> Part 36
Am frühen Abend, als ich die Haustür aufschloss und die Tür aufdrücken wollte, ging sie plötzlich von innen auf und ich erschreckte mir fast zur Tode. Mein Schlüssel fiel klirrend zu Boden.
"Ähh", stotterte ich und musste Mike wohl ziemlich bescheuert anglotzen. Was machte er hier?!
"Ein Glück, dass ich jetzt gehe", sagte er verächtlich und drückte sich an mir vorbei.
"Bye, Damian! Ich hol dich morgen früh dann ab", rief er noch, bevor er die Haustür zuknallte und verschwand.
Ich kickte meine Schuhe in die Ecke, sammelte mein Schlüssel auf und ging mit wahrscheinlich hochrotem Kopf ins Wohnzimmer. Damian saß quer über der Couch und starrte auf dem Fernseher, wo irgendein Fußballspiel lief.
"Hi", sagte ich und ließ mich auf die Couch neben ihm fallen. "Was wollte Mike hier?"
Er sah kurz zu mir rüber, aber sein Blick glitt wieder zum Spiel. "Das ist eine echt dämliche Frage, Aria."
"Wieso das denn?"
"Frag ich dich, was Leah hier wollte, wenn sie hier war?"
"Ich glaub wohl kaum, dass du was dagegen hättest", gab ich zurück.
"Ach, hast du was dagegen, dass Mike hier ist?", fragte er und hob eine Augenbraue. Ich antwortete nicht.
"Entspann dich, er wird dich hier in Ruhe lassen", sagte er. Ich konnte das anders als in der Schule fast schon heraushören. Und das er wohl öfter hier sein wird.
"Na dann", antwortete ich genervt und stand auf.
"Wieso hasst er dich eigentlich so?", fragte er und richtete sein Blick auf mich.
"Tut er das?" Ich wollte nicht mehr über Mike sprechen, aber ich bin ja selbst Schuld. Warum fang ich auch damit an?
"Liebevolle Freundschaft kann man das nicht nennen."
"Ich weiß nicht wieso, okay? Er hasst mich einfach", sagte ich und wunderte mich selbst darüber, wie gleichgültig ich klang. Vor mir tauchten aufeinmal Bilder aus Grundschulzeiten auf. Damals als wir noch Kindern waren, war alles noch anders. Mike und ich gingen zusammen auf eine Grundschule mit ein paar anderen aus meiner Klasse, die mich jetzt genauso wie Mike nicht mehr mochten. Wieso konnten wir uns früher ganz normal unterhalten, jetzt aber nicht mehr? Was war mit Mike passiert?
Als er nichts sagte, räusperte ich mich. "Ich geh dann mal nach oben", sagte ich, aber er schien mich nicht zu hören, so sehr war er in seinen Gedanken versunken.
Nachdem ich mir bequeme Sachen angezogen hatte, fischte ich das Tagebuch aus meiner Schultasche und schnappte mir einen pinken Kulli aus der Nachttischschublade.
Wie sollte ich anfangen? Liebes Tagebuch? Ne, hörte sich dumm an. Während ich überlegte und dabei am Kulli rumkaute (schreckliche Angewohnheit), schweifte ich mit den Gedanken ab. Was sollte ich überhaupt schreiben? Lily sagte, ich solle alles aufschreiben, was mir in den Sinn kam und mich bedrückte. Aber was genau bedrückte mich eigentlich? Wie viel sollte ich aufschreiben und was besser nicht?
Hi, schrieb ich, strich es aber sofort wieder durch. Ich meine.. bescheuerter gings wohl nicht.
Eine Freundin von mir sagte, ich solle es mit Tagebuch schreiben versuchen. Sie meinte, es würde befreiend wirken und mir vielleicht helfen, Lösungen für meine ach so schrecklichen Probleme zufinden. Aber hab ich überhaupt Probleme? Ist es eigentlich nicht total einfach und ich denke nur über Sachen nach, die eigentlich total klar sind?
Vielleicht bin ich ja auch einfach nur verwirrt. Ich meine, wer wäre das nicht, wenn der eigene Stiefbruder einen küssen würde? Pflicht hin oder her, betrunken hier oder da. Es ist nichts, was man einfach so hinnimmt ... jedenfalls ich nicht.
Aber das Komischste kommt noch: ich hab's genossen. Ich hab es genossen, als er mich geküsst hat. Was ist nur los mit mir? Er ist mit Leah zusammen, meiner besten Freundin! Wieso also? Wieso mochte ich den Kuss?
Mir ist klar, dass ich nie 'brüderliche' Gefühle für ihn haben werde, denn er ist ja nicht mal mein richtiger Bruder. Ich kenne ihn kaum! Aber was ist, wenn ich plötzlich andere Gefühle für ihn habe? Kann das sein? Ich will es nicht. Schon allein wegen Leah! Sie mag ihn, sie ist in ihn verliebt. Und Damian mag sie auch (oder?), also ist es schon beschlossene Sache, dass ich ihn nicht mögen kann ... ihn nicht mögen sollte. Außerdem ist es total peinlich. Nicht, weil er mein Stiefbruder ist. Sondern eher, weil ich mir irgendwie Hoffnungen mache. Und das ist total schwachsinnig. Ich meine, ich bin ich. Fett und hässlich. Und er ist er.
Wer will schon mit mir zusammen sein? Wer wird mich schon je mögen? Richtig; niemand.
Wahrscheinlich bilde ich mir nur Sachen ein, die ich gern sehen würde, so schwer es auch ist, es zuzugeben. Zuzugeben, dass ich ihn mag.
Aber ich kann ihn nicht mögen, er ist mein Stiefbruder, der Freund meiner Freundin, der Typ, der direkt im Zimmer nebenan schläft. Ich kann nicht in ihn verknallt sein, das ist schwachsinnig. Einfach nur absurd.
Ich legte den Schift beiseite und schaute auf das Geschriebene hinunter. Eine ganze Seite hab ich voll geschrieben - und ich fühlte mich tatsächlich ein wenig besser. Ich legte das Büchlein tief in meine Schublade und fuhr dann meinen alten Laptop hoch. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis er dann schließlich an war, aber dafür öffneten sich diesmal keine ekligen Pop-Ups, als ich den Browser öffnete. Als erstes ging ich auf Youtube und klickte irgendein Musikvideo an, bevor ich einen weiteren Tab öffnete und Bournemouth eingab. Sofort erschienen unzählige Bilder von überfüllten, aber wunderschönen Stränden, dessen Wasser hellblau und glasklar war. Ich hoffte nur, dass wenn wir in Bournemouth waren, es nicht so extrem überfüllt ist, wie auf den Bildern. Auf manchen Abbildungen schienen die Menschen kein Fuß vor den anderen setzten zu können. Irgendwie erinnerte mich die Menschenmasse an den Winterschlussverkauf letztes Jahres von Leahs Lieblingsboutique, wo alles zu 50 % reduziert war. Wäre Leah nicht so verbissen und hartnäckig gewesen und hätte ich mich nicht ebenso verbissen an sie geklammert, wären wir am Eingang mit Sicherheit zertrappelt worden.
Nun gab ich Bournemouth Stadt ein und wieder wurden Bilder eingebildet, die aber größtenteils den Strand von Bournemouth zeigte. Der Rest zeigte eine Innenstadt mit alten Häusern und eine Passage, wo man wahrscheinlich einkaufen gehen konnte. Es sah gar nicht mal so schlecht aus.
***
Ich wachte auf, als irgendwer unglaublich schrill schrie. Ich fuhr hoch, aber da war der Schrei auch schon verstummt. Sekunden später ging meine Zimmertür auf und ich knipste meine kleine Lampe neben dem Bett an, um zusehen, wer es war. Es war Damian.
"Hast du so geschrien?", fragte ich leise, klang dabei aber seltsam atemlos.
"Nein. Das warst du", sagte er ebenso leise und schloss die Tür. "Weinst du?"
"Hä, nein? Ich-", ich verstummte, als ich meine nassen Wange berührte. Ich hatte tatsächlich geweint, selbst mein Oberteil war mit Tränen bedeckt. "Oh."
Damian runzelte die Stirn, scheinbar wusste er nicht, was er machen sollte. "Hast du schlecht geträumt oder so?"
Ich wischte mir verlegen über die Wangen, um die Tränen wegzubekommen, aber sofort waren meine Handflächen total nass. "Nein - doch, ich - ich weiß es nicht", murmelte ich und versuchte mich an meinen Traum zuerinnern.
"Hast du oft solche Albträume?", fragte er und kniete sich neben meinem Bett, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
Ich zuckte mit den Schultern. "Kann schon sein."
Er starrte mich einen Moment an. "Rück mal ein Stück", sagte er dann und rückte mich an den Rand des Bettes.
"Was, nein, ich - das ist doch nicht nötig", protestierte ich, als er sich neben mir plumpsen ließ und die Bettdecke über uns ausbreitete. Als sein nacktes Bein mein nacktes Bein berührte, wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich nur ein ärmelloses Shirt und eine kurz Shorts trug und er ein weißes T-Short und seine Boxershorts. Verlegen schaute ich zur Decke und traute mich nicht, mich zu bewegen.
Ich hörte ihn leise über meine Reaktion lachen.
"Ich hatte früher auch ziemlich heftige Albträume", sagte er dann wieder ernst. "Vermutlich grenzte es schon an Schlafstörungen. Ich bin so ziemlich jede Nacht von diesen Albträumen aufgewacht und konnte die halbe Nacht nicht mehr schlafen. Ich hab nur vier Stunden in der Nacht schlafen können."
"Und wieso?", fragte ich, weil ich nicht nichts sagen wollte.
Damian zögerte. "Sagen wir mal so: ich hatte keine besonders leichte Zeit damals. Es sind Dinge passiert, die mich ... verrückt gemacht haben. Aber das alles ist schon fast zwei Jahre her, schon halb vergessen", fügte er betont munter hinzu. Ich drehte mein Kopf kurz zu ihm und sah, dass auch er sein Blick auf die Decke gerichtet hatte, als wäre er ganz weit weg mit den Gedanken. Was auch immer es war, er hatte es nicht 'halb vergessen', aber ich traute mich nicht nachzufragen.
Eine Weile sagte keiner was, wir beide hingen unseren eigenen Gedanken nach und fast hätte ich vergessen, dass Damian neben mir im Bett lag, als er mich aus den Gedanken riss.
"Wir sollten schlafen. Schließlich hast du morgen Schule", sagte er lächelnd.
"Du hast auch Schule", gab ich zurück.
"Muss ich in den letzten Tagen wohl vergessen haben."
Ich grinste, was mir aber ganz schnell verging, als Damian sich zur Seite drehte, mit dem Kopf in meine Richtung und somit keine Anstalten machte, aus meinem Bett zu kommen.
"Willst du etwa hier schlafen?", fragte ich und merkte, wie meine Stimme mindestens zwei Oktaven höher sprang.
"Natürlich", grinste er. "Ich hab mir sagen lassen, dass man mit mir unglaublich gut schlafen kann."
"Oh man", seufzte ich, wegen der absichtlichen Zweideutigkeit und vergrub mein Gesicht in die Decke. "Auf die Info hätte ich gern verzichten können."
"Hättest du nicht", widersprach Damian lachend. "Am liebsten hättest du es selbst gern herausgefunden, gib es zu."
"Ich schwöre dir, ich trete dich gleich aus dem Bett", warnte ich ihn.
"Okay", er hob abwährend die Hände, "okay. Also darf ich hier schlafen?" Nun hob er grinsend seine Augenbrauen und wartete auf meine Antwort.
"Wenn ich nein sagen würde, würdest du gehen?"
"Vermutlich nicht."
"Gute Nacht", sagte ich schlicht, drehte mich zur Wand und versuchte die Nervosität, die durch meinen Körper ging auszublenden und konzentrierte mich stattdessen auf die Wärme, die von Damian ausging. Mein hämmerndes Herz beruhigte sich allmählich wieder.
"Gut' Nacht", murmelte Damian nach einer Weile leise, als ich dann auch schon in einen traumlosen Schlaf fiel.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top