Kapitel 23
Kennst du Connor?", möchte ich von dem Jägerssohn wissen. Doch er hat kein Gesprächsbedarf. Nackelig wie ich bin eile ich ihm hinterher. Abrupt bleibt er stehen. „Ja, kenne ich. Du auch?"
„Wir sind Freunde."
Argwöhnisch hebt er eine Augenbraue, als er sich zu mir dreht. „Ich bin ebenso mit ihm befreundet."
„Komisch, dass wir uns noch nicht kennengelernt haben. In etwa einer Woche, wenn wir wieder zurück nach Hause finden, gehe ich mit ihm an die Polizeiakademie. Gehst du dort auch hin?"
„Ja."
„Echt?"
„Ja doch", antwortet er leicht genervt.
„Okay. Das ist merkwürdig. Wirklich merkwürdig. Sag jetzt nicht, du kennst auch meine anderen Freunde Heidi und Peter."
„Doch, mit denen bin ich ebenfalls befreundet."
„Beweise es - bitte."
„Heidi hat einen Schweizer Akzent und möchte Schriftstellerin werden. Sie ist die Tochter von Mutter Geißlein. Sie hat viele große Brüder und noch ein paar kleine Geschwister. Ach ja und Connor ist ihr Halbbruder. Das weiß ich erst seit kurzem. Peter ist ebenso der Sohn von einem Jäger, besser gesagt einer Jägerin. Bist du zufrieden? Oder reicht das noch nicht aus, um dir zu beweisen, dass wir die gleichen Freunde haben? Was ist daran denn schlimm?", ich habe ihn wohl verärgert mit meinen Fragen.
„Und ihre beste Freundin heißt Valerya Marie", ergänze ich trotzdessen unbeirrt. „Mich wundert es nur, dass wir bald auf die gleiche Akademie gehen und dieselben Freunde haben, uns jedoch noch nie gesehen haben. Wundert dich das denn nicht?"
„Überhaupt nicht", meint er mürrisch.
Er macht die Tür vor uns auf und beendet dadurch unser eher einseitiges Gespräch. Er will wohl nicht mit einem wie mir reden. Wahrscheinlich langweilige ich ihn zu Tode. Mit gutem Gewissen folge ich ihm zu dem Schrank, den Hunter nun öffnet. Darin befinden sich tatsächlich Klamotten. Der Jägerssohn zieht sich ein Paar heraus und lässt mich ohne weitere Worte allein. Ich wühle mich durch die Kleidungsstücke, doch es sind alles nur Kleider, beziehungsweise Klamotten für die Frau. Dieser Mistkerl. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das ist definitiv ein schlechter Scherz. Trotzdem, denn ich fange wieder an zu bibbern, nehme ich die Klamotten heraus und ziehe sie mir über. Jetzt trage ich ein grünes Kleid mit einem lilanen Saum. Als Schuhe habe ich solche Holzcrocs wie im Mittelalter an. Ich frage mich echt, wo wir hier gelandet sind. Oder lautet die Frage eher, wann wir gelandet sind? Vermutlich. Höchstwahrscheinlich. Wir werden abwarten müssen.
Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck gehe ich durch die Tür auf einen Flur. Ein kalter Wind pustet mir entgegen, dem ich folge. Ich verschränke die Arme vor meinem Brustkorb, um mich halbwegs vor der Kälte zu schützen. Nach wenigen Schritten verstehe ich, wieso mir noch immer kalt ist. Hunter hat die Hautür gefunden, welche er nun weit offen stehen hat. Als er mich bemerkt, grinst er schief. Das bekräftigt mich jedoch nur noch mehr, wütender auf ihn zu sein. „Du wusstest, dass die anderen Sachen für Frauen waren, stimmt's?"
„Stimmt vollkommen. Hier", er wirft mir etwas pelziges zu. Angeekelt versuche ich gar nicht erst, das es aufzufangen. „Setz das auf, damit du aussiehst wie ein Mädel. Keine Ahnung, wo wir hier sind, aber ich glaube, die schätzen es nicht, wenn ein Junge die Sachen eines Mädchens trägt, habe ich das Gefühl."
