und Verletztheit zu sortieren, um wieder zurück zum Reh, ich meine natürlich zu Jay, zu kommen. „Ich habe einen Plan. hast du in dieser Welt ein Handy? Nein, ich zumindest nicht. Wie ist man damals Recherchen angegangen?"
„Mit Büchern", antwortet er augenrollend mit eine kleinen Lächeln, bei dem seine Grübchen auf und ab tanzen.
„Richtig! Herzlichen Glückwunsch, wir haben ein Gewinner!"
„Danke, danke, danke!", witzelnd verbeugt er sich in alle Richtungen. Zusammen lachen wir und das löst irgendwas tief in mir drinnen aus. Ich will hier wirklich nicht weg und das liegt nicht an dieser durchaus faszinierenden Welt, sondern, ganz im Gegenteil, an ihm. Ich mag ihn. Mag ihn wirklich. Seine manchmal ätzende höfliche Art, sein freundliches Lächeln und seine Ehrlichkeit. Er ist etwas besonderes. Oh Mann, ich sollte mich nicht von diesem unschuldigen Reh ablenken lassen. Ich lenke meine Gedanken auf einen anderen Gedanke. Oh wow, dieser Satz war ja wahnsinnig dumm. Blaue Augen... verdammt. Weg von den Gedanken an Jay, mein unschuldiges Reh. Ich meine, das unschuldige Reh. Das, nicht mein! Das unschuldige Reh.
„Zieh dir eine Jacke an."
„Meinst du nicht, wir sollten uns erstmal richtig anziehen?"
Ich schaue an mir herunter. Oh, stimmt ja. Wir sind noch immer im Schlafanzug. „Okay, umziehen, dann in Jacke einpacken und wir können los. Vielleicht nimmst dir dir noch ein Brötchen vom Tisch und verspeist es während des Anziehens."
„Bis gleich."
„Jo."
Durch die Tür an ihm vorbei in mein Zimmer. In meinem Zimmer angelangt ziehe ich mir zackig die Schlafsachen aus und stattdessen frische Kleidung aus dem Schrank über. Danach, ich hatte bereits ein Brötchen verputzt, sammel ich Jay aus der Küche, wo er gerade, den Krümmeln auf dem Boden nach zu urteilen, gefrühstückt hat, ein. „Hey, Jayjay."
„Hey-y", schüchtern schaut er von mir weg. Daraus mache ich mir nichts, deshalb schlinge ich meine Arme um seine Hüften und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. Erst hatte ich die Idee, seinen Mundwinkel, beziehungsweise sein Grübchen zu küssen. Wer weiß, wer von außen zusah. So würden wir bestimmt verliebter aussehen, andererseits hätte ich kein Problem damit, ihn in der realen Welt genauso zu küssen. Seit diese einen Kuss in dieser Welt sprühten Gefühle durch meinen gesamten Körper, die ich nie gekannt hatte. Irgendwoher scheinen wir uns vielleicht doch zu kennen. Oder ist das Liebe auf den Ersten Blick? Ist das überhaupt Liebe zwischen uns? Klar, für andere lassen wir es so aussehen, aber ist es das denn wirklich? Ist es Liebe? Was ist das zwischen uns? Ich bin leicht überfordert. Mit sowas kenne ich mich nicht aus. Vielleicht haben sich meine Gedanken in dieser kürzesten Zeit daran gewöhnt, dass wir in den Augen anderer aussehen müssen wie ein frischverliebtes Ehepaar. Vielleicht stehe ich auch einfach auf die weibliche Jay. Stehe ich auf das Reh? Oh mein Gott. Was ist nur los mit mir?
Ich ziehe ihm die Jacke an und gemeinsam Hand in Hand gehen wir durch die Tür nach draußen in die kalte Kälte. Kalte Kälte? Alter, was ist bloß los mit mir? Dieses niedliche Reh macht mich mental völlig fertig. In Gedanken muss ich mich immer wieder und immer wieder ermahnen, nicht auf seinen Arsch zu starren. Jetzt tue ich es schon wieder! Mein Blickt fällt erneut auf sein sexy Hinterteil. Oh Mann ey. Das kann so nicht weitergehen. Das kann so echt nicht weitergehen.
Unsicher schaut er weg und ich lasse ihn gehen. Das Reh soll noch die Chance haben, zu flüchten, solange es noch geht. Wir ziehen uns die Stiefel an, wobei das Reh fast umfällt, sich dann, bevor ich ihm helfen kann, jedoch von selbst wieder fangen kann. Ich reiche ihm wortlos seinen Mantel. Er nimmt ihn ebenso wortlos entgegen. Keine Ahnung, was den Umschwung gebracht hatte. Keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht und ebenfalls keine Ahnung, was er eigentlich will. Sex? Liebe? Was will er? Was will ich überhaupt? Jetzt geht das wieder los...
Er öffnet mir die Tür und ich überprüfe noch kurz sein Äußeres. Natürlich nur aus Zwecken der Sicherheit. Natürlich. Perücke: Check. Angemessene weibliche Kleidung: Check. Alles gut. Wir können los.
Nachdem wir beide im tiefen Schnee, der über Nacht über unsere Hütte hinweg gefegt sein muss, versinken, schließe ich die Tür hinter uns. Kurz gehe ich um die Ecke und hole einen Schlitten. Obwohl es durch den meterhohen Schnee nicht gerade einfach ist, setze ich mich auf den Schlitten. Anschließend klopfe ich auf den freien Platz vor mir. Jay setzt sich und ich gebe dem Schlitten einen kleinen Anschwung und los geht die Fahrt.
„Hui!!", freut er sich über das Gefühl der Freiheit. Auch ich fühle mich frei, wobei das nicht nur an der Schlittenfahrt liegt. Am liebsten hätte ich vor Glücksgefühlen die Arme in die Luft gerissen, doch ich lasse es besser bleiben, nicht, dass das für einen Unfall sorgt. Andererseits ist es nur Schnee. Nur der beste Schnee aller Zeiten. Hui, ja, wirklich hui! Ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind bei seiner ersten Fahrt mit dem Schlitten, bei der man rutscht und vor Freude und Angst die ganze Zeit schreit, bis man gegen einen Baum fährt und die Eltern halb sorgenvoll, halb lachend zu einem kommen und wissen wollen, ob es einem denn gut geht. An den Kakao danach. Das Kuscheln danach danach. Wie ich diese Zeiten manchmal vermisse. Ich schüttel den Kopf. Konzentriere mich auf Jays Hinterkopf. Gleich viel besser. Ich vermisse meine Mutter kein bisschen. Ich vermisse diese zeit nicht.
Ein Blick nach vorne bietet mir einen geilen Ausblick auf das Tal. Es liegt Schnee, die Weihnachtsdekoration strahlt mir bereits aus dieser Entfernung entgegen... Ich gerate jedes Mal darüber ins Staunen.

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