> Part 82

Irgendwie wusste ich, dass der Abend nichts werden würde, zumindestens was mich betraf. Damians Freunde würden kommen, die ich bis auf Sid und diesen Carter nicht kannte (aber der kam ja eh nicht), und weder Lily, noch Leah, noch Justin würden hier sein, um sich mit mir abzugeben. Also beschloss ich kurz nachdem die ersten von Damians Gästen da waren, mein Zimmer abzuschließen und zu lesen oder so. Die Musik war von unten zwar zu hören, aber noch war sie nicht so laut, dass sie störend war. Ich hatte 35 Seiten gelesen, als jemand anfing in regelmäßigen Abständen an meiner Zimmertür zu hämmern. Klopf, Pause, Klopf, Pause. Es wurde nervig. Seufzend legte ich mein Buch beiseite und stand auf, drehte den Schlüssel in der Tür um und öffnete diese. Prompt wurde mir ein Tennisball in den Bauch geworfen.

,,Scheiße, Mann, was soll das?", rief ich empört und starrte das Pärchen an, das an der geschlossenen Tür des Gästezimmers, welches gegenüber von meinem war, saß und mich ebenso anstarrte. Doch ich bekam außer dem kindlichen Gekichere keine Antwort, woraus ich schloss, dass sie schon angetrunken waren. Das ging aber schnell. Gerade als ich wieder in meinem Zimmer verschwinden wollte, kam ein großer, blonder Junge die Treppe herauf.

,,Justin", sagte ich überrascht. Der ältere Junge und das Mädchen schauten uns vom Boden aus an, doch inzwischen hatten sie mit dem ewigen Werfen aufgehört. ,,Du hier?"

,,Ich hier", bestätigte er grinsend und warf ein Blick auf unser Publikum. ,,Willst du nicht sehen, wie zerwüstet euer Haus bereits ist?"

Ich machte große Augen. ,,Es ist halb zehn!"

Er zuckte die Schultern. ,,Ich denke, es kommen noch mehr. Ich bin auch mit 'nem Freund gekommen, der eigentlich gar nicht eingeladen war. Anscheinend möchte Damian fett feiern. Komm, wir gehen nach unten."

Als er sah, dass ich mich sträubte, rollte er die Augen und machte Anstalten mich am Ellbogen mitzuziehen, aber ich wollte wenigstens noch meine Tür abschließen, damit die beiden hier nicht auf dumme Ideen kommen konnten.

Unten war es zwar nicht so viel, wie ich es mir ausgemalt hatte, doch voll war es auf jeden Fall. Die Musik war überhaupt nicht mein Ding, aber das Schlimmste war der Geruch. Es war stickig, obwohl die Terassentür weit aufstand. ,,Oh, wie ich Partys liebe", sagte ich sarkastisch zu Justin, der neben mir stand und genau wie ich das Wohnzimmer überblickte.

,,Entspann dich, es ist Halloween", sagte er und grinste.

***

Dass heute Helloween war, wurde langsam deutlich, denn mit der Zeit fiel mir auf, dass die Leute  - die ich alle nur vom Sehen oder gar nicht kannte - horrorartige Verkleidungen trugen, oder sich so benahmen, wie betrunkene Teenager sich an Halloween nun mal benahmen. Ein Typ tippte mir zum Beispiel auf die Schulter, und als ich mich umdrehte, schrie er mir so laut ins Ohr, dass ich reflexartig zurückwich und über die Füße eines anderen Jungens stolperte. Dieser trug weiße Kontaktlinsen, die in diesem komischen Licht besonders aufleuchten und als er grinste, sah ich, dass er seine Zähne rot angemalt hatte. Naja, und das waren noch die Harmlosesten.

Irgendwann ging ich ins Bad, wo ich erstmal zwei Mädchen herausscheuchen musste, und da erwartete mich der nächste Schock. Bevor ich tatsächlich aufs Klo ging, schaute ich in den Spiegel, um zu überprüfen, wie fertig ich aussah und da fiel mir der weiße Duschvorhang auf, der mit roten Handabdrücken und einer vermeindlichen Blutspur übersehen war. Erst auf dem zweiten Blick sah ich die Gestalt, die mit gesunkenem Kopf in der Dusche stand.

