Kapitel 5

Ich lief neben Xiao und war in meine eigenen Gedanken versunken. Von Chun hatten wir uns vor einiger Zeit verabschiedet und waren weiter gegangen. Dennoch dachte ich immernoch über das nach, was Chun erzählt hatte. Konnte Xiao wirklich dieser letzte Yaksha sein? Abwegig war es nicht.

Ich konnte es nicht verhindern, dass ich immer wieder zu dem Älteren herüber schaute. Es erschien mir wirklich abwegig, dass er zweitausend Jahre alt sein sollte. Ich war einundzwanzig und er zweitausend. Uns trennten Welten. Aber zumindest würde es jetzt erklären, warum Xiao so eine andere Ausstrahlung hatte. Es war nicht nur sein Alter, das an ihm lastete, sondern auch die Aufgaben eines Yakshas und wahrscheinlich auch seine Erfahrungen.

Mir wurde bewusst, dass er vermutlich schon jeden Winkel in Teyvat kannte. Ich dagegen wusste sogut wie nichts von der Welt. Ich musste ihm so naiv und unerfahren vorkommen.

Einmal mehr fiel mir auf, dass der Fakt, dass er so alt war, ihn für mich... interessant machte. Ich wollte wissen, was ihm alles widerfahren war und warum er so schweigsam war. Vielleicht war er generell ein schweigsamer Mensch, doch niemand war so schweigsam. Ich nahm mir fest vor, ihn irgendwann mal nach seiner Geschichte zu fragen, doch momentan erschien mir das noch zu unangemessen. Dafür kannten wir uns noch nicht genug.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen als nur weniger Zentimeter vor meinem Gesicht ein Schmetterling vorbei flog. Ich blinzelte überrascht und blickte mich um. Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, in welche Richtung wir gelaufen waren. Erneut hatte ich keine Ahnung, wo wir uns befanden. Doch ich erblickte vor mir eine wunderschöne Blumenwiese mit gelben Blumen.

Sofort musste ich anfangen zu grinsen und ging auf die Blumenwiese zu, bevor ich mich auf die Knie sinken ließ und inmitten der strahlenden Blumen saß. Ich war mir sicher, dass man mir im Moment meine Freude ansehen konnte. Wie in Trance pflückte ich einige Blumen ab und begann sie zu einen Blumenkranz zusammenzustecken.

Ich befand mich in meiner eigenen Welt, verzaubert, von den Blumen, sodass ich erst später bemerkte, dass Xiao mich ansah und... lächelte. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, wandte er seinen Blick schnell ab und sein Lächeln erlosch. In dem Moment wurde mir bewusst, dass Xiao mehr Emotionen zeigte, wenn keiner zusah. Ich wusste nicht was es war, aber er schien vielleicht einen Grund dafür zu haben und ich hätte mich ohrfeigen können, dass es mir nicht schon eher aufgefallen war.

Doch ich ließ mich von dem plötzlichen Umschwung seiner Emotionen nicht beeinflussen und behielt mein Lächeln bei. Ich schob das Göttliche Auge, dass nach wie vor von meinem Gürtel baumelte, wieder ein Stück hinter mein Oberteil, sodass es versteckt war. Danach stand ich auf und steuerte Xiao an. Für einen kurzen Augenblick trat Überraschung in seine Augen, doch er fasste sich schnell wieder. Als ich ihn erreichte hatte, stellte ich mich auf Zehenspitzen und legte ihm den Blumenkranz vorsichtig auf den Kopf.

Als ich ihn anblickte, konnte ich mir mein Lächeln nicht verkneifen. Der Blumenkranz passte überhaupt nicht zu dem Rest seines Auftretens doch irgendwie stand es ihm trotzdem. "Die gelben Blumen passen zu deiner Augenfarbe", merkte ich an und musste noch breiter Grinsen. Xiao sah mich eine Weile stumm an, bevor er schließlich leicht anfing zu Lächeln. Diesmal versuchte er es nicht zu verstecken.

