> Part 42
Lily war nirgendswo zusehen. Meine letzte Hoffnung war die Aula, wo gerade irgendein Song von OneReplublic lief. Damian stand direkt am Eingang, ein Becher in der Hand und unterhielt sich mit irgendeinem Mädchen aus der Abschlussklasse.
Ich tippte ihm kurz auf die Schulter und er drehte sich zu mir um.
"Ehm, hey", sagte ich, "hast du vielleicht Lily hier irgendwo gesehen?"
"Nö", antwortete er. Ich gab die Hoffnung auf sie zu finden auf. Bestimmt war sie nachhause gegangen, was sollte sie auch noch hier? Vielleicht sollte ich auch einfach gehen.
Ich wollte mich gerade umdrehen und die Tür aufstoßen, als Mr McLions Stimme auf der Bühne ertönte.
"Okay, Leute", rief er gut gelaunt in das Mikro. "Bevor unsere Band zeigt, was sie kann, hab ich noch ein paar Worte zu sagen. Kommt mal ein bisschen näher ihr dahinten."
Und er begann die Worte vom letzten Jahr herunterzurattern - irgendwann hörte ich auf zuzuhören. Ob ich mich einfach rauschleichen konnte? Nach gefühlten Stunden hörte unser Direktor auf zu plappern und die Schulband fing an ihre Songs zu spielen. Inzwischen war es kurz vor 23 Uhr - um 24 Uhr war hier Schluss, also wenn kümmerte es, wen ich eine Stunde früher gehen würde?
Ich hätte eigentlich durch die Vordertür gehen können, aber ich ging schließlich doch durch die hintere Tür; ich wollte schauen, ob ich Lily vielleicht noch irgendwo fand, bevor ich ging.
Draußen war es total kalt. Ich verfluchte mich dafür, dass ich keine Jacke mitgenommen hatte. Ich zog mein Kleid, so weit es ging herunter und verstränkte die Arme vor der Brust. Ich schaute mich im ganzen Hinterhof um, wo die Mülleimer und all das standen, aber bezweifelte, dass Lily sich hier verstecken würde. Natürlich hätte ich sie auch einfach anrufen können, hätte ich mein Handy dabei gehabt. Ich weiß, es war dumm von mir gewesen, es nicht mitzunehmen, aber ich hatte keine Lust den ganzen Abend meine Handtasche mit mir zu rumzuschleppen.
Ich machte mich auf den Weg zum Schulhof. Alleine hier draußen, wo es ganz ruhig war, war es fast schon gruselig, aber ich verbot mir jeden paranoide Gedanken.
Erleichtert atmete ich auf, als ich Lily auf der Tischtennisplatte entdeckte, die etwas abseits des Schulfhofes stand.
"Lily!", rief ich von weiten und sie drehte sich zu mir. Im Dunkeln konnte ich sie kaum sehen, aber ich konnte mir vorstellen, wie sie aussehen musste - total verheult.
"Ich hab dich überall gesucht", sagte ich, als ich außer Atmen vor ihr stehen blieb.
"Sorry", murmelte sie. "Ich wollte kurz alleine sein."
Ich setzte mich neben sie auf die eiskalte Platte, aber ich ignorierte die Kälte und rückte etwas näher zu Lily. "Ich hab es ihr gesagt", sagte ich leise.
Lily schaute auf. "Wem hast du was gesagt?"
"Ich hab Mira gesagt, dass Mike dich mit ihr betrogen hat."
Sie schwieg eine Weile, bis sie sagte: "Woher willst du wissen, dass es Mira war?"
"Ist es nicht so?"
Sie zuckte bloß die Schultern. "Wie hat sie reagiert?"
"Sie meinte, er wäre ein verdammtes Arschloch und ist weggerannt", erzählte ich ihr, ließ aber Mikes Drohungen und Beleidigungen aus.
"Mhm", machte sie und sagte dann: "Ich hätte nicht herkommen sollen."
"Du konntest doch nicht wissen, dass es so kommt", sagte ich und strich mir über die Arme. "Und wenigstens ist jetzt die Wahrheit raus."
"Aber was bringt's?"
"Mike steht jetzt alleine da."
"Sie wird sowieso zu ihm zurückkommen."
