Orpheus II

Danach war es so, als wäre alles ganz normal.

Marty sprach den Tod seines Mannes nicht mehr an, als er die Verletzten heilte, als wäre er wieder der ganz der Alte, während Laertes' Leiche mit einer Decke bedeckt weggebracht wurde.

Eine Gruppe von ihnen durchsuchte das Haus nach Gegenständen, die die Explosion überlebt hatten und obwohl das obere Stockwerk mit Phillis' Zimmer ziemlich mitgenommen war, fanden sie noch ein paar Dinge von ihr und Houdini, aber auch den anderen Demigöttern.

Houdini war erleichtert, als sie seine Version von „Herr der Ringe" fanden, die er von seinem Großvater bekommen hatte und Phillis rettete so viele ihrer Fotos, wie sie konnte.

Sie beobachteten Marty misstrauisch, aber er ließ sich nichts anmerken. Vielleicht verdrängte er es oder er schob seine Trauer auf. Vielleicht sparte er sie auch auf für den Moment, an dem er die Zeit hatte, zusammen zu brechen.

Vorrübergehend zogen die Demigötter im Haus von Sturgis ein.

Emmeline bot Birget zwar an, dass sie bei ihr übernachten konnte, aber Birget bestand noch vehementer als sonst darauf, bei den anderen zu bleiben.

Die Nacht danach war schlimm.

Es war schon ziemlich lange her, seit Phillis die Möglichkeit gehabt hatte, über Demigott-Träume Voldemort und Pirro zu beobachten. Vielleicht war es Eris gewesen, die sie vor Phillis beschützt hatte, aber nun war Eris fort und Phillis hatte wieder Zugang zu ihren Erlebnissen.

„Du hast versprochen, dass mit dir auch göttliche Macht auf unserer Seite ist!", brüllte Voldemort, eindeutig wütend. Das Opfer seiner Wut war Pirro, der zwar versuchte, stark auszusehen, aber ähnlich wie bei Houdini kannte Phillis ihn gut genug, um zu wissen, dass er so lautes Schreien eigentlich überhaupt nicht mochte. „Aber schon seit Monaten oder Jahren kommen diese anderen Demigötter uns immer wieder in die Quere! So war das nicht abgemacht!"

Die anderen Todesser waren maskiert und standen im Raum, um Voldemort und Pirro in einem Kreis herum. Sie umzingelten sie, als wären sie ein lebendiger Wrestling-Ring, versperrten damit aber auch jeden Ausgang.

„Ist es meine Schuld, dass sich diese anderen eingemischt haben?", verteidigte Pirro sich ebenso wütend. Seine Mutter hatte ihn an diesem Tag mehr oder weniger allein gelassen – vermutlich fühlte er sich verraten.

Gut, dachte Phillis sich. Sollte er ruhig seine eigene Medizin probieren!

„Außerdem habe ich den Todessern genug Möglichkeiten aufgezeigt, um sie umzubringen, aber aus irgendwelchen Gründen scheinen sie nicht einmal das zu schaffen!", beschuldigte Pirro sie.

„Du hast auch gegen sie gekämpft!", erinnerte Voldemort ihn, „Und du hast auch versagt. Vielleicht versagen meine Todesser nicht an dir..."

Pirro brauchte einen Augenblick, bis er die Worte verstand. Beinahe war es zu spät, aber vermutlich hatte Pirro auch ein wenig damit gerechnet – er wäre ein Narr, wenn es nicht so gewesen wäre.

Die Todesser griffen ihn an, aber Pirro riss seine Harpune von seinem Rücken und wehrte die Zauber einfach ab.

Er durchstach einen der Todesser einfach so und schlug einem anderen auf den Kopf, als ein Zauber ihn traf. Nicht tödlich, aber es tauchte ein Schnitt an seinem Oberschenkel auf und Phillis wusste, dass er das wohl besser verbinden sollte, bevor er daran verblutete.

