Orpheus III

Phillis apparierte nicht gerne und wenn sie es tat, zersplineterte sie häufig.

Auch dieses Mal spürte sie einen brennenden Schmerz irgendwo am Bein, aber das Bein selbst war noch dran und eine kurze Untersuchung ergab, dass sie nur ein kleines Stück ihrer Wade zurückgelassen hatte, also nicht der Rede wert.

Viel wichtiger war, dass sie rechtzeitig ankam.

Viel wichtiger war es, Lily, James und Harry zu retten.

Viel wichtiger war es, die Zukunft zu verändern.

Sie war ein wenig zu weit entfernt appariert und musste den Rest des Weges rennen. Ihr Bein schmerzte, aber sie spürte den Schmerz kaum, zu getrieben von Angst und Panik und Sorge.

Sie bog eine Straße ein und blieb stockstarr stehen.

Dort war das Haus der Potters.

Es war ein hübsches Haus in Godric's Hollow gewesen, das Dumbledore mit Zauber geschützt hatte. Phillis selbst war schon lange nicht mehr dort gewesen, denn man hatte es nicht mehr finden können – die Zauber hatten das verhindert.

Phillis hatte James und Lily nicht mehr gesehen, seit dem Abschied von den anderen Demigöttern.

Ihr wurde wieder übel, als sie erkannte, dass das Haus geradezu explodiert war. Es war teilweise zusammengebrochen und rauchte an einigen Stellen und ihr Verstand verband dieses Bild mit dem Bild ihres eigenen, zerstörten zu Hauses, in dem Laertes gestorben war.

„Nicht sie", murmelte sie und rannte wieder los, obwohl ihr Bein schmerzte und ihre Lungen brannten und Tränen ihre Sicht verschwimmen ließen, „Bitte nicht... nicht sie..."

Nichts rührte sich im Haus – zu ihrer eigenen Überraschung war sonst noch niemand hier und sah sich den Schaden an. Vielleicht war sie auch nur schon so spät, dass alles schon vorbei war.

Apollo hatte sie vorgewarnt... sie konnte es nicht mehr verhindern.

Die Vordertür war herausgesprengt worden und Phillis erinnerte sich an das Geräusch, wie Voldemort sich gewaltvoll einen Weg freigemacht hatte. Sie erinnerte sich daran, wie James geschrien hatte, dass Lily mit Harry verschwinden sollte... er würde ihn schon aufhalten.

Phillis' Knie gaben nach, als sie James auf der Treppe liegen sah.

Ein gequältes Schluchzen bahnte sich den Weg nach oben und sie hob James' Leiche zu sich, drückte ihn an sich und weinte um seinen Verlust.

All die Jahre, in denen er ihr ein Freund geworden war, mehr oder weniger ihre rechte Hand im Training des Quidditch-Teams und auch dann noch ein Verbündeter, dem sie blind vertraut hatte. Niemals hatte sie ihn verdächtigt, der Verräter zu sein – alle anderen, aber niemals er.

James Potter hatte seine Fehler gehabt, aber Phillis' Brust schien vor Trauer und Schmerz zu zerreißen, als sie daran dachte, welch einen wundervollen Menschen die Welt verloren hatte und sie wünschte ihm eine gute Reise ins Elysium, das er sich bestimmt verdient hatte.

Kein Zauberstab war in der Nähe – er hatte ihn nicht bei sich getragen.

Dieser Vollidiot, dachte Phillis sich. Was für ein Narr. Warum hatte er gedacht, er könnte es mit dem Dunklen Lord ohne Verteidigungswaffe aufnehmen? Durch pures Glück und Feenstaub?

Aber wie viel rationales und klares Denken konnte man schon von jemanden verlangen, der nur seine Frau und Kind beschützen wollte?

Lily! Harry!

Sofort klärte sich Phillis' Kopf und sie legte James wieder zu Boden, um aufstehen zu können. Sie mussten auch noch irgendwo sein – oben! Sie hatte es in ihrer Vision gesehen.

Sie zog ihren Zauberstab und hielt ihn schützend vor sich – sie hatte ihren Bogen vergessen und zum ersten Mal seit langem war sie wieder nur auf ihren Zauberstab angewiesen. Sie war so lange hauptsächlich eine Demigöttin gewesen, sie hatte eigentlich vergessen, wie es war, eine Hexe zu sein.

Leise trat sie die Treppen hoch, die unter ihren Schritten knarzten und immer wieder musste sie stehenbleiben und lauschen, ob Voldemort noch im Haus war.

Zunächst hörte sie nichts, aber dann war da etwas – Weinen. Ein Kind weinte.

Sie beeilte sich die letzten Treppen hoch und stürmte regelrecht in das Kinderzimmer von Harry, in der Erwartung, Voldemort gegenübertreten zu müssen.