Eine seltsame Freude breitete sich in mir aus und ich spürte ein wenig Stolz, das sich es geschafft hatte, Xiao zum Lächeln zu bringen, auch wenn es nur ein kleines Lächeln war. Ich sah ihn noch eine Weile glücklich an, bevor ich mich abwandte und mich wieder in die Wiese hockte. Nach einer Weile legte ich mich auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel.

Wolken zogen vorbei und bildeten undefinierbare Formen. Ich schloss meine Augen und sog die frische Luft in meine Lungen. Ich fühlte mich frei und schwerelos. Dennoch konnte ich nicht verhindern, darüber nachzudenken, was momentan passierte. Irgendetwas sagte mir, dass ich die Lieferung nicht zu dem Kunden bringen würde. Dennoch wusste ich nicht, ob ich von irgendetwas aufgehalten werden würde oder ob ich die Lieferung vielleicht gar nicht an das Ziel bringen wollte.

Ich konnte nicht verhindern, dass sich das schlechte Gewissen in mir ausbreitete. Was würde mein Vater wohl sagen, wenn er davon erfuhr? Würde er sauer auf mich sein? Der Gedanke, dass ich meinen Vater verärgern könnte, gefiel mir ganz und gar nicht. Auch wenn ich meinen Vater nicht so oft sah, so liebte ich ihn dennoch mit jeder Faser meines Körpers. Er war ein guter Mensch und erfüllte immer seine Pflicht. Warum schaffte ich das nicht auch?

Mit einem Mal überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Meine Mutter war ein genauso guter Mensch wie mein Vater. Ich konnte mich nur noch vage an meine Mutter erinnern. Ich war sehr klein, als sie gestorben ist. Aber ich erinnerte mich daran, dass sie die gleiche helle Haarfarbe wie ich hatte und immer einen geflochtenen Zopf trug, so wie ich es momentan tat. Ich wünschte, ich hätte sie jetzt noch bei mir. Mein Vater war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte, doch in manchen Situationen brauchte man einfach eine Mutter und ich hatte keine Mutter mehr.

Was würde meine Mutter wohl davon halten, wenn sie wüsste, dass ich oftmals alleine durch die Welt zog, aber nicht mal kämpfen konnte? Manchmal verfluchte ich meine Unfähigkeit beim Kämpfen wirklich sehr. Wäre sie trotzdem stolz auf mich? Würde sie mir trotzdem sagen, dass sie mich lieb hatte? Würde sie mich trotzdem in allem unterstützen, egal was es war? Die Erkenntnis, dass ich diese Fragen niemals beantwortet kriegen würde, trieb mir Tränen in die Augen. Doch ich merkte erst später, dass ich weinte.

Ich merkte es, als sich plötzlich jemand neben mich kniete. Ich öffnete meine Augen und sah geradewegs in das Gesicht von Xiao. Schnell wischte ich meine Tränen weg. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Doch er hatte es natürlich gesehen. Ich war mir sicher, dass er mich jetzt entweder für noch schwacher oder für ein offenes Buch hielt.

Xiao legte sanft eine Hand an meine Schulter und half mir, mich hinzusetzen. Erneut wischte ich über meine nassen Wangen um die Reste der Tränen verschwinden zu lassen. Xiao sah mich an und erneut konnte ich nicht erkennen, was in ihm vorging. Doch plötzlich griff der Ältere neben sich und pflückte eine der strahlend gelben Blüten.

Der Dunkelhaarige kürzte den Stiel noch etwas und steckte mir die gelbe Blüte dann vorsichtig in meinen geflochtenen Zopf. Die gelbe Farbe der Blume hob sich deutlich von meinen weiß-blonden Haaren ab und bildete einen Kontrast zu diesen. Ich konnte die Blüte nur aus dem Augenwinkel sehen, doch die gelbe Büte stach mir trotzdem sofort ins Auge.

Ich wandte meinen Blick zu Xiao und stellte fest, dass er mich ganz leicht aufmunternd anlächelte und ich konnte nicht anders, als leise zu lachen.

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