Kapitel 42
Ich saß auf einer Wiese, von der aus ich Liyue Harbor komplett überblicken konnte. Der Wind wehte mir sanft die Haare aus dem Gesicht und ich genoss die Ruhe, die sich um mich herum ausgebreitet hatte.
In Liyue Harbor herrschte, wie immer, großes Treiben, doch hier oben war es trotzdem angenehm still.
Ich pflückte eine weitere orange Blume, um sie zu den anderen Blumen zu stecken, die einen Blumenkranz bildeten. Es waren dieselben orangen Blumen, von denen ich Xiao damals einen Kranz auf den Kopf gelegt hatte. Die Erinnerung schwelgte in meinem Kopf und es schien bereits so lange her zu sein, dass es mir sehr weit weg vorkam. Dennoch war es eine wunderschöne Erinnerung.
Es war mittlerweile zwei Wochen her, dass Qiang mich festgehalten hatte. Zwei Wochen, dass Qiang von Lien umgebracht wurde. Zwei Wochen, dass Xiao schwer verletzt wurde. Zwei Wochen, dass Signora mir gedankt hatte. Zwei Wochen seit ich so viele Menschen umgebracht hatte.
Ich hatte erst später realisiert, wie viele Menschenleben ich an dem Tag wirklich genommen hatte. Und als ich es realisiert hatte, hatte mich das schlechte Gewissen von innen heraus aufgefressen. Es plagte mich, quetschte mein Herz zusammen, Trieb mir die Tränen in die Augen, ließ mich leiden. Ich hatte nicht das Recht, so viele Menschen zu töten und trotzdem hatte ich es getan. Es war zwei Wochen her und trotzdem ließ es mich nicht los.
Die Zeit war so schnell an mir vorbei gerauscht, dennoch war das Ereignis noch immer in meinem Kopf präsent. Genauso wie Xiao. Er war einfach immer in meinen Gedanken. Ich hatte ihn beschützen wollen und trotzdem hatte es ihn getroffen. Ich hatte ihn beschützen wollen und so viele Menschen umgebracht und trotzdem war er verletzt worden. Diese Welt war nicht fair.
Xiao war eine lange Zeit nicht aufgewacht und selbst als er dann wach war, ging es ihm nicht besonders gut. Das letzte Mal hatte ich ihn vor drei Tagen besucht und ich hatte den Eindruck, dass es ihm langsam besser ging. Ein kleines Lächeln hatte sich auf meine Lippen gelegt, nachdem ich meine dunklen Gedanken vertrieben hatte. Ich platzierte den fertigen Blumenkranz auf meinem Kopf. Ich war mir sicher, dass Xiao es wieder gut gehen würde, doch alles brauchte seine Zeit und so lang er nicht bei mir war, trug ich ihn in meinem Herzen und die Tatsache, dass er beinahe für mich gestorben wäre, führte mir vor Augen, wie wichtig der Krieger eigentlich für mich war.
Ich seufzte. Endlich war Ruhe und Frieden eingekehrt und ich musste mir keine Sorgen mehr machen. Es war vorbei. Wenn ich meine Augen schloss, sah ich zwar immernoch das Blut, die Leichen und die Zerstörung vor mir, doch es wurde von Tag zu Tag besser. Man musste den Dingen Zeit geben.
"Die orangen Blumen stehen dir immernoch sehr gut", ertönte es plötzlich hinter mir und ich weitete geschockt meine Augen.
Ich stand hastig auf. "Xiao!", rief ich, drehte mich zu der Quelle der Stimme herum und stürmte auf ihn zu. Ich stolperte und fiel beinahe auf den Boden, doch ich konnte mich fangen und beeilte mich, zu dem dunkelhaarigen Mann zu kommen.
Der Krieger fing an zu lächeln und ich fiel ihm um den Hals. Der Ältere nahm mich bei den Hüften und wir wirbelten einmal um unsere eigene Achse.
Als wir wieder fest auf dem Boden standen hielt ich ihn immernoch umklammert. Ich atmete seinen Duft ein und es trieb mir Tränen in die Augen. Ich konnte es nicht verhindern, dass mir ein paar von ihnen die Wangen herunter liefen. Aber ich lächelte.
Xiao löste sich von mir und sah mich an. Als er meine Tränen entdeckte, wurde sein Blick noch weicher, als er eh schon war. Der Ältere legte vorsichtig seine Hände an meine Wangen und strich behutsam mit seinen Daumen die Tränen fort. Seine Finger waren so warm.