Scheiße, wie ich schrie. Ich konnte nicht anders, doch mein Geschrei war über die laute Musik hinweg nicht zu hören. ,,Verdammt!!", keuchte ich als die Gestalt, die sich übrigens ein weißen Laken übergezogen hatte, seinen Kopf hob und lachte. Es war Sid.

,,Du hast mich zu Tode erschreckt", sagte ich wütend.

,,Dafür siehst du aber noch ziemlich lebendig aus", gab er wieder und betrachtete sich im Spiegel. Sein rotes Haar fiel ihm leicht ins Gesicht und ich sah, dass er sich dunkelrote Kratzspuren ins Gesicht und an seinem Hals gemalt hatte. Ich murmelte nur irgendwas Unverständliches und öffnete die Tür, damit ich in Ruhe pinkeln konnte. Das tat ich dann auch, doch vorher überprüfte ich nochmal alle Eckes des Badezimmers.

,,Ich dachte schon Edward hat dich aufgefressen oder so", sagte Justin, als ich ihn endlich wiederfand. Ungefragt drückte er mir eine Bierflasche in die Hand, die ich skeptisch anschaute.

,,Edward?"

,,Ja, der heißt doch so? Der Vampir, mein ich. Edward und Bella?" Ich nickte zustimmend. ,,Da hinten ist einer, der sieht genauso aus." Er zeigte in eine Richtung, doch es waren so viele auf einen Haufen, da konnte ich den geheimnisvollen Edward nicht ausmachen.

,,Du bist ja gar nicht verkleidet", bemerkte ich.

,,Du auch nicht", erwiderte er und nahm ein Schluck von seinem Bier. ,,Ist das dahinten Damian? Scheiße." Er lachte. Damian entdeckte ich komischerweise sofort, obwohl ich nichtmal sein Gesicht erkennen konnte. Allein seine Boots reichten mir, um ihn auszumachen. Auch er trug so eine widerliche Maske auf seinem Gesicht, die er vermutlich geschenkt bekommen hatte. Der Mund der Maske war ein klaffendes Loch mit ein paar vereinzelten, spitzen, blutverschmierten Zähnen, die schief aus dem Mund herausragten. Die Nase war auf einer Seite ganz aufgerissen und die Wangen sahen irgendwie tief vernarbt aus. Aufjedenfall war dort sehr viel rot. Damians Augen jedoch waren zu erkennen, doch er trug auch Kontaktlinsen, wodurch seine Augen einfach nur weiß waren.
Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und hielt eine Wodkaflasche an der Mundöffnung der Maske. Ich bezweifelte, dass Wodka auf Ex eine gute Idee war, aber was mich viel mehr störte war, dass er, nachdem er laut lachend die Flasche in die Luft gehoben hatte, das Mädchen neben ihm an die Taille packte, sodass sie sich in seinen Armen zurücklehnte und er so tat als würde er ihr in ihr Hals beißen. Ich hörte sie laut lachen und ein Stich der Eifersucht ging durch mein Körper. Ich glaube, das Mädchen hieß Marie.

Justin warf mir einen komischen Blick zu, als ich unbewusst die Bierflaschenöffnung an meinen Mund führte. ,,Was?"

Er zuckte bloß die Schultern und trank selber einen Schluck. ,,Wir sollten uns auch irgendwas Blutrünstiges zulegen", sagte er dann und zog mich in die Menge.

***

Anderthalb Biere später beschloss Justins Freund, der übrigens Louis hieß, 'um die Häuser zu ziehen' und Justin und ich wollten unbedingt mitgehen. Das unbedingt kam daher, weil ich leicht angetrunken war (es war ja bekannt, dass ich nicht allzu viel vertrug) und irgendwie fand ich es lustig in unserem Zustand herauszugehen. Justin hatte einem Typen ein ziemlich echt aussehendes Plastikmesser abgeluchst und zudem noch ein blutunterlaufendes, echt glitschiges Auge, dass er sich tatsächlich zwischen die Zähne klemmte und mich damit angrinste. ,,'oll, oder?"

