Kapitel 28

Um mich herum war es schwarz. Obwohl ich meine Augen geöffnet hatte, konnte ich nichtmal meine Hand erkennen. Ich befand mich in absoluter Dunkelheit.

Ich drehte mich um meine eigene Achse, doch es veränderte sich nichts an der Situation. Als ich jedoch eine Weile in die Dunkelheit gestarrt hatte, erkannte ich in weiter Entfernung ein winziges Licht. Ich kniff meine Augen zusammen, um es besser zu erkennen. Das Licht schien auf mich zu zu kommen, denn es wurde immer größer und strahlender.

Als es mich fast erreicht hatte, ließ das Glühen nach und wurde immer schwacher, bis es nur noch ein sanfter Schein war. Ein Schein, welcher eine Person einhüllte.

Nachdem meine Augen sich endlich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte ich wer vor mir stand. Aus Überraschung und Unglaube stolperte ich ein paar Schritte zurück und schnappte verwirrt nach Luft.

"Daiyu?", kam es geschockt über meine Lippen. Es war mehr eine geflüsterte Feststellung, als eine Frage.

Auf Daiyus Lippen erschien ein wunderschönes Lächeln und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. "Ich hab dich so vermisst", flüsterte ich und kämpfte gegen die Tränen an.

"Ist das ein Traum?", fragte ich und Daiyu nickte langsam. "Ja, leider schon", sagte die Frau leise und ich sah ihr ins wunderschöne Gesicht. Ihre langen, weißblonden Haare fielen in seichten Wellen über ihre Schultern. Sie trug ein Kleid in einem sanften Frühlingsgrün. Sie war so schön, dass es mir die Sprache verschlug und mir wurde bewusst, dass ich in meinen Erinnerung immer mehr vergessen hatte, wie atemberaubend sie schon nur durch ihr Aussehen war. Das Glühen um sie herum verlieh ihr den Anschein, als sei sie regelrecht vom Himmel herabgestiegen. Ihre Ausstrahlung war noch immer die gleiche wie vor 2000 Jahren.

Mein Herz schien immer weiter aufzugehen, je länger ich sie ansah und ich fühlte mich beflügelt.

"Was machst du hier?", fragte ich und wunderte mich darüber, warum sie mich ausgerechnet jetzt besuchte. "Ich muss mit dir reden", gab Daiyu von sich und lächelte mich langsam an. Ihr Lächeln sorgte dafür, dass mein Herz warm wurde. Dennoch ließ ich erschöpft meine Schultern sinken.

"Daiyu, Mei liegt im sterben, ich weiss nicht, ob ich gerade Nerven dafür habe", gestand ich und sah sie entschuldigend an. Auch wenn ich es mir nur schwer eingestehen konnte, so machte ich mir wirkliche Sorgen um Mei. Sie durfte einfach nicht sterben.

"Xiao, es geht um Mei", klärte Daiyu mich endlich auf und ich sah sie erstaunt an.

"Ich weiss, was du für sie fühlst und deshalb muss ich dir erzählen, was ich weiss", erklärte sie und ich konnte nicht anders als sie schuldbewusst anzusehen. Sie klang so aufrichtig und ehrlich und ich... und ich...

"Daiyu, ich... ich weiss nicht was ich für Mei empfinde. Sie hat eine Anziehung auf mich, die bisher nur du hattest", sagte ich verzweifelt und die Worte flossen nur so aus meinem Mund heraus, ohne dass ich länger darüber nach dachte. Ich hatte es so lange für mich behalten und jetzt erzählte ich es. Einfach so. Und Daiyu schien die Einzige zu sein, der ich es anvertrauen konnte.

Daiyu schmunzelte wissend, doch sagte nichts. "Das Schlimme ist, immer wenn ich sie ansehe, sehe ich dich. Ihr seid euch so ähnlich", gab ich meine Gefühle preis und mein Herz zog sich mit jedem Wort weiter zusammen. Die Schwere, die mein Herz ergriffen hatte, quälte mich.