"Dir geht es wieder gut", sagte ich flüsternd, nachdem Xiao mich noch eine Weile angesehen hatte. Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Mundwinkel sich noch weiter nach oben bogen.
"Ich hatte solche Angst um dich. Was hätte ich gemacht, wenn du gestorben wärst? Mein Leben wäre so grau geworden, weil...", ratterte ich herunter und machte dann eine kurze Pause. "...weil ich dich liebe", hauchte ich die Erkenntnis plötzlich über meine Lippen und riss die Augen geschockt auf, als mir klar wurde, was ich da gerade gesagt hatte.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es das Aufrichtigste war, was ich je in meinem Leben gespürt hatte: die Liebe zu Xiao. Und es war mir erst jetzt aufgefallen, obwohl ich es unterbewusst die ganze Zeit gewusst hatte, ich war nur zu dumm gewesen, es zu erkennen.
Xiao lachte leise. Er lachte! Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich lachen hörte und es machte mich unglaublich glücklich. Die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wie wild.
"Ich habe lange auf diese Worte gewartet und ich bin endlich bereit, sie zu erwidern", sagte der Dunkelhaarige nun und küsste mich und es war das Schönste, was ich je gespürt hatte. Zwei Seelen, die zueinander gehörten, waren nach so langer Zeit endlich vereint. "Ich liebe dich, meine Retterin", flüsterte Xiao zwischen dem Kuss und mein Herz machte ein Salto, während die Schmetterlinge in meinem Bauch noch heftiger mit den Flügeln schlugen.
Nachdem ich den Kuss gelöst hatte, konnte ich nicht anders, als wie der glücklichste Mensch der Erde zu Lächeln. Und auch Xiao's Lippen wurden von einem wunderschönen Lächeln geschmückt.
"Wir sollten zurück gehen, die Anderen reisen sicher gleich ab", gab ich von mir und Xiao nickte. Ich wäre gern noch länger hier geblieben, aber ich wollte meine Freunde verabschieden. Xiao nahm mich bei der Hand und zog mich an die Kante, an der es herab ging.
"Hey, was wird das?", fragte ich noch, doch ehe ich mich's versah, hatte Xiao mich schon an der Taille gepackt und war mit mir von der Kante gesprungen. Wie automatisch klammerte ich meine Arme um seinen Körper.
Nun segelten wir mit seinem Windgleiter über die seichten Wiesen und über die Dächer von Liyue Harbor, bevor wir schließlich auf dem Boden landeten. Dieser Flug war deutlich angenehmer als der Erste gewesen.
Ich lächelte Xiao noch einmal an, bevor ich mich umsah. Meine Freunde standen ein paar Meter von uns entfernt und ich ging lächelnd auf sie zu.
"Möchtest du wirklich nicht mit uns mitkommen? Wir würden sicher noch einiges erleben", sagte Lien und sah mich ein wenig traurig an. Ich schüttelte lächelnd mit dem Kopf. "Nein, ich werde erst noch ein wenig hier bleiben und ein paar kleine Aufträge zum Liefern ausführen und dann werde ich nach Hause gehen, zu meinem Vater", sagte ich und mein Herz wurde bei dem Gedanken an meinen Vater ganz warm. "Ich werde ihm von diesem Abenteuer erzählen", ergänzte ich noch und auf Lien's Lippen bildete sich ein stolzes Lächeln.
"Ich werde zu meiner Schatzräuber Gruppe zurück gehen, ich war schon viel zu lange weg und hab sie irgendwie im Stich gelassen", gab Li von sich und lächelte wissend. Auch er hatte Verpflichtungen, denen er nachgehen musste.
"Ich werde Lien zu ihren Eltern begleiten und dann sehen, was ich machen werde. Ich denke, ich werde das Schatzräuber-Sein aufgeben und endlich einen anständigen Beruf erlernen", sagte Bao und lächelte Lien liebevoll an, die ihn strahlend ansah. In ihren Augen glitzerte Stolz.
"Ich werde euch so sehr vermissen", gab ich dann von mir und lächelte, auch wenn sich eine gewisse Traurigkeit in mir breit machte. Ich hatte so viele Stunden mit diesen Leuten hier verbracht und diese Zeit neigte sich jetzt dem Ende zu. Ein weiteres Kapitel von unserem Leben war nun fast abgeschlossen.
