Lacrimosa
Remus würde die Demigötter erst wieder zur Neujahrsfeier der Potters sehen.
Eigentlich war es eher eine kleine, verspätete Weihnachtsfeier für James und seine Freunde – früher waren es nur die Rumtreiber gewesen, dann waren auch noch Marlene und Lily und wenige andere dazu gekommen und mittlerweile war es eine kleine Feier mit einigen aus dem Phönixorden.
Es gab noch Kekse von Weihnachten, Punsch und andere alkoholische und nicht-alkoholische Getränke, kleine Snacks von Mrs Potter und Kuchen.
Sara Dolohow – die James ebenfalls eingeladen hatte – hatte Kuchen mitgebracht. Einen wirklich guten Kuchen, Remus hatte zwei Stück davon gegessen.
Remus hatte sich auch dabei erwischt, wie er Sara dabei beobachtet hatte, wie sie sich eher von den anderen entfernt hatte. Mit einem höflichen Gläschen Champagner untersuchte sie lieber die kleine Bibliothek von Mr Potter im Wohnzimmer, nippte immer wieder an ihrem Getränk und sprach höflich und ruhig, nur dann, wenn sie jemand ansprach.
Sara Dolohow war freundlich, wenn sie Gäste hatte, aber als Gast war sie zurückhaltend und introvertiert. Irgendwie überhaupt nicht wie Phillis – oder genau wie sie. Remus war sich da nicht sicher.
Dann hatte sich Sturgis Podmore zu Sara gesellt und Remus hatte beschlossen, dass es seltsam war, wenn er sie weiter beobachten würde und hatte sich lieber wieder unter die anderen gemischt – er war bei Partys eigentlich auch nicht gerne sozial, sondern beobachtete eigentlich lieber aus der Ferne.
Besonders an diesem Tag mied Remus die Gesellschaft seiner Freunde – immerhin war James durchgedreht.
Remus konnte genau den Zeitpunkt festlegen, an dem James Potter den Verstand verloren hatte: am Vortag um exakt zehn Uhr vierzehn am Vormittag (jedenfalls aus Remus' Sicht, eigentlich war es zwischen zehn und zwanzig Minuten früher passiert – oder noch etwas mehr).
Da war die erste Eule mit der wahnsinnigen Idee von James eingetroffen.
Remus hatte sich noch nicht einmal die Zähne geputzt, zu abgelenkt von einem Buch, das er zu Weihnachten bekommen hatte (von Phillis – aber das war sicherlich nicht der Grund, warum Remus jede freie Minute damit verbrachte, es wieder und wieder zu lesen – er hatte es schon zweimal durch), als eine Eule von James mit einem Brief hereingeschwebt war.
Eigentlich war es nicht einmal wirklich ein Brief gewesen – nur ein Stück Pergament (auf der Rückseite waren die Reste eines Aufsatzes von Hogwarts zu lesen gewesen – James hatte nur eilig ein Stück abgerissen) auf dem James eilig ein paar krakelig geschriebene Zeilen gekleckst hatte, Phillis' Schrift war im Gegensatz dazu ordentlich.
James' Hand hatte eindeutig gezittert, als er das geschrieben hatte und wahrscheinlich waren auch seine Gedanken blitzschnell und chaotisch durch seinen Kopf geschossen – Remus stellte sich vor, wie Phillis über Weihnachten mit James das Gehirn getauscht haben musste.
Dort stand: Ich glaube, ich werde Lily einen Heiratsantrag machen!
Remus hatte etwas gebraucht, bis er diese Worte verstanden hatte. Nicht, weil James' Schrift so schrecklich war (mit Phillis hatte er gelernt, so etwas sehr gut entziffern zu können). Nein, Remus konnte sich nur nicht vorstellen, dass das wirklich dort stehen konnte.
Nicht einmal fünf Minuten nach der ersten Eule (Remus hatte gerade erst begonnen, diese Worte zu verarbeiten) kam schon die nächste mit einem weiteren Fetzen Pergament.
Dort stand: Scheiße, ich WERDE Lily einen Heiratsantrag machen!
Sonst nichts. Remus war sich sicher, dass James etwas getrunken haben musste.
James hatte aber nichts getrunken und Remus erfuhr später – als er sich eilig anzog, sich die Zähne geputzt hatte und dann sofort zu James appariert war, um ihn von jeglichen impulsiven Entscheidungen abzuhalten – dass James sehr wohl bei Verstand war.