Ach, hat er das Gefühl?! „Warum hast du dich nicht als Mädchen verkleidet?", erzürnt balle ich meine Hände zu Fäusten.
„Hast du mich gesehen und hast du dich einmal angesehen? Wer sieht da mehr aus wie ein Mädchen? Du oder ich? Da tippe ich auf dich. Ich bin um einiges muskelbepackter als du, mein Freund."
„Ich bin nicht dein Freund", wehre ich nicht erfreut ab.
„So viele Fragen wie du mir aus reinem Interesse gestellt hast, wärst du es vielleicht gerne", kommentiert er, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
„Können wir raus, Mädel? Ich würde nur zu gerne herausfinden, wo wir sind. Entweder wir halten zusammen oder du erfrierst hier kläglich, weil du nicht bereit bist, Sachen zu tragen, die mir nicht passen würden, nur da sie angeblich für Mädchen sind. Außerdem sieht es komisch aus, wenn zwei Typen zusammenwohnen je nachdem in welcher Zeit wir uns befinden. Also halt bitte endlich die Klappe und hör auf zu nörgeln."
Erneut verschränke ich meine Arme vor der Brust, doch ich ermuntere mich dazu, seinen Worten nicht zu widersprechen. Gemeinsam gehen wir durch die Tür. Dort werden wir von einer leisen Weihnachtsmelodie empfangen. Verwundert suche ich nach einer Box, aus der die Musik trudeln könnte, doch es ist nichts zu erkennen. Komisch. Äußert komisch. In was bin ich da nur gelandet? Wo und wann? Wie? Warum? Diese Fragen schwirren mir durch den Kopf, drohen, mir Kopfschmerzen zu bereiten. Auch Hunter dreht sich auf der Suche nach einer Lautsprecherbox in alle Himmelsrichtungen. „In meiner Erinnerung war bei uns noch kein Weihnachten, nicht mal Adventszeit oder Herbst. Es war Sommer."
„In meiner auch", stimme ich nachdenklich zu.
„Komm mit, wir gehen der Sache auf den Grund. Vielleicht sind wir ja in der Schweiz, den Alpen oder so gelandet und können Heidis Dingsda finden", schlägt der Typ vor.
„Meinst du ihren Opa, den Alpöhi?", gehe ich darauf ein.
„Genau. Hab ich doch gesagt."
„Klar", brumme ich.
Wir gehen ein Tal hinunter. Nach einiger Entfernung drehen wir uns nahezu zeitgleich zu dem Gebäude um, in dem wir aufgewacht sind. Es ist eine Hütte ganz aus Holz mit einem Stapel, auf dem sich noch mehr Holz, jedoch zum Heizen, befindet und mit einem Dach voll glänzendem Schnee. Wow. Was für ein Traum. Aber ist das möglich? Von einer Welt im Sommer in einer Winterwunderlandwelt zu landen? Gibt es anderswo außer im Traum? Im Traum! Das ist es? Ich zwicke mir in den Arm, um mich aufzuwecken. Nichts geht, nichts verändert sich. Es hätte ja auch zu schön sein können, wie jeder andere Mensch aus einem Schlaf in seinem Bett aufzuwachen. „Was machst du da?", fragt Hunter, als er sieht, was ich versucht habe.
„Sieht man das nicht?", versuche ich mal auf seine arrogante Art zu sprechen. „Ich habe versucht, mich zu wecken. Aber vielleicht ist das gar nicht mein Traum, sondern deiner."
„Was würde passieren, wenn ich mich jetzt kneife und es meine Traumwelt wäre? Bist du dann immer verloren?"
„Woher soll ich das wissen? Versuche es einfach. Mehr als das ich hier bleibe, kann ohnehin nicht passieren. Außerdem wüssten wir dann wenigstens die ganzen Antworten auf unsere Fragen. Das wäre echt hilfreich. Also Versuch es, damit wir guten Gewissens sein könne, aber versprich mir, dass, wenn ich nicht zurückkehre, du zu meiner Familie gehst und ihnen sagst, dass ich sie liebe."
„Mache ich", sagt er zuversichtlich.
„Wirklich? Versprochen?"