Pirro schien zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein, schlug einen anderen Todesser weg und verfehlte einen anderen nur um Haaresbreite.

Ein Todesfluch erwischte ihn beinahe, aber er konnte noch gerade so ausweichen. Dann machte er mit einer Hand eine seltsame Handbewegung und auf einmal schlug ein Todesser dem anderen ins Gesicht.

„Du hast ihn verfehlt, du Idiot!", schrie der eine.

„Schlag mich nicht!", schrie der andere zurück.

Pirro nutzte die Ablenkung, nahm Anlauf (soweit das mit seinem verletzten Bein möglich war) und sprang aus einem Fenster.

Phillis erwachte, als sie Birget schreien hörte und sofort war sie auf den Beinen.

Sie wollte es nicht gerne zuhören, aber sie hatte ihre leichte Rüstung über Nacht einfach anbehalten – irgendwie verstand sie, warum Birget das immer machte, wenn sie aufgebracht oder traurig war.

Phillis raste zusammen mit Houdini und Wesley die Treppen hinunter und auch Sturgis und ihre Mum kamen mit erhobenen Zauberstäben aus ihrem Zimmer.

Aber unten war keine Gefahr zu sehen.

Birget stand gerade auf. Sie hatte direkt vor der Haustür gelegen und als Wesley das Licht anschaltete, konnten sie sie sehen.

Vor ihr stand Marty mit einem teils überraschend, teils wütenden Gesichtsausdruck.

„Verdammt, Birget, hast du vor der Tür geschlafen wie so ein Hund?", fragte Marty aufgebracht.

„Ich kenne dich, du Vollpfosten!", schrie Birget zurück und Phillis wusste noch nicht genau, warum die beiden jetzt schon wieder stritten, aber es musste schlimm sein, „Ich habe dich durchschaut! Aber du verlässt heute nicht dieses Haus! Nicht, solange ich noch atme!"

„Was ist denn überhaupt passiert?", fragte Houdini genervt.

„Marty wollte gehen!" Birget deutete anklagend auf Marty.

In diesem Moment realisierte Phillis, dass Marty die Gitarre von Ruth auf dem Rücken trug und er wohl auch einen Rucksack gepackt hatte.

„Wohin wolltest du?", fragte Phillis und obwohl ihre Intension gewesen war, gleichgültig und cool zu klingen, konnte sie es nicht verhindern, dass sie verletzt klang. Die Bilder von Pirros dramatischer Flucht waren noch in ihrem Gedächtnis und die Gedanken daran, dass Pirro sich nun genauso verraten fühlen musste, wie sie sich gefühlt hatte, als er sie erstochen hatte.

Marty holte tief Luft. „Weg", sagte er kurz.

„Weg?", wiederholte Birget spöttisch, „Was war dein Ziel, hu?"

„Keine Ahnung!" Das war eine Lüge, das erkannte Phillis und sie zuckte zusammen.

Marty presste die Lippen fest aufeinander und hatte Tränen in den Augen, bevor er gestand: „Ich wollte in die USA, okay! In die Unterwelt!"

„Du wolltest sterben?", fragte Houdini perplex.

„Er wollte Laertes zurückholen", erkannte Phillis überrascht – das erklärte, warum er ihre – oder Ruths – Gitarre gestohlen hatte, „Wie Orpheus..."

„Nicht wie Orpheus", korrigierte Marty sie, „Orpheus war ein Idiot! Bei mir hätte es funktioniert!"

Es wurde still und alle sahen Marty voll Mitleid an.

Er spürte ihre Blicke auf sich und sah sich ein wenig wie ein gejagtes Tier unter ihnen um, bevor seine Augen glasig vor Tränen wurden und er mit einem Schluchzen zusammenbrach. Er sank auf die Knie und weinte.

Birget war als erstes bei ihm und umarmte ihn fest.

„Ich wollte ihn nur zurückholen!", schluchzte Marty verzweifelt, „Es wäre nur fair! Habe ich mir diese Freude im Leben nicht verdient?"