"Meinst du?"
"Klar", antwortete sie. Ich konnte nicht sagen, ob ich Traurigkeit in ihrer Stimme mitschwang.
"Würde es dir was ausmachen?"
"I-ich weiß es nicht", murmelte sie leise und legte die Hände in ihren Schoss. "Vermutlich sollte es mir egal sein, oder?"
"Vermutlich, ja. Aber mir wäre es auch nicht egal", erwiderte ich nachdenklich. In gewisserweise war es bei mir und Damian ja auch so: Er war mit Leah zusammen und gleichzeitig küsste er mich und all das. Er betrog sie mit mir. Mit ihrer besten Freundin. Mit ihrer Cousine.
Ich spürte wie mir ein Stich durch mein Herz ging, schüttelte aber die schlechten Gedanken weg.
"Wir sollten uns ein Taxi rufen. Wenn du willst, kannst bei mir schlafen", schlug ich nach einer Weile vor. Sie nickte bloß.
"Kann ich dein Handy haben?", fragte ich sie, da ich ohne Handy ja nichts rufen konnte.
"Ich hab meine Handtasche drinnen vergessen", sagte sie dann und ich sprang von der Platte.
"Ich hol sie dann, okay? Warte hier." Ich machte mich auf den Weg zurück in die Aula. Als ich wieder rauskam, empfing mich lautes Gelächter. Mike und circa zehn weitere Leute standen vor dem Schulgebäude und alle drehten sich zu mir, als ich rauskam.
"Da ist sie ja, der kleine Nerd", rief ein Kumpel von Mike, der gerade an einer Zigarette zog. "Wenn man vom Teufel spricht." Ich ignorierte sie und ging einfach weiter die letzten Treppenstufen runter. Sie sprachen über mich?
"Denkst du wirklich dieser Fummel, den du da anhast, macht dich hübscher?", fragte ein anderer spöttisch und ich verkrampfte mich. Einfach ignorieren.
"Was ist nur los mit mir?", rief Mike mir plötzlich hinterher, mit einer viel zu hohen Stimme, als wolle er jemanden imitieren, "habe ich plötzlich andere Gefühle für ihn?"
Warte. Wieso kamen mir diese Worte so bekannt vor?
Ich blieb auf halben Weg stehen.
"Aber wer will schon mit mir zusammen sein? Wer wird mich schon je mögen? Richtig, niemand", säuselte er weiter. Nein. Bitte, bitte nicht ...
Ich drehte mich um und wünschte mir augenblicklich, ich wäre tot, als ich sah, was er in seinen Händen hielt.
Mein Tagebuch.
"W-woher hast du das?", flüsterte ich leise, bestimmt verstand er mich nicht einmal.
"Ach, Schätzchen", sagte er und grinste herablassend. "Wieso wolltest du dein kleines Geheimnis denn nicht mit uns teilen?"
"Gib es her!", schrie ich jetzt. Ich stieß ein paar Leute zuseite, die sich kaputtlachten und ging geradewegs auf Mike zu, versuchte ihm das Buch aus der Hand zureißen, aber ich war einfach zu klein.
"Ich meine ... ich bin ich", las er weiter vor, als er sich wegdrehte, "fett und hässlich. Oh, schön, dass wir uns einig sind, Miss Piggy."
Tom, sein Freund, lachte laut auf, wie auch alle anderen um mich herum.
"Bitte", murmelte ich verzweifelt. "Gib es her."
Mike packte mein Handgelenk, da ich wieder versuchte ihm das Buch aus der erhobenen Hand zureißen und zog mich zu sich. "Ich sagte dir doch, du wirst es bereuen", zischte er mir ins Ohr, als er sich zu mir herunterbeugte.
Er richtete sich wieder auf und grinste hämisch. "Was würde wohl Damian dazu sagen?", fragte er, als erwartete er tatsächlich eine Antwort darauf.
"Das frag ich mich auch, Kumpel", sagte ein schwarzhaariger Typ links von Mike.
Mike, der über meiner Schulter sah, rief plötzlich: "Hey, Damian!"
Als ich mich panisch umdrehte, sah ich Damian, wie er gerade die Treppe herunterkam, eine Zigarette in der Hand. Okay, ich bin bereit. Gott, lass mich vom Blitz getroffen werden oder so, aber bitte tu etwas!