Aber dieser war nicht dort.

Harry weinte in seinem Gitterbett, die Wangen ganz rot und offenbar war er schon sehr müde.

Am Boden war Lily, tot.

Und bei ihr eine Gestalt in schwarz, die überrascht auf die Beine kam und von Lilys Leiche zurückwich.

Phillis richtete ihren Zauberstab auf die Gestalt und plötzlich erkannte sie Severus Snape, den Todesser, der wahrscheinlich für diese Tragödie verantwortlich war.

Am liebsten hätte Phillis ihn an Ort und Stelle umgebracht, aber da sah sie, dass er geweint hatte.

Snape versuchte zwar, sich die verräterischen Tränen aus dem Gesicht zu wischen, aber Phillis hatte sie gesehen.

„Was machst du hier?", fragte sie kühl. Ihre Augen glühten wie Sonnen, so viel Schmerz und Hass verspürte sie in diesem Moment und Snape wich sichtlich verängstigt von ihr zurück. „Bist du hier, um dich an dem Ergebnis deiner Arbeit zu ergötzen?"

„Nein", stammelte Snape, „Ich... das wollte ich nicht. Ich habe sie doch geliebt!"

Phillis brauchte einen Moment, um zu verstehen. Snape – weinend. Er hatte bei Lilys Leiche gekniet. Phillis erinnerte sich daran, dass die beiden wohl einmal befreundet gewesen waren, aber das war gewesen, bevor Phillis sich mit Lily angefreundet hatte.

„Du hast eine seltsame Art, diese Liebe zu zeigen", bemerkte Phillis kühl, „Sie und ihre Familie zu verraten an Voldemort."

„Sag nicht seinen Namen!", kreischte Snape, „Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Ich habe ihn angefleht! Ich habe Dumbledore angefleht! Sogar deine dämlichen Götter –"

Draußen hörten sie donnern und Snape zuckte zusammen.

„Die Götter sind nicht gnädig, sie hören nicht auf unsere Gebete", sagte Phillis monoton, „Besonders nicht, wenn man selbst an seinem Schicksal schuld ist."

„Ich wollte das nicht!", jammerte Snape wieder.

Phillis schnaubte. „Du hast Voldemort die Prophezeiung weitergegeben –"

„Ich habe nicht gedacht, dass er denkt, es wäre Lilys Kind!"

„Es war eine selbsterfüllende Prophezeiung", erklärte Phillis ruhig, „Hättest du sie nie weitergegeben, hätte sie sich nicht erfüllt. Allein das Wissen, dass sie existiert, hat sie ausgelöst."

Snape schluchzte und Phillis ließ ihren Zauberstab sinken. Sie ließ Snape mit seinem Selbstmitleid und seinem Schmerz allein und wandte sich an Harry, der noch immer im Bettchen weinte. Es schien ihm gut zu gehen, bis auf eine seltsame Wunde an seiner Stirn. Phillis fühlte, dass das kein normaler Kratzer war – da war eine seltsame Aura, die von Harry ausging.

Phillis hob ihn trotzdem heraus und nahm ihn in den Arm. Leise summte sie ein altes, griechisches Schlaflied und sofort beruhigte Harry sich, gluckste nur noch müde vom vielen Weinen.

„Du solltest gehen", sagte Phillis zu Snape, „Du willst nicht, dass sie dich hier finden. Und sie werden sicher bald hören, was passiert ist."

„Aber was ist mit Lily?", fragte Snape in einem Ton, der beinahe schon Mitleid in Phillis ausgelöst hätte, aber sie fühlte nur Abscheu.

„Du hast sie schon vor Jahren verraten", erinnerte Phillis ihn mit der Kühle einer strafenden Göttin, „Ich weiß nicht, welches Spiel zu spielst, aber verschwinde aus meinen Augen, bevor ich mich dazu entscheide, dich gleich hinterher zu schicken. Und vertrau mir – du würdest den Weg nicht ins Elysium finden, so wie sie."

Snape zögerte noch einen Moment, als wäre das tatsächlich eine Option für ihn, aber dann eilte er aus dem Raum und ließ Phillis allein.

Phillis vermied es, auf Lilys Leiche zu blicken, hielt lieber Harry dicht an sich und summte weiter.

Er war nun ruhig, aber Phillis wollte ihn trotzdem nicht länger dem Anblick seiner toten Mutter aussetzen, also verließ sie den Raum und ging in das Schlafzimmer von James und Lily.

Hier war es ruhig. Ein paar Bilder waren von den Wänden gefallen, aber ansonsten wies nichts darauf hin, was zuvor noch passiert war.