Remus vermutete, es war eine Reihe von Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass James an eine Hochzeit dachte.
Unter anderem hatten Lily und James gerade das perfekte Haus gefunden – in Godric's Hollow.
Außerdem war James' Vater erkrankt.
Es waren die Drachenpocken – behandelbar, aber trotzdem konnten sie tödlich enden, besonders bei einem älteren Herrn wie Fleamont Potter.
Euphemia, James' Mutter lenkte sich so gut sie konnte ab, aber die Spannung war regelrecht zu spüren.
Vielleicht war James deswegen auf die Idee gekommen, schnell zu heiraten – in der Hoffnung, sein Vater könnte es noch mitbekommen.
James legte den Termin auf Neujahr und er war sehr effizient. An dem Tag, an dem er den Beschluss gefasst hatte, kaufte er schon einen Ring und am nächsten Tag plante er mit Sirius, wie er Lily fragen wollte.
Zuerst wollten sie, dass James singend aus einer Torte sprang und Lily vor allen ihren Freunden die entscheidende Frage stellte. Es war Remus gewesen, der sie daran erinnert hatte, dass Marty ebenfalls dort sein würde (der Sohn des Gottes der Musik, mit einem perfekten Gehör... und James konnte nicht wirklich singen) und James Lily die Möglichkeit geben sollte, auch „Nein" zu sagen.
„Warum sollte Lily ablehnen?", fragte Sirius spöttisch.
„Weil sie noch nicht so lange zusammen sind?", schlug Remus darauf vor, „Weil sie noch nicht einmal zusammen leben? Weil sie jung sind? Weil sie genauso gut jeden Tag eine Witwe sein könnte?"
„Du bist ja wirklich ein Sonnenschein."
Aber James hatte eingesehen, dass es Lily wirklich fairer gegenüber wäre, wenn es etwas privater wäre – sollte sie „Ja" sagen, konnten sie es immer noch allen laut verkünden.
Als Remus bei der Neujahrsfeier also sowohl James als auch Lily nicht mehr entdecken konnte, vermutete er, dass der Plan vonstatten ging und tatsächlich kamen James und Lily kurz darauf Hand in Hand und strahlend die Treppe hinunter.
Lily trug den Ring von James am Finger und sie schien überglücklich zu sein.
Jemand kreischte laut und in sehr hohen Frequenzen auf und als Remus sich erschrocken nach dem Ursprung umsah, erkannte er, dass es Sirius gewesen war, der nun auch noch begeistert auf und ab sprang.
Das lenkte auch die Aufmerksamkeit der anderen auf die beiden und James räusperte sich.
„Leute!", rief er und alle wurden leise und blickten zu ihm, wenn sie das nicht schon getan hatten, „Wir...haben etwas zu verkünden!"
„Du bist schwanger?", fragte Birget laut und riss erschrocken die Augen auf.
„Was?", fragte James verwirrt, „Nein! Verlobt! Nur verlobt!"
Kurz war es still, als würde niemand so genau wissen, was sie dazu sagen sollten und James sah sich unsicher um – bestimmt hatte er sich nicht so eine Reaktion erwartet.
„Glückwunsch!", rief Marty und das löste die Spannung und auch die anderen Gäste beglückwünschten das Paar und einige eilten zu ihnen.
Marty betrachtete hingerissen den Ring von Lily und redete von seiner eigener Verlobung, die offenbar irgendwie überhaupt nicht stattgefunden hatte, aber das war wohl eine andere Geschichte.
Die Stimmung wurde danach ausgelassener und Remus saß zusammen mit James, Sirius und Peter an dem Couchtisch – ausnahmsweise einmal nur sie zu viert wie in guten, alten Zeiten.
„Du hast dir umsonst Sorgen gemacht, Moony", erzählte James, „Sie hat sofort Ja gesagt!"
Remus lächelte leicht und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Ich bin stolz auf dich. Zugegeben, ich habe nicht gedacht, dass du von uns als erstes unter die Haube kommst, aber zugleich kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Peter oder Sirius... oder ich jemals heiraten, also bist du wohl die einzige Möglichkeit gewesen."
„Habt ihr schon einen Termin?", fragte Peter neugierig.
„Ich hab mir gedacht, vielleicht im Frühling – März oder April", schlug James vor, „aber ich hab noch nicht mit Lily darüber gesprochen."