Und als ich Daiyu so ansah, wurde mir erst einmal bewusst, wie sehr sich Daiyu und Mei eigentlich ähnelten. Sie hatten die gleichen weißblonden Haare, die gleichen geschwungenen Lippen, die ein wunderschönes Lächeln zustande bringen konnten und die gleichen sanften, braunen Augen, in denen man sich am liebsten verlieren wollte.  Doch auch in einigen Charakterzügen glichen sie sich so sehr, dass es schon beinahe angsteinflößend war. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

"Sie ist du", stellte ich plötzlich fest und sah Daiyu geschockt an. Die Feststellung kam so schnell über meine Lippen, dass ich erst ein paar Sekunden später realisierte, was ich da eigentlich gerade gesagt hatte.
Das Lächeln meiner wunderschönen Kriegerin wurde ein bisschen breiter. "Nicht ganz", sagte Daiyu und ich blinzelte ihr verwirrt entgegen.

"Mei ist Mei und ich bin ich. Wir sind zwei verschiedene Personen, aber ein Teil von mir lebt in ihr."

Ich verstand nicht was hier vor sich ging. "Aber wie...", gab ich von mir. Meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern.

"Ich erkläre es dir. Sie hat eine Vision, stimmts?", fragte Daiyu und ich nickte langsam. "Die Vision die ihr gehört, ist meine Vision", fing Daiyu an zu erklären und ich hörte aufmerksam zu.

"Ich weiss, dass Visionen an jemand anderen gegeben werden können, wenn der vorherige Besitzer stirbt. Aber was hat Mei's Göttliches Auge jetzt damit zu tun?", fragte ich und verstand noch immer nicht, worauf sie hinaus wollte.

"Als ich gestorben bin, konnte ich nur daran denken, dass ich dich nicht zurück lassen kann. Nicht so und nicht mit dem Schmerz, den du fühlen würdest. Ich wollte dich unter allen Umständen aus den Fängen dieses Gottes befreien, der dich damals als seine Marionette benutzte, aber ich konnte es nicht, weil ich zu zeitig starb und dich alleine zurück ließ. Meine Gefühle und meine Liebe zu dir waren damals so stark, dass sich ein Teil meiner Seele auf mein göttliches Auge übertrug. Ich weiss nicht, wie das möglich ist, aber es ist passiert."

Ich verarbeitete in meinem Gehirn das, was Daiyu da gerade gesagt hatte. "Hast du schonmal davon gehört, dass manche Menschen wieder geboren werden?", fragte Daiyu und ich nickte langsam. "Mei ist zwar nicht direkt meine Wiedergeburt, aber meine Vision schien für sie bestimmt zu sein. Als Mei vier Jahre alt war, wurde das Haus von ihrer Familie von einer Truppe Schatzräuber überfallen. Während ihre Mutter mit Mei floh, bekämpfte ihr Vater die Schatzräuber. Aber Mei und ihre Mutter wurden von zwei Schatzräubern verfolgt. Sie griffen ihre Mutter an, doch Mei warf sich ihnen entgegen und schützte ihre Mutter ohne jegliche Furcht. Die Schatzräuber hatten Waffen, doch Mei zuckte nicht mal mit einer Wimper. Sie sagte: "Tötet mich und lasst meine Mama gehen!". Sie hatte keinerlei Angst vor dem Tod. Letztlich brachten die Schatzräuber ihre Mutter um und wollten Mei gefangen nehmen, doch ihr Vater konnte sie gerade so retten. Dies war das Ereignis, mit dem sie sich als würdig erwies, ein göttliches Auge zu tragen. Und als sie die Vision bekam übertrug sich der Teil meiner Seele auf sie, der in der Vision gefangen war."

Während meine Kriegerin erzählte, fielen immer mehr Puzzleteile an ihren Ort und es wurde das Gesamtbild immer deutlicher. Ich verstand nicht ganz, wie soetwas funktionieren konnte, aber nur weil man etwas nicht versteht, heißt es nicht, dass es nicht existiert oder nicht möglich ist. Es überstieg schlichtweg einfach den Rahmen meines Verständnisses und meiner Vorstellungskraft.

"Deswegen seht ihr euch auch so ähnlich", murmelte ich vor mich hin doch Daiyu schüttelte mit ihrem Kopf. "Nein, sie hätte auch ohne die Vision so ausgesehen. Wer weiss, vielleicht ist sie mein Doppelgänger oder doch in gewisser Weise meine Wiedergeburt. Das weiss ich nicht", überlegte Daiyu und ich nickte nur verstehend. Auch sie schien nicht alles zu wissen, auch wenn ich immer den Eindruck gehabt hatte, dass sie doch nahezu alles wusste. Sie war so klug.

"Aber warum erinnert sich Mei nicht daran, wie sie ihre Vision bekommen hat?", fragte ich nachdenklich und musste augenblicklich an Mei's frustrierten Gesichtsausdruck denken, als sie mir davon erzählt hatte.

"Ich gehe davon aus, dass ihr Gedächtnisverlust mit dem Mord ihrer Mutter zusammenhängt. Dieser Mord wird sie so traumatisiert haben, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat", klärte Daiyu mich auf und ich nickte verstehend. Soetwas kam vor. Wenn Menschen traumatisiert wurden, ist es nicht selten, dass sie keine Erinnerung mehr an das Ereignis haben. Es sind Schutzmechanismen des eigenen Körpers.

"Ich lebe in ihr weiter, auch wenn wir zwei verschiedene Personen sind", gab Daiyu nach einer Weile des Schweigens von sich, in der wir beide unseren eigenen Gedanken nach gehangen hatten.  Ich sah in ihre braunen Augen und plötzlich schien so vieles Sinn zu machen. "Aber wie kann ich mich zu ihr hingezogen fühlen, wenn du in meinem Herzen bist?", fragte ich leise, traurig.

"Xiao, ich mag zwar in deinem Herzen sein, aber ich bin dennoch tot. Und nichts in dieser Welt wird mich jemals zurück bringen können. Was ich damit sagen will, gib sie nicht auf, nur weil du an jemandem hängst, der nicht mehr da ist. Du verdienst es mehr als jeder andere endlich glücklich zu werden."

Sie legte eine Hand sanft an meine Wange und ich lehnte mich regelrecht ihrer Bewegung entgegen. Mir wurde es warm ums Herz. Ich hatte sie so sehr vermisst.

"Ich weiss, dass du sie liebst. Und das ist in Ordnung. Ich will, dass du glücklich bist und ich werde dir nicht im Weg stehen und du solltest dir selbst auch nicht im Weg stehen. Mei ist ein guter Mensch und deine Gefühle ihr gegenüber musst du weder vor mir, noch vor dir selbst rechtfertigen", gab Daiyu mit leiser Stimme von sich und ich sah ihr in ihre braunen Augen, in denen so unendlich viel Liebe stand.

Ich lehnte meine Stirn an ihre und legte eine Hand sanft in ihren Nacken. Während ich meine Augen schloss, flüsterte ich: "Ich liebe dich, Daiyu."

Dann legte ich ganz sanft meine Lippen an ihre und sie erwiderte augenblicklich den Kuss. "Ich liebe dich auch, Xiao", flüsterte meine Kriegerin leise als wir uns voneinander gelöst hatten, aber unsere Lippen nur durch wenige Zentimeter getrennt waren.

Während sie diese Worte sagte, wurde ihre Stimme immer leiser und die letzten Töne ihrer Worte hallten in der erdrückenden, dunklen Stille wider, die mich umgab.  Ihre Präsenz schien zu verschwimmen und ließ mich allein mit einem schweren Herzen zurück. Kaum war sie verschwunden, sehnte ich mich wieder nach ihr und ihrem Licht, dass mein Herz zum Leuchten brachte.

Doch auch die tote Stille und die tiefschwarze Dunkelheit um mich herum lösten sich auf und ich fand zurück in die Realität, indem ich aufwachte.

__________________________________

Dieses Kapitel ist deutlich länger als sonst, aber es ist auch eines der wichtigsten Kapitel der Geschichte und außerdem mein Lieblingskapitel. Ich liebe dieses Kapitel, weil Xiao zum ersten mal wirklich über seine Gefühle spricht und weil ich die Beziehung zwischen Xiao und Daiyu einfach so sehr liebe. Ich hoffe, das Kapitel konnte einige Fragen klären ^^

Ich werde nachher zu einer Freundin gehen und Plätzchen backen und da freue ich mich schon die ganze Woche drauf ^^

Ich wünsche euch einen schönen zweiten Advent und denkt dran, an Weihnachten geht es darum, etwas zurückzugeben, also verbringt viel Zeit mit eurer Familie und gebt ihnen ganz viel Liebe zurück <3

Eine schöne Zeit euch!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top