"Wir dich auch", sagte Lien und kam auf mich zu, nur um mich ganz fest zu umarmen. Bao und Li schlossen sich an und auch Xiao kam, zu meinem Erstaunen, dazu und es endete in einer Gruppen Umarmung.
Als wir uns alle voneinander gelöst hatten, sah ich meine Freunde an. Traurig, aber auch dankbar.
"Wir werden uns wieder sehen", gab Lien überzeugt von sich. "Das nächste Abenteuer wartet schon hinter der nächsten Ecke auf uns", ergänzte sie noch und lächelte strahlend, bevor sie Bao's Hand ergriff. Sie winkten uns nochmal zu und drehten sich dann rum, um sich auf den Weg zu machen. Sie entfernten sich von uns und ich hatte das Gefühl, dass mit ihnen ein Stück von meinem Herzen ging. Und dieses Stück würde erneut zu mir finden, wenn ich sie wiedersehen würde.
Li lächelte mir nochmal entgegen und nickte kaum merklich. Anerkennung, aber auch Bedauern und ich wusste, dass er uns alle genauso sehr vermissen würde, wie ich. Ich lächelte zurück, bevor er sich schließlich rum drehte und den anderen folgte.
Ich blieb noch stehen und sah meinen Freunden nach, wie sie sich immer weiter entfernten. Ich war traurig, das war nicht zu leugnen. Aber ich wusste, dass das nicht das Ende unserer Freundschaft war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich sie wieder sehen würde und das Wissen, dass ich auf meiner Reise wahre Freunde gefunden hatte, machte die Zeit bis dahin etwas mehr erträglich. Denn das war alles was zählte - die starke Freundschaft, die sich zwischen uns entwickelt hatte. Keine Entfernung konnte diese Freundschaft zerstören, denn uns verband weitaus mehr, als nur die Strecke zwischen uns. Und für den Moment war es genug.
Ich lächelte und griff nach Xiao's Hand. Der Krieger drehte seinen Kopf zu mir und lächelte mich an und ich grinste zurück. Ihn würde ich nicht so schnell gehen lassen. Ich hatte ihn ja gerade erst gewonnen.
Selbst wenn diese Reise mehr als gefährlich und aufreibend war, so hatte sie mir doch so viel gegeben. Ich hatte Xiao kennengelernt und wahre Freunde gefunden, die nicht von meiner Seite wichen. Ich hatte viele Dinge über meine Vergangenheit und mein göttliches Auge herausgefunden und ich hatte mich selbst gefunden - zumindest fühlte es sich so an. Und dieses Gefühl hatte mir jahrelang gefehlt. Doch endlich war ich vollständig.
Ich hatte die Liebe gefunden und ein Abenteuer erlebt, was die meisten als Geschichte abtun würden, aber das war sie nicht. Es war ein Abenteuer, was mittlerweile nur noch in meinen Erinnerungen lebendig war. Eines Tages würde vielleicht jemand ein Lied davon singen, wie ein Mädchen mit einer Dendro Vision die Menschen von Teyvat mithilfe von einer Fatui Lady, einem Yaksha und ihren Freunden gerettet hatte. Wer wusste das schon.
Das Lächeln auf meinen Lippen ließ sich nicht verkneifen. Mein Blick glitt zu meinen und Xiao's verschränkten Händen und ein wohliges Gefühl durchströmte mich. Hier gehörte ich hin. Zwischen Xiao und meinen Freunden. Zwischen Freiheit und einem Abenteuer. Zwischen Wiesen und Wind.
Ich konnte kaum abwarten, meinem Vater zu erzählen, was ich erlebt hatte. Ich hob meinen Blick und sah Xiao in die goldenen Augen.
Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
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Das war also das letzte Kapitel von Orphic. Und ich hoffe, ihr mögt das Ende genauso sehr wie ich ^^.
Diese Geschichte hier war ein absolutes Herzensprojekt und ich danke jedem von euch, der mit mir die Reise von Mei und Xiao beschritten hat. Es war eine wirklich schöne Reise <3.
Irgendwie fällt es mir schwer, die Charaktere jetzt zu verabschieden, denn sie sind mir so ans Herz gewachsen. Aber alles hat irgendwann ein Ende.
Danke nochmal an jeden, der dieser Geschichte eine Chance gegeben hat.
Vielleicht sehe ich ja den ein oder anderen von euch in "Valor", meiner Albedo FF wieder, von der ich heute den Prolog hochgeladen habe.
Macht es gut, meine Kameraden! :)
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