In diesem Moment schwebte eine Eule durch die Räume und direkt zu James. Sie ließ einen Brief in seinen Schoß fallen und flog zu einem der Bücherregale, auf das sie sich niederließ, um sich wohl nach einem langen Flug auszuruhen.
„Sag bloß, es haben jetzt schon alle von der Verlobung erfahren", scherzte Sirius, „Sind das die ersten Glückwünsche?"
James lachte und las den Absender. „Von Dumbledore", sagte er und sah vielsagend in die Runde.
„Vielleicht auch eine Einladung zu einem Treffen?", schlug Peter vor, „Für einen neuen Auftrag!"
„Die Todesser sind in letzter Zeit wirklich leise gewesen", stimmte Remus ihm zu, „Vielleicht schickt er dich irgendwo hin!"
James öffnete den Brief und las ihn sich durch und man konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Auch die anderen wurden ernster und warteten ungeduldig darauf, dass James sich den Brief durchgelesen hatte und er wieder aufsah, einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck im bleichen Gesicht.
„Was ist?", fragte Peter leise, „Was ist passiert?"
„Ich... ich sollte wohl Phillis informieren", murmelte James nur und stand auf, „Sie muss auch davon erfahren..."
Houdinis Vater führte Phillis in die wunderbare Welt von Mozart und als sie zu Weihnachten von ihm tatsächlich eine ganze Mappe mit Klavier-Noten zu Mozarts Werken bekam, fand man sie meist beim Klavier der Houdinis im Wohnzimmer.
Grundsätzlich störte das niemanden.
Henry Tolkien, Houdinis Vater, brachte Phillis die Lieder bei, Phillis lernte sie, perfektionierte sie und spielte sie dann besser, als Mr Houdini es jemals gekonnt hätte. Im Haus der Houdinis herrschte also über die Ferien meist eine anhaltende Musik und Houdini war gezwungen, sich zu Phillis zu setzen, wenn er mit ihr reden wollte, also fand man ihn meist dort an Phillis' Seite.
Die Weihnachtsferien waren genau das, was Phillis gebraucht hatte.
Fern von den Problemen, die sie nun schon seit Monaten oder sogar Jahren verfolgten. Fern von Krieg, Gewalt und Hass. Fern von all diesen Dingen, die sie in ihren Albträumen noch immer heimsuchten und sie wachhielt, aber weit weg von diesem Krieg wurden sie zu genau dem reduziert: einfache Albträume, die nie real werden würden.
Phillis aber wusste, dass es Vorhersagen waren.
Schreiende Menschen – sie hatten offensichtlich unsagbare Schmerzen, niemand sonst würde so schreien. Dann Schnipsel von kurzen Momenten, in denen Phillis Leichen sah – die Augen glasig und in die Leere blickend.
Phillis' Träume waren in den letzten Nächten immer dieselben gewesen. Sie sah ein totes Paar, die die Hände zueinander streckten, als würden sie sich im Tod aneinander festhalten wollen. Phillis kannte den Mann und die Frau nicht. Sie wusste nicht, warum sie deren Tod vorhersah. Und dann versuchte Phillis im Traum sich immer umzudrehen, um ein – wie sie wusste – drittes Opfer zu sehen, aber es gelang ihr einfach nicht und sie wachte dann immer schweißgebadet und schwer atmend auf – und weckte dabei meist Houdini, der sie kommentarlos zu beruhigen versuchte, indem sie mitten in der Nacht einen Spaziergang machten oder Klavier spielten.
Aber Phillis und Houdini blieben dem Krieg fern.
Sie waren zusammen im Camp gewesen, hatten dort ihre Geschwister und Chiron besucht, hatten mit ihren Freunden dort gesprochen (nur Phillis hatte das getan, aber immerhin), aber sie hatten nur minimal über den Krieg gesprochen. Dann hatten sie sich psychisch davon entfernt – beinahe so, wie sie sich wortwörtlich physisch von Voldemort, den Todessern und Pirro entfernt hatten, indem sie ans andere Ende der Welt geflogen waren.
Phillis hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach werden würde...
Eowyn und Arwen, Houdinis Schwestern, waren schon zu Bett gegangen, aber Houdini und Phillis würden noch etwas länger wachbleiben und den Jahreswechsel zu Mitternacht miterleben. Mr und Mrs Houdini waren in der Küche – Houdini und Phillis wie so oft im Wohnzimmer der Tolkiens am Klavier.
Phillis hatte es gestimmt (das war nötig gewesen – jedenfalls für eine Tochter des Apollo) und das