„Hol ihn nicht zurück", bat Birget ihn ruhig und sie hatte ebenfalls Tränen in den Augen, „Versprich mir das, du Idiot! Beim Fluss Styx oder bei was auch immer dir noch heilig ist! Hol ihn nicht zurück und folge ihm auch nicht nach! Nicht so!"

„Kommt, gehen wir", sagte Wesley ruhig und scheuchte Houdini wieder die Treppe hoch, „Lassen wir sie allein. Birget schafft das schon."

Phillis blieb noch einen Moment länger stehen und starrte auf ihren großen Bruder und sie fragte sich, ob er jemals wieder so werden würde, wie zuvor.

Am nächsten Morgen konnte man nicht die Morgenklänge von Marty hören. Man hörte ihn gar nicht und er verließ nicht sein Zimmer.

Und diese Stille schien noch erdrückender, als sie normalerweise war.



Am Tag von Laertes' Begräbnis kamen alle zusammen.

Sie hatten den Ort erst in letzter Sekunde bestimmt und hatten alle vom Orden mit dem Mini-Sonnenmobil hingebracht, damit der Verräter den Standort nicht weitergeben konnte, aber wahrscheinlich hätte nicht einmal Voldemort es gewagt, ein so heiliges Ritual zu unterbrechen.

Chiron war vom Camp angereist, um die Zeremonie zu leiten.

Das Leichentuch hatten sie zusammen gemacht – nicht Laertes' Geschwister, wie es Brauch gewesen wäre, sondern seine Gefährten auf der Reise.

Marty trug Kleidung, die Laertes gehört hatte – zumindest das orangefarbene Camp-T-Shirt, aber Marty hatte es so lange gewaschen, bis das Zeichen vorne beinahe ganz verblasst war.

Etwas Gutes hatte das Begräbnis – es war das erste Mal seit Langem, dass alle wieder einmal zusammenkamen und so sah Phillis auch wieder James und Lily, zusammen mit Harry.

Er war schon ziemlich groß und tapste unbeholfen zwischen den Trauergästen umher.

Und als hätte er die Trauer von Marty gespürt, zog es ihn direkt zu ihm und der kleine Harry Potter klammerte sich mit all seiner Kraft an Martys Hosen, um nicht umzufallen, während sie auf den großen Scheiterhaufen blickten.

Das war das erste Mal, dass Marty seinen Blick abwenden konnte und er schaute auf Harry herab.

„Hallo", sagte er und versuchte sogar leicht zu lächeln, bevor er sich bückte und Harry in seine Arme hob, „Schon lange nicht mehr gesehen, hu? Wie geht's dir so, Harry?"

Harry antwortete, indem er versuchte, einige Ketten von Marty zu essen und vor sich hin brabbelte.

„Und wie geht es dir, Phillis?" James kam zu ihr und legte freundschaftlich einen Arm um ihre Schultern.

„Absolut mies", gestand Phillis leise, „Ich habe schon viele in meinem Leben verloren – aber so Leute wie Laertes sterben einfach nicht... und doch..." Sie konnte den Satz nicht beenden.

„Ich habe Angst", sagte James so leise, damit nur Phillis ihn hören konnte und er ließ sich auch in seinem Gesicht kaum etwas anmerken, als würde er nicht wollen, dass jemand anderer davon erfuhr – nur Phillis, „Wir verstecken uns und es ist absolut langweilig. Das spannendste war, als Sirius Harry zum Geburtstag einen kleinen Besen geschickt hat... aber eigentlich ist das Leben ziemlich... monoton geworden. Aber trotzdem ist da immer diese Angst... Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und habe einfach das Gefühl, als müsste ich kämpfen. Dann suche ich nach meinem Zauberstab, aber erkenne, dass es nur ein Traum gewesen ist... und da überhaupt keine Gefahr ist. Aber ich kann kaum unterscheiden, was Realität ist und was ein Traum und in meinen Träumen ruft Lily nach Hilfe und Harry weint, aber ich... ich komme einfach nicht rechtzeitig zu ihnen... niemals..."