Begeistert nickte ich. Schließlich schmierte er mir noch ein wenig Kunstblut unter die Augen und in die Mundwinkeln, verwuschelte meine Haare und patschte mir mit seiner rotgefärbten Hand auf mein Schlüsselbein, sodass er dort ein Handabdruck hinterließ. ,,Naja, besser als nichts", grinste er als wir
zusammen mit Louis und ein paar anderen - für mich fremden - das Haus verließen. Mir war zwar nicht so wohl dabei, die ganzen Gäste alleine im Haus zu lassen, aber Damian war ja auch noch da und es war seine Party.

Selbst draußen standen Leute, jeder hatte entweder ein Bier in der Hand oder ein Becher, in dem sich, glaube ich, Wodka befand. Wie aufs Stichwort hob Louis eine durchsichtige Wodkaflasche hinter seinem Rücken hervor und nahm einen großzügigen Schluck davon, als wir losgingen. ,,Ich hab auch noch 'n Joint dabei, falls irgendwer Interesse hat." Ich runzelte die Stirn, sagte aber nichts und ging leicht federnd neben Justin her. Plötzlich fiel mir Riley ein, die heute leicht bekleidet hinter diesem breiten, tättowierten Typen in Carters Wohnung aufgetaucht war. Bevor ich mir überlegen konnte, wann und ob ich dieses Thema ansprechen sollte, bot er mir ein Schluck von seinem Bier an, dass er mitgenommen hatte und ich trank es. Ich wusste nicht, was mich dazu brachte mit Leuten um die Häuser zuziehen, die ich außer Justin überhaupt nicht kannte und die noch dazu Alkohol und Drogen dabei hatten. Und wieso ich dann auch noch trank. Das passte überhaupt nicht zu mir, aber warum sollte ich die Einzige sein, die keinen Spaß hat? Damian hatte es schließlich auch. Ich trank noch ein Schluck, bevor ich die Öffnung mit meinem Pulli abwischte und die Flasche schließlich Justin zurückgab, der es lächend entgegennahm. Wir gingen bis in die Stadt und ich dachte, dass unsere Gruppe ziemlich auffiel, da die anderen die ganze Zeit laut redeten und immer wieder fremde Leute ansprachen, die schnell das Weite vor uns suchten. Doch wir waren nicht die einzigen Jugendlichen, die Halloween feiern wollten. Als wir an dem großen Platz ankamen, an dem ich mich mal mit Lily verabredet hatte, sah ich panisch die vielen Leute, die in Gruppen standen, was mich meine Unterhaltung mit einen von Louis' Freunden unterbrechen ließ. Scheinbar fand irgendein Treffen statt.

Etwas nervös rückte ich näher an Justin heran, der neben mir herging und unsere Unterhaltung verfolgt hatte. Er lachte bloß. Louis ging auf eine Gruppe von Jungs zu, die definitiv älter waren als wir. Ich hörte nicht, was er sagte, doch ich sah ihn immer wieder mal lachen. Ein paar Minuten später winkte er uns zu sich. ,,Das ist - wie heißt du noch gleich?"

Ich musterte den großen Mann. Er hatte Dreadlocks, die in einem dicken Zopf gebunden waren und in seiner Nase steckten mehrere Ringe. Sein Bart reichte bis zu der Hälfte seines Halses und in der Dunkelheit, die hier auf dem Platz nur von Straßenlampen erhellt wurde, konnte ich außerdem noch die Tattoos erkennen, die aus seinem T-Shirtausschnitt herausragten. Anders wie die meisten anderen hier, trug er keine Verkleidung. ,,Maik", antwortete er und ich verschluckte mich. Noch so einer.

Maik schaute mich nun zum ersten Mal an; so wie er diesmal mich musterte, wurde mir ganz unwohl, doch ich hielt seinem Blick stand bis er breit grinste und sich wieder Louis zuwandte. ,,'n Kumpel kommt gleich mit etwas Stoff zum Rauchen ... also falls ihr nicht solche Schlappschwänze seit, könnt ihr ja bleiben."

Einer von Louis Freunden sagte: ,,Wir haben selber was dabei."

Und dann meinte einer von Maiks Freunden lachend: ,,Dann brauchen wir ja auch keine Zeit zu verschwenden."