Phillis konnte nicht schreien, nicht weinen. Sie hielt nur Harry, wiegte ihn in ihren Armen und sang ein Schlaflied für ihn.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es war, als hätte ihr Gehirn aufgehört zu arbeiten.

Wage wusste sie, dass die Leiche einer ihrer besten Freunde unten auf der Treppe lag. Wage wusste sie, dass das Kind in ihren Armen nun eine Waise war. Wage wusste sie – instinktiv – dass Voldemort besiegt war. Er war fort – Harry hatte die Prophezeiung erfüllt und Voldemort tatsächlich besiegt. Ein kleines Kind – aber niemand sollte kleine Kinder unterschätzen. Sie selbst hatte schon als Kleinkind ihre ersten Monster besiegt, warum sollte Harry nicht seinen ersten dunklen Zauberer besiegt haben.

Bei diesem Gedanken entkam Phillis ein verweintes Auflachen und Harry jammerte schon beinahe besorgt, als würde er spüren, wie verzweifelt Phillis eigentlich war.

Wie allein sie sich in diesem Moment im halb zerstörten Haus der Potters fühlte.

Plötzlich – sie wusste nicht, ob es nach Stunden oder nur Minuten war – hörte sie schwere Schritte im Haus.

Jemand trat ein und stockte – vielleicht hatte die Person James gefunden.

Schleifgeräusche. Die Schritte entfernten sich kurz und kamen dann wieder näher.

Jemand kam die Treppen hoch.

Phillis trat auf den Gang hinaus, den Zauberstab wieder gezückt. Harry jammerte leise, aber sie machte leise „Shh..." und setzte ihn hinter sich auf dem Boden ab.

Nun schirmte sie ihn mit ihrem gesamten Körper ab und stand direkt vor ihm, ein Schutzschild gegen die Gefahr, die nun mit sehr schweren Schritten in das obere Stockwerk ging.

Eine riesige Gestalt tauchte auf und Phillis verfluchte sich selbst, dass sie ihren Bogen vergessen hatte–

Es war nur Hagrid.

Phillis atmete erleichtert aus, als sie ihn erkannte.

„Phillis", erkannte auch Hagrid sie und wirkte überrascht, „Was machst du –"

Nun sah er Harry hinter Phillis, der sich gerade unsicher auf die eigenen Beine stellte und sich dafür an Phillis festhielt.

„Der Junge", hauchte Hagrid, „Dumbledore hatte Recht... er hat überlebt."

„James und Lily sind tot", sagte Phillis und ihre Stimme brach, „Ich... ich habe Harry gefunden – er lebt. Aber... James und Lily..."

„Lily ist auch tot?", fragte Hagrid und wirkte ebenso betroffen wie Phillis, „Ich... Dumbledore schickt mich..." Er wirkte ein wenig neben der Spur, aber Phillis wusste, dass man Hagrid trotzdem vertrauen konnte. „Ich... ich soll den Jungen holen und zu seinen Verwandten bringen."

Er muss von seinem Blut umgeben aufwachsen...

Phillis erinnerte sich daran, wie Dumbledore ihr und Marty von der Prophezeiung erzählt hatte und wie Apollo ihn angewiesen hatte, dass das betroffene Kind umgeben von Verwandten aufwachsen musste. Bei Harry blieben da nicht viele Optionen – eigentlich nur seine Tante, die Schwester von Lily.

„Ja...", Phillis hob Harry wieder in ihre Arme, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen und dieses Gefühl hatte sie in der Tat, „Ja... das wäre wohl besser so..."

Zögerlich hielt Phillis ihm das Kind hin. Hagrid nahm Harry so behutsam in den Arm, Phillis wusste einfach, dass das die richtige Entscheidung war.

„Was wirst du machen?", fragte Hagrid sie.

„Ich... ich räume hier ein wenig auf", murmelte Phillis wie benebelt, „Alles, was noch zu retten ist... und ich warte auf andere, damit wir James und Lily... wegbringen können... Ich will nicht, dass irgendwelche Verrückte vorbeikommen und Reliquien mitgehen lassen..."

Hagrid nickte. „'türlich", sagte er und schniefte, „Sie waren gute Leute – James und Lily... wirklich toll."

Phillis nickte nur. Ein Kloß in ihrem Hals verhinderte, dass sie auch nur ein Wort herausbekam.

Hagrid und Harry verschwanden. Phillis blieb allein zurück.

Und da kamen die Tränen und sie sank auf die Knie.

Es war vorbei – endlich vorbei. Aber wenn das der Preis dafür war, hätte sie lieber noch weiter Krieg geführt.

Einen Moment lang kam ihr die Geschichte von Orpheus in den Sinn.