„Versprochen", murmelt er und in mir keimt Misstrauen auf, doch ich ignoriere es. Er ist nun unsere einzige Chance, so wehmütig mir dabei sein mag.
Ohne ein weiteres Wort kneift er sich feste. Auch bei ihm passiert nichts. Aus reiner Verzweiflung kneift er sich immer wieder. Betrübt lasse ich mich hingegen mit dem Po voran in den Schnee plumpsen. Es ist aussichtslos. Irgendwann sage ich, er soll aufhören sich selbst zu verletzten, wenn es eh keinen Zweck hat. Erst lässt er sich daher neben mich in den Schnee fallen, springt dan wieder auf und zieht mich hoch. Er stapft den Hügel hinunter. Der Schneefall setzt wieder ein. Und wäre ich in einer anderen Situation, ich schwöre, ich hätte den Kopf in den Nacken gelegt und mit der Zunge die Schneeflocken aufgefangen. „Was hast du vor?"
„Da!" Einige Häuser kommen in Sicht. Rasant laufen wir darauf zu, stolpern, zumindest tue ich das, fast eher runter. Unten angekommen erwarten uns die allerköstlichsten Gerüche. Von Gewürzspekulatius über Lebkuchen bis hin zu den vermutlich besten Plätzchen der Welt. Die Häuser sind anders als unsere Hütte. Es sind Fachwerkhäuser, die noch schöner sind als die in unserer Märchenwelt, aber das liegt wahrscheinlich an dem zusätzlichen Schnee auf Dächern und Fensterbänken. Die Fensterläden sind in bunten Farben. Auch die Häuser selbst sind nicht alle schlicht weiß mit braunen Balken, sondern mal grün mit den braunen Balken, mal blau, mal ein leichtes rosa. Es ist traumhaft schön. Unser Wald ist märchenhaft schön, aber das... das übertrifft nicht nur so einiges, ne, es übertrifft alles. Hier und da stehen bunt geschmückte Tannenbäume, anderswo sieht man einen Kranz an der Tür. Die Straßen werden mit altmodischen Laternen erhellt. Ein Traum. Dieser Gedanke geht mir noch tausendmal durch den Kopf. Doch auch Hunter kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus. „Das ist der Hammer. Sicher, dass wir nicht einfach hier bleiben?"
„Willst du denn gar nicht zurück zu deiner Familie?"
„Nope. Nur zu meinen Freunden, wenn überhaupt."
„Du hegst wirklich einen regelrechten Hass gegen deine Familie, oder?" Ich vermisse meine Familie jetzt schon, er hingegen würde nicht mal nach einem Jahr eine einzelne Träne vergießen. Liegt es daran, dass es heißt, wir Männer zeigen keine Gefühle in Form von Tränen, weil wir jemanden vermissen? Vielleicht bin ich auch einfach wegen den ganzen Mädchen im Haus verweichlicht, aber das ist mir so egal. Ich bin stolz darauf, ich zu sein, derjenige zu sein, der ich bin. Ich denke, ich habe ein gutes Einfühlungsvermögen und das mag ich an mir, glaube ich. Deswegen gab Mutter mir den Tipp mit der Polizeiakademie. Sie sagte, ich könnte mich gut in die Täter sowie auch die Opfer hineinversetzen. Ich könnte gut zuhören und das kann ich zu meinen Gunsten nutzen, um beiden Seiten - den Guten und den Bösen, wenn man es so haben will - zu helfen. Manchmal sagen meine Schwestern jedoch ebenso, ich sei zu naiv. Solange es eine gute Mischung aus beiden ist, denke ich das nicht verheerend.
„Tue ich."
Der Jäger zieht mich hinter sich her in einen Laden, auf dem obendrüber geschrieben steht: De Vils Bastarde. Ich schlucke. De Vil wie in Cruella De Vil? Vielleicht ist es ja nicht die böse Cruella aus dem Disneyfilm. Am besten gehe ich hier nie mit Pongo lang. Glücklicherweise haben wir ihn heute in der Hütte gelassen. Hauptsache, wir bleiben nur heute in dieser Welt. Schnell eile ich Hunter hinterher und flüstere meine Sorge in sein Ohr.
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