Zehn Minuten später fanden wir uns an einer kleinen Mauer sitzend wieder. Louis hatte seinen Joint angezündet und ich fühlte mich so fehl am Platz, wie noch nie. Ich meine - ich und jointrauchende Männer, das passte einfach nicht. Natürlich weigerte ich mich, als mir der bereits benutzte Joint angeboten wurde und ich war froh darüber, dass Justin ebenso ablehnte.
,,Das machen die nicht immer", sagte Justin und beugte sich dabei ein wenig zu mir rüber. Wir hockten beide nebeneinander auf dem kalten Steinboden.

,,Ich beschwer mich doch nicht", gab ich zurück und blickte zu Maik, dem man deutlich anmerkte, dass er stoned war. Ebenso Louis und seinen ganzen anderen Freunden.

Ich ließ meinen Blick über die anderen Leuten wandern, die hier auch waren. Manche waren älter, manche jünger und außer mir waren hier noch viele andere Mädchen. Meine Augen blieben an einem ganz bestimmten Mädchen hingen. Ihre dunklen Haare waren in der schwachen Dunkelheit kaum zu erkennen, doch ihre Größe, die Länge ihrer Beine und die Art, wie sie ihren Kopf in den Nacken warf, als sie über etwas scheinbar sehr Witziges lachte, kam mir bekannt vor. Es war Leah.

Sie war mit einer Freundin hier, die ich kannte, und dann noch mit zwei Typen, die ich widerum noch nie gesehen hatte. In ihrer Hand befand sich eine Bierflasche und um ihre Schultern lag eine Art Umhang oder so. Sollte ich zu ihr hingehen? Vielleicht war gerade nicht der perfekte Augenblick um über alles zu reden, aber wann sah ich sie denn schon wieder? Natürlich könnte ich sie anrufen oder sie einfach besuchen, doch ich wusste, dass ich mich letztendlich doch nicht dazu überwinden könnte.

Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich gar nicht mitbekam wie Maik aufgestanden war, bis es lauter wurde. Ich drehte mein Kopf zur Seite und sah gerade noch, wie er einen Jungen, der ungefähr in unserem Alter war, brutal zur Seite schubste.

,,Fick dich, Mann!", rief der Junge wütend und ging auf Maik zu, rammte ihn an der Schulter. ,,Ich und jeder Andere weiß, was für eine männliche Schlampe du bist."

Selbst im Dunkeln sah ich die Adern an Maiks Hals, die, je wütender er wurde, umso dicker wurden. ,,So sprichst du nicht mit mir", murmelte er, so bedrohlich, dass ich eine Gänsehaut bekam. Inzwischen hatten sich mehr Leute zu uns gesellt, die die beiden bloß anstarrten, anstatt dass sie dazwischen gingen, bevor irgendwas passierte. Maik riss den Jungen an seiner Jeansjacke zurück und schmiss ihn heftig zu Boden. Dann schlug er ihm ins Gesicht.

Ich wusste nicht, ob seine Aggressivität an dem Alkohol oder dem Joint lag, ich kannte ihn ja nicht, doch das war schließlich keine Entschuldigung. ,,Wieso hilft denn keiner?", fragte ich Justin panisch und zupfte an seinem Jackenärmel. Ich sah zu der immer größer werdenen Menschenmenge, und entdeckte schließlich Leah. Ich blickte zu den Kämpfenden, wobei eigentlich nur Maik 'kämpfte' und das brutal. Der Junge lag unter ihm, und sein Gesicht war inzwischen blutverschmirrt.

,,Justin!", schrie ich, während ich in Leahs Augen blickte. In dem Moment sah sie genau in meine Richtung und ihre Augen wurden noch größer als sie es ohnehin schon waren. Ihr Blick huschte von mir zu den beiden Jungs, und dann wieder zu mir und ich konnte erkennen, dass sie nicht guthieß, was da soeben passierte und sogar besorgt war. Doch anscheinend würde sie nicht eingreifen. Keiner hier würde das, bevor es zu spät war. Eine Wut überkam mich.

Immer schauten sie nur zu. Nie kam jemand zur Hilfe, wenn man genau diese dringend benötigte.

Ich sprang auf und drängte mich in die Menge. Irgendwie spürte ich Leahs und Justins Blick auf mir, Justin auf der einen, Leah auf der anderen Seite. Ich wusste nicht, was ich tun wollte, und ich wusste, dass es total idiotisch von mir war, zu denken, dass ich - ein kleines Mädchen - irgendwas gegen einen aggressiven Mann ausrichten könnte, der noch dazu völlig high war. Doch ich wollte nicht so sein, wie alle anderen und immer bloß zuschauen und nichts machen.