Was hinderte sie eigentlich daran, in die Unterwelt zu gehen und all ihre Freunde zu befreien? Sie alle zurück in die Welt der Lebenden zu bringen?

Aber der vernünftige Teil in Phillis wusste, dass das nicht richtig war.

Die Toten sollten tot bleiben. Auch, wenn man Phillis die Wahl offenhalten würde, James zurück zu bringen – sie würden die Chance nicht ergreifen.

Einen Tod zu verhindern war eine Sache, aber den Tod rückgängig zu machen, das widersprach der Natur.

Die Toten waren tot und sollten es auch bleiben.

Sie konnte nur beten, dass James und Lily und all die anderen, die gestorben waren in diesem Krieg, ihren Weg ins Elysium fanden und sie dort wiedervereint sein würden.

Aber bis dahin würden sie getrennt sein und Phillis spürte jetzt schon, wie sehr sie James vermisste.



Marty beobachtete, wie Hagrid den kleinen Harry Potter in den Ligusterweg brachte, fliegend auf einem riesigen Motorrad.

Marty hatte schon vor Tagen vorhergesehen, dass das passieren würde, aber im Gegensatz zu Phillis war ihm bewusst gewesen, dass er es nicht verhindern konnte.

Als es dann aber soweit war, war er mit dem Mini-Sonnenmobil nach England zurückgekehrt.

Er wusste, wohin Albus den Jungen bringen würde. Er hatte sich dort versteckt, als es dunkel geworden war und gewartet. Er hatte beobachtet, wie Albus und die Katze (eigentlich Frau) sich getroffen hatten und wie sie vom Tod von Lily und James Potter gesprochen hatten.

Lily war Marty eine teure Freundin gewesen. Er erinnerte sich daran, wie er sie zum Altar geführt hatte. Wie sie ihm gestanden hatte, dass sie schwanger war. Wie sie ihm immer vertraut hatte.

Etwas zog sich in seiner Brust zusammen, als er einen Moment lang daran dachte, dass Lily ihm immer vertraut hatte, aber er hatte trotzdem nicht ihren Tod verhindern können.

Marty hielt sich versteckt und beobachtete, wie Albus Harry auf die Türschwelle legte und dann nacheinander alle verschwanden.

Erst da kam Marty aus seinem Versteck und schlich sich an Harry heran.

Das Baby war aufgewacht – wahrscheinlich, weil er auf einem kalten Steinboden lag.

Nur gewickelt in einer Decke (zwar magisch verzaubert, dass sie ihn warmhielt, aber trotzdem nicht ganz das Wahre für ein Baby) war es bestimmt nicht bequem für ihn.

Grüne Augen blickten zu Marty hinauf, als er über Harry stand und Marty lächelte auf Harry hinab.

„Hey!", begrüßte er ihn mit einem sanften Lächeln.

Harry gluckste.

Marty bückte sich und hob Harry hoch. Auf seiner Stirn war eine kleine Wunde und Marty wusste sofort, dass es eine Fluchnarbe war. Keine andere Wunde fühlte sich so böse an.

Trotzdem legte Marty sanft eine Hand auf seine Stirn und schloss die Augen. Wärme floss durch seine Hand in Harry und seine Heilmagie heilte die Wunde zu einer auffälligen, aber schön verheilten Narbe zusammen, in der Form eines Blitzes.

Dann setzte Marty sich auf die Stufe vor dem Haus und ließ Harry an seiner Wärme teilhaben – der Wärme der Sonne. Und er sang für ihn ein altes Lied, damit er schlafen konnte – die ganze Nacht, bis der Morgen graute.

Als Marty hörte, wie sich im Haus der Dursleys etwas rührte, drückte er Harry einen letzten Kuss auf die Stirn, vertrieb mit einer Handgeste alles Böse von ihm und legte ihn an den Ort, an dem Albus ihn zurückgelassen hatte.

Harry jammerte ein wenig, als die Wärme verschwand, aber Marty konnte nicht bleiben.

Ein letzter Blick in die Augen von Lily – diese grünen Augen.

Marty lächelte und wünschte sich, es wäre alles anders gewesen.

Aber niemand konnte die Zukunft beeinflussen – nicht einmal er oder Phillis.

Er wollte Harry nicht verlassen, nicht allein lassen in dieser kalten Welt. Aber er musste.

„Wir sehen uns wieder, Harry Potter", flüsterte er leise und strich Harry über die Stirn.

Dann beeilte er sich, zu gehen und nur Augenblicke später öffnete Mrs Dursley die Haustür, um die Milchflaschen nach draußen zu stellen und weckte Harry mit einem schrillen Schrei.

Und im ganzen Land erhoben Hexen und Zauberer ihre Gläser und stießen an: „Auf Harry Potter – der Junge, der überlebte!"

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