Phillis dachte an die Prophezeiung, von der nur sie, Dumbledore und Marty wussten – und natürlich auch zum Teil Snape und Voldemort... aber diese Prophezeiung sprach von einem Kind, geboren Ende Juli.

Phillis wollte gar nicht daran denken, was Lily und James passieren könnte, wenn Voldemort sie fand.

„Ich kenne das Gefühl", sagte Phillis leise, „aber du kannst nichts dagegen tun..."

„Dumbledore hat eine andere Art des Verstecks vorgeschlagen – einen Zauber", erzählte James, „Ich kann nicht zu viel sagen –"

„Sag mir besser nicht zu viel", riet Phillis ihm, „erzähl niemanden zu viel... du weißt nie, wem sie es weitersagen..."

„Ich vertraue dir, Phil", sagte James mit einem leichten Lächeln im Gesicht, „Du bist mein Kapitän... ich würde dir mein Leben anvertrauen, wenn du nicht schon genug Stress hättest... aber ich vertraue dir, das solltest du wissen... und sollte mir und Lily etwas passieren –"

„Denk nicht einmal daran!", warnte Phillis ihn streng, „Keine solchen Gespräche auf einer Beerdigung!"

„Sollte uns etwas passieren", fing James wieder an, ohne auf Phillis zu hören, „dann weiß ich, dass Harry sicher ist – denn er hat so eine coole Tante wie dich!"

Phillis wusste nicht, was sie sagen sollte und lächelte nur. „Danke", sagte sie leise, „Das bedeutet mir viel..."

„Und ich meine es auch so", bestätigte James.

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie einfach nur fest, während der Scheiterhaufen von Laertes langsam hinunterbrannte.

Nach der Beerdigung verteilte sie die Gruppe schnell wieder, als würden sie flüchten und da erkannte Phillis, wie schlimm es um den Orden stand.

Wenn der Krieg nicht bald beendet wurde, würden sie ihn doch noch verlieren – obwohl Eris das Schlachtfeld nun verlassen hatte.

„Phillis..." Marty kam zu ihr und in der Hand hielt er seine Sonnenbrille mit rosafarbenen Gläsern, „Ich werde Chiron begleiten..."

Es war ein wenig wie ein Schlag in den Bauch für Phillis und sie sah Marty ungläubig an. „Du gehst?", fragte sie, „Jetzt, wo wir dich am meisten brauchen?"

„Nicht für immer", versprach Marty und umarmte Phillis, „Nur ein oder zwei Monate – höchsten bis Weihnachten. Dann komme ich zurück – in Amerika gibt es nichts für mich und irgendwie hab ich Europa zu lieben gelernt..."

„Was machst du?", fragte Phillis ihn, als er sie wieder losließ.

„Ich muss die Wohnung auflösen", seufzte Marty und fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht, „Und dann... keine Ahnung... vielleicht werde ich ein Arzt ohne Grenzen, wie mein Dad... oder ich helfe hier irgendwo aus... aber ich werde mein Leben nicht verschwenden. Ich brauche nur ein wenig Zeit, um damit zurecht zu kommen."

Phillis schluckte schwer. „Fern von Krieg", meinte sie leise, „Das klingt gut..."

Marty lächelte leicht. „Wir sehen uns wieder, wenn ich mich wiedergefunden habe", versprach er, „Zumindest einen Teil von mir. Aber im Moment... im Moment fühle ich mich einfach nur unfertig."

„Pass auf dich auf", bat Phillis ihn, „Mach keinen Unsinn!"

„Ich? Niemals!", scherzte Marty und wuschelte Phillis noch einmal durch die Haare.

Phillis blieb zurück, nur noch mit Birget, Houdini und Wesley. Ihre Gruppe war kleiner geworden – ihr war gar nicht aufgefallen, wie ruhig es dann gleich war.

Ohne Laertes und Marty war es einfach nicht das Gleiche...

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