"Was gibt's?", fragte er, als er sich zu Mike gesellte. Ich wollte weinen, einfach nur weinen.
"Sie hat's genossen", antwortete er und warf einen kurzen gehässigen Blick auf mich, bevor er sich an Damian wandt. Dieser schaute mich kurz verwirrt an.
"Was?"
"Den Kuss", erwiderte Mike selbstgefällig, "aber ganz ehrlich: ich hätte sie nicht mal im betrunkenen Zustand an mich rangelassen. Du musst wohl sehr viel intus gehabt haben."
"Wovon redest du eigentlich?" Damian war sichtlich irritiert.
Mike seufzte und hob erneut das Buch. "Vielleicht bin ich einfach nur vewirrt", las er vor, als würde ihn das ganze langweilen. Jedoch wusste ich, dass es ihm Spaß machte, mich zu demütigen und zu quälen. "Ich meine, wer wäre das nicht, wenn der eigene Stiefbruder einen küssen würde?"
"Hör auf!", unterbrach ich ihn. Würde er aufhören, wäre ich sogar auf die Knie gefallen, aber es machte ihm viel zu sehr Spaß.
Er grinste, bevor er fort fuhr, als wäre nichts passiert. "Blablabla, wieso mochte ich den Kuss, blabla. Ab da wird's langweilig; unser Schweinchen hat kein besonders großes Schreibtalent."
Ich starrte ihn einen Moment fassungslos an - er hatte es wirklich getan, er hat mein Tagebuch vor Damian vorgelesen -, als hinter mir eine Stimme ertönte.
"Du mieses Schwein", zischte Lily, die sich an mir vorbeidrängte und bevor ich mich versah, landete ihre Hand auf Mikes Wange.
Ich wollte nicht länger hier sein. Ich lief so schnell wie ich konnte vom Schulhof, ohne Lily, Mike, Damian oder die anderen Schaulustigen zu beachten und hielt erst an, als ich Stiche in meiner Seite spürte.
Was war nur passiert? Ich - ich konnte mich nie mehr zuhause blicken lassen ... oder in der Schule. Was wird Damian nur von mir denken? Oder Mike? Oder alle? Mein Herz ballerte mir gegen die Brust und es sah nicht so aus, als ob es sich in nächster Zeit beruhigen würde. Vielleicht - wenn ich Glück hatte - würde mir ja sogar aus der Brust springen und das war's dann mit mir.
Ich setzte mich auf den harten Boden und zog meine Beine an mich. Es war mir egal, dass ich mitten auf dem Gehweg saß und der Boden kalt war. Dann hol ich mir halt eine Blasen- oder Lungenentzündung. Schlimmer als jetzt konnte es doch sowieso nicht mehr kommen.
Ich blickte auf die verlassene Straße vor mir und raufte mir durch die Haare. Was sollte ich denn jetzt, verdammte Scheiße, machen? Ich wusste, dass es eine schlechte Idee war Tagebuch zu schreiben. Ich wusste, dass es eine noch schlechtere Idee war zu diesem Scheiß-Ball zu kommen. Im Grunde hatte ich auch gewusst, dass es eine schlechte Idee war sich mit Mike anzulegen. Das hatte ich jetzt davon ... selber Schuld, würde ich sagen.
Ich saß noch einige Minuten da, bis mich eine vertraute Stimme erschreckte.
"Da bist du ja." Ich fuhr heftig zusammen, als ich erkannte, wem diese Stimme gehörte. Er war der Letzte, den ich jetzt sehen wollte.
"Was willst du?", murmelte ich leise ohne aufzusehen. Ich presst meine Knie nur noch mehr an meine Brust.
"Ich hab dich gesucht", sagte er und kam einen Schritt näher, sodass ich seine Schuhe vor mir sehen konnte. Dennoch blickte ich nicht auf.
"Lass mich in Ruhe." Hatten sich die anderen nicht schon genug über mich lustig gemacht? Damian erwiderte nichts, sondern setzte sich einfach neben mich. Was sollte das denn jetzt?
Ich wollte ihn nicht anschauen, es war mir einfach zu peinlich, also starrte ich einfach auf seine Beine, die er in voller Länge auf den Boden ausstreckte und blieb stumm. Lange sagte niemand etwas und ich war auch ganz froh drum. Was hätte ich auch schon sagen sollen?
"Hier", durchbrach er plötzlich die nächtliche Stille und schob ein kleines Buch zu mir rüber, das er wahrscheinlich die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Mein Tagebuch.
"Ich hab nicht reingesehen, keine Angst", beantwortete er mir die Frage, die mir im Kopf schwirrte.
"Wieso nicht?", fragte ich, nahm das Buch in meine Hände und hielt es mir vor der Brust.
"Ich hab genug gehört."
Da war es wieder, dieses Gefühl. Diese Peinlichkeit, die in mir aufstieg. Meine Wangen fingen an zu brennen und ich zog die Beine wieder dicht an mich, sagte aber nichts dazu.
"Kann ich dich was fragen?"
"Nein", antwortete ich viel zu schnell und viel zu schrill. Bitte keine peinlichen Fragen.
Er lachte leise. "Tja, ich tu's trotzdem", sagte er. "Seit wann schreibst du Tagebuch?"
"Ich schreibe eigentlich kein Tagebuch. N-nur dieses eine mal ", stotterte ich, wunderte mich aber, dass er sich nicht über mich lustig machte.
Als er nichts sagte, nahm ich das letzte Stückchen Mut in mir zusammen, das ich besaß und fragte: "Bist du sauer auf mich?"
"Wieso sollte ich?", fragte er verwirrt. Ich ließ meine Arme gegen meine Knie fallen.
"Naja. Ich hab dich vor deinen Freunden blamiert ... oder eher gesagt Mike, wie auch immer", sagte ich leise. Er antwortete nicht gleich, sondern schien über eine Antwort nachzudenken, bei der ich mich fragte, ob ich sie wirklich hören wollte.
"Du hast mich nicht blamiert, Aria", sagte er dann aber einfach nur und ich beließ es dabei, obwohl ich wusste, dass es doch so war. Zum ersten mal schaute ich kurz auf und sah, dass er mich anschaute. Seine braunen Haaren fielen ihm auf eine total süße Weise in die Stirn und selbst in dem schwachen Straßenlicht konnte ich das Blau in seinen Augen sehen...
Nicht schon wieder, Aria, sagte ich mir und schaute schnell wieder auf meine Beine.
"Wir sollten nachhause gehen", sagte er schließlich, "es ist schon spät."
Ich nickte, zögerte dann aber. "Willst du nicht zurück?" Doch er schüttelte bloß den Kopf.
"Es war sowieso langweilig dort."
Ich rappelte sich auf, bis er in voller Größe vor mir stand und mir schließlich seine Hand hinhielt. Ich warf mein Kopf in den Nacken, damit ich ihn anschauen konnte und ergriff schließlich seine Hand, damit er mir aufhelfen konnte. Ich strich mein Kleid glatt und presste das Buch in meine Seite.
"Du frierst", stellte Damianf fest.
"Nein", murmelte ich, obwohl das leichte Zittern, welches von mir ausging, mich verriet.
Er sah mich einen Moment an, seuzfte und zog dann seine schwarze Jacke aus, die er trug und hielt sie mir hin. Jetzt trug er nur noch sein Hemd.
"Nein, wirklich, mir ist nicht kalt", protestierte ich.
"Aria", sagte er warnend und zog eine Braue hoch. Ich schaute von der Jacke zu seinem Gesicht, nahm sie aber schließlich.
"Danke", murmelte ich etwas verlegen, als ich den Reisverschluss zuzog und die viel zu langen Ärmeln ein wenig hochkrempelte; mir wurde sofort wärmer.
"Jetzt ist dir aber kalt", sagte ich zweifelnd. In diesem Moment gingen die Straßenlichter aus und der Weg lag stockdunkel vor uns. Toll.
"Und deswegen müssen wir uns auch beeilen, damit wir nachhause kommen", sagte er und überraschte mich damit, dass er meine Hand in seine nahm und mich mitzog.
Ich konnte meinen Herzschlag hören, der uns auf den ganzen Weg begleitete, während ich hinter ihm her lief.
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