Ich ging auf Maik zu, der die Hand gerade zu einem erneuten Schlag hob. Da er sich gebückt hatte, kam ich gut an seinen Kopf ran, also stellte ich mich hinter ihm und riss so doll ich konnte, seinen Kopf an den Haaren zurück. Er schrie überrascht auf und schlug blind nach mir. Irgendwas spürte ich an meiner Schulter, wahrscheinlich seine Faust, doch bevor ich es überhaupt realisieren konnte, trat ich ihm mit voller Wucht in die Eier. Es ging zu schnell, ich tat es bloß aus Reflex. Eigentlich wollte ich ja die wenigen Tricks anwenden, die ich beim Kickboxen gelernt hatte, doch ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Maik stöhnte auf und wich ein wenig zurück, ging noch mehr in sich ein. Na schön, und was jetzt? In wenigen Sekunden würde er sich von seinen Schmerzen erholen und dann? Ich stand hier und wusste nicht, wie es weitergehen würde. Wahrscheinlich würde er mich gleich auch so windelweich prügeln. Sein Blick traf meinen und ich sah die Wut darin. Mein Herz pochte. Ich sollte weglaufen.

Doch dann tauchte Justin hinter mir auf. Erleichterung durchflutete mich. Er ging auf Maik zu und ich konnte deutlich erkennen, wie nervös er war, doch er war auch entschlossen. Ich musste zwei mal hinsehen, als ich zusah, wie er Maik einen Kinnhaken verpasste, den er nicht vorausgesehen hatte. Zwar schlug er zurück, doch da hatte Justin ihn schon auf den Boden geschubst und sich auf ihn gesetzt, wobei er Maiks Hände festhielt. Das war pures Glück angesichts der Gewaltätigkeit von Maik. ,,Beruhig dich, Alter!", brüllte Justin ihn an. Nur mit Mühe hielt er ihn an Boden.

Hastig ging ich zu dem Jungen, der immer noch am Boden lag. Sein Gesicht war angeschwollen, seine Lippen und eine Stelle über seine Augenbraue aufgeplatzt, doch seine Augen waren noch geöffnet. Langsam verteilte sich die Menge wieder. Dreckskinder, dachte ich.

,,Ist alles okay?", fragte ich ihn. ,,K-kannst du aufstehen? I-ich kann versuchen -"

,,Ich - mir gehts gut", sagte er. Als ich mich umschaute um nach eventueller Hilfe zu suchen, sah ich, dass Leah mich immernoch anschaute. Zwischen ihrer Augenbraue hatte sich eine Falte gebildet; sie sah traurig aus. Ich schaute weg, bevor ich ihm half, aufzustehen. Hinter mir hörte ich Maik fluchen.

,,Ich glaube, ich sollte verschwinden", nuschelte der Junge, denn mit seiner geschwollenen Lippe konnte er nicht so gut reden. Er sah mir direkt in die Augen. ,,Ich - also, danke. Für die Hilfe."

,,Aria, komm, wir müssen weg", drängelte Justin, der plötzlich neben mir aufgetaucht war und mich am Arm wegziehen wollte. Ich sah, wie Maik gerade dabei war sich aufzurichten. Ich warf dem Jungen noch einen Blick zu, bevor ich so schnell wie möglich von dem Platz rannte, Justin hinter mir.

Irgendwann, nach einer Ewigkeit, hielt Justin mich am Ellbogen zurück. ,,Warte", sagte er atemlos. ,,Ich glaub, er ist uns nicht gefolgt. Warte!"

Ich stützte meine Arme auf meine Knie und keuchte. Scheiße. Adrenalin durchflutete meinen Körper gemischt mit dem Alkohol. Ich fühlte mich gleichzeitig gut und sehr miserabel. ,,Scheiße."

,,Das kannst du laut sagen!"

,,SCHEIßE", schrie ich, immer noch keuchend. Justin lächelte leicht, bevor er mich weiterzog, diesmal gingen wir jedoch, anstatt zu rennen.

,,Du warst so mutig, Aria", sagte er dann. Ich sagte nichts. ,,Er wäre im Krankenhaus gelandet, hättest du nichts gemacht."

,,Er hätte mich fast genauso zugerichtet", sagte ich. Nach einer Pause sagte ich: ,,Ich wollte nicht einfach nur zuschauen, wie ihm wehgetan wird. Das hat nichts mit Mut zu tun. Nur ... ich weiß, wie schlimm das ist. Ich hatte Scheißangst."

Wir bogen um die Ecke, und ich konnte schon von Weitem das Haus sehen.

,,Die hatte ich auch", gab er zu. ,,Trotzdem. Du kannst stolz auf dich sein."

Ich lächelte nur, teils, weil ich nicht wusste, was ich erwidern sollte, teils, weil mir nicht nach Reden war. Ich konnte immer noch nicht glauben, was gerade passiert war.

Auf dem kurzen Stück Rasen vor unserem Haus lagen viele Flaschen Bier herum. Ich wusste schon jetzt, wer das alles aufräumen durfte.

Während Justin Louis anrief, um zu fragen, ob alles okay war, ging ich in die Küche um mir ein Glas Wasser zu holen. Das Mädchen, von dem ich glaubte, dass es Marie hieß, lehnte mit geschlossenen Augen an unserer Arbeitsplatte - scheinbar ging es ihr nicht sonderlich gut. Mir fiel ein dunkler Bluterguss an ihrem Hals auf und mein erster Gedanke war: Damian. Aber das musste doch nicht sein, oder? Vielleicht war der Knutschfleck schon ein, zwei Tage alt oder sie hatte ihn sich heute von jemand Anderen geholt. Meine erster Impuls war, sie zu fragen, doch natürlich tat ich es nicht. Stattdessen trank ich mein Wasser aus und ging ins Bad, wo ich mir die Farbe aus dem Gesicht und Dekolleté wusch, da sie langsam anfing zu brennen.

,,Alles gut", erzählte Justin als ich ihn wiederfand. Ich nickte. Das was gut.

,,Wieso hast du Riley nicht mitgebracht?", fragte ich dann vorsichtig.
Er zuckte mit den Schultern. ,,Sie hatte heute keine Zeit."

,,Also ist zwischen euch alles gut?"

,,Ja, im Moment schon", sagte er und grinste. ,,Das wird sich mit Sicherheit bald wieder ändern." Wenn ich ihm erzählte, dass Riley ihn betrog, dann ganz bestimmt. Doch hatte ich überhaupt das Recht dazu? Ja. Ich war seine Freundin. Doch wollte ich das überhaupt? Nein. Aber ich wusste, dass ich es sollte, nur ... wann war der passende Zeitpunkt? Jetzt? Morgen? Nächste Woche? Keine Ahnung.

***

,,Justin, nööö", jammerte ich. ,,Du kannst mich nicht in meinem eigenen Haus zu Trinkspielen zwingen. Das macht mir kein Spaß. Ich bin fertig für heute."

Er blieb erst stehen als wir auf der Terasse standen, wo sich mehrere Leute in einen Kreis gesetzt hatten. ,,Erstens", murmelte er. ,,Ich zwinge dich nicht. Zweitens, es wird dir Spaß machen. Spätestens nach dem drittem Schluck. Du brauchst ein wenig Ablenkung."

Dann zwang er mich, mich zu setzen und er ließ sich neben mir nieder. Auf der anderen Seiten saß ein Mädchen, die circa zwanzig und schon sehr betrunken war. Als letztes kam Damian dazu, und ich wollte sofort wieder aufstehen. Heute morgen war noch alles gut zwischen uns und jetzt wollte ich ihm aus dem Weg gehen. Die ganze Zeit hatte ich das Bild von ihm und dem Mädchen vor Augen, dabei wusste ich ja nicht mal, ob da etwas lief.

Damian hatte seine Maske abgesetzt und sah eigentlich ganz normal aus. Naja, vielleicht etwas angetrunken, aber nicht so schlimm, wie so manch andere hier.

In der Mitte des Kreises stand eine Flasche von dem Zeug, was ich heute von Carter abgeholt hatte und jeder hatte ein Plastikbecher vor sich. Ein Junge mit schwarzen, schulterlangen Haare füllte jeden der Becher bis zur Hälfte mit Alkohol und ich wollte Justin gerade fragen, wie das Spiel überhaupt ging, als der Junge fragte: ,,Irgendwer, der nicht weiß, wie das Spiel geht?"

Ein anderes Mädchen und ich waren die Einzigen, die sich meldeten. Da entdeckte Damian mich und warf mir einen fragenden Blick zu, ganz nach dem Motto: Was machst du hier?

,,Jeder von uns hat ein Becher gefüllt mit dem Schnaps", erklärte er. ,,Dann werden ,,Hast du schon ... "-Fragen gestellt und wenn die Antwort Ja lautet, dann darf man einen Schluck aus dem Becher trinken. Wenn die Antwort Nein ist, dann nicht. Wer als Erstes seinen Becher geleert hat, hat gewonnen und muss mit dem, der am Meisten in seinem Becher hat, in ein Zimmer gehen."

,,Und dann?", fragte ich in die Runde. Der Junge verdrehte die Augen und ich sah Damian leicht lächeln. Scheißkerl.

,,Naja, Däumchendrehen wird dann wohl nicht das Progamm sein", sagte er und ich verstand, was er meinte. Ich wusste, das mir das Spiel nicht gefiel. Aber kneifen wollte ich jetzt auch nicht. Hoffentlich werde ich nicht die Verliererin sein ... das kam ganz auf die Fragen an.

,,Okay, ich fange an", meldete sich das Mädchen neben mir zu Wort. ,,Habt ihr schon mal Sex gehabt?"

Jeder außer ein rothaariges Mädchen und mir, nahm ein Schluck. Fing doch schon super an, dachte ich ironisch. Ich war froh, dass ich in der Runde außer Damian und Justin niemanden kannte.

,,Habt ihr schon mal was gestohlen?", fragte nun ein Junge. Diesmal tranken deutlich weniger, aber Damian war einer von ihnen. Hmpf.

,,Habt ihr schon mal richtig rumgemacht?" Was für eine dämliches Spiel. Sollte ich ein Schluck trinken? Es wusste zwar keiner, dass Damian derjenige war mit dem ich 'rumgemacht' hatte und auch wenn, wäre es ihnen wahrscheinlich sowieso scheißegel, trotzdem glühten meine Wangen als ich Damians Blick förmlich auf mich spüren konnte. Hastig nahm ich einen Schluck und vermied jeglichen Blickkontakt. Mein Hals brannte von dem Zeug, es war widerlich.

Die nächste Frage lautete: ,,Habt ihr heute schon irgendwen geküsst?" Diesmal schaute ich Damian ganz genau an, doch er trank nichts. Falls er nicht log, und davon ging ich aus, stammte Maries Knutschfleck also nicht von ihm.

Es folgten noch mehr bescheuerte Fragen, wie: ,,Hattest ihr schonmal einen Dreier?", ,,Habt ihr schon mal gekifft?", blablabla. Damian war glaube ich einer von denen, die in Führung lagen, denn er trank ziemlich oft (aber nicht bei der Frage mit dem Dreier, darauf hatte ich geachtet) und ich selbst trank nur noch zwei Schlucke. Das Zeug war anscheinend nicht gerade harmlos, denn bei drehte sich schon alles. Am Ende des Spiels war tatsächlich ich diejenige, die verloren hatte. ,,Hilf mir", nuschelte ich und sah hilfesuchend zu Justin. Sein Becher war so gut wie leer, aber trotzdem war noch etwas drinne.

Der Gewinner war nicht, wie ich gehofft hatte ein Mädchen, sondern ein Junge. Auf seinen Lippen war ein ekliges Grinsen zu sehen, wobei er seine Augen nicht mal mehr richtig offen halten konnte, so viel intus hatte er. ,,Na komm, Süße", nuschelte er, nahm meine Hand und bevor ich irgendwie widersprechen konnte, zog er mich hoch und wankte mit mir nach oben. Verdammt, der Alkohol hatte es echt in sich. Fast wär ich über eine Stufe gestolpert und ich bekam gerade so mit, wie er sich ausgerechnet mein Zimmer ausgesucht hatte. Ich hatte sie doch abgeschlossen? Oder nicht? Ich wusste es nicht mehr genau.

Der Junge war groß und breit. Seine Haare waren kurz und blond, und über seine Augenbraue befand sich eine tiefe Narbe. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich.

,,Hör zu", murmelte ich und setzte mich auf mein Bett. Ich stand wieder auf, als er sich neben mich setzen wollte. ,,Ich - ich will, das alles nich'."

,,Klar willsu das", gab er zurück und packte mich an der Hüfte. Die Panik kam langsam aus seinem Versteck.

,,Nein", sagte ich. Wieso hab ich mich überhaupt mit hochziehen lassen? ,,Nein, will ich nich'", wiederholte ich und schlug seine große Hand von meinem Körper.

,,Dann bisu wirklich so spießig, wie du aussiehst", sagte er verachtend.

,,Und du", ich ging zur Tür, wobei mir sehr schwindlig wurde. ,,Und du bist wirklich so schmierig, wie du aussieh's."

Dann beleidigte er mich als Schlampe, ich zeigte ihm mein Mittelfinger und wartete bis er wieder nach unten getorkelt war, bevor ich mein Zimmer verließ. Ich lehnte meinen Kopf an der Wand an, als bei mir sich alles drehte und wollte gerade nach unten gehen, um mich von Justin zu verabschieden, da ich einfach nur ins Bett wollte, als ich Damians Stimme hinter mir hörte:

,,Was habt ihr da drinnen gemacht?", fragte er, für meinen Geschmack etwas zu scharf.

,,Was denkst du denn?", gab ich schnippisch zurück. ,,Dass ich mich gleich an seinen Hals werfe und mit ihm schlafe, nur weil das zum Spiel gehört? Ich bin nicht wie du." Hätte er es gemacht?

Er zog die Augenbrauen zusammen. ,,Wovon redest du?"

Seine Haare waren verwuschelt und seine Augen ein wenig rot vom Alkohol oder so, und jetzt, wo ich ihn genau musterte, sah ich den roten Lippenstiftabdruck auf seinem grauen T-Shirt. Meine Augen fingen plötzlich an zu brennen. ,,Davon", sagte ich und er folgte meinem Blick. Dann grinste er und kam ein Schritt näher.

,,Da is' wohl jemand sehr eifersüchtig."

,,Fick dich", beleidigte ich ihn. Wieso hatte ich das gesagt? Ich schob alles auf den Alkohol. Dabei war es ja gar nicht so viel, was ich getrunken hatte. ,,Ich bin nich' eifersüchtig. Mach doch, was du willst."

Sein Grinsen wurde noch breiter, als er schließlich ,,Okay" sagte und seine Lippen auf meine drückte. Ich konnte nur noch den Wodka auf seinen Lippen schmecken, als ich ihn auch schon an der Brust von mir wegdrückte. ,,Aber nich' mit mir! Geh doch zu dieser blonden Tusse, die die ganze Zeit an dir hängt." Ich wusste zwar nicht, ob sie wirklich eine Tusse war, und sie hang auch nicht die ganze Zeit an ihm, doch es kam einfach aus mir herausgesprudelt. Ich hasste diese Eifersucht an mir und normalerweise hätte ich das auch gar nicht erwähnt.

,,Welche blonde Tusse?"

,,Sind das schon so viele, das du gar nicht mehr weißt, welche ich meine?"

,,Meinst du Marie?" Wusst ich doch, dass sie so hieß. Ich nickte bloß und wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er packte mich an der Schulter. ,,Sie interessiert mich nicht. Soll ich dir sagen, wer mich interessiert?"

,,Besser nich'."

,,Du." Du. Du. Du. Wie ein Echo spielten sich diese Wörter in meinem Kopf ab.

,,Is' klar", gab ich jedoch stur zurück.

,,Du bist unausstehlich, wenn du besoffen bist", seufzte er.

,,Danke, und selber." Ich starrte ihn einen Augenblick an und sagte dann: ,,Kannst du dich mal runterbücken?"

Leicht verwirrt beugt er sich also zu mir hin. Ich legte meine Hand an seine Wange und küsste ihn. Meine Hände wanderte von seinem Gesicht zu seinem Nacken und er öffnete überrascht seine Lippen. 

Naja, überrascht war ich selber.

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Habt ihr's auch so heiß bei euch? Ich sterbe hier, Leute. Es waren heute 37 Grad und Samstag soll es ja noch schlimmer werden. Wie sollen wir das schaffen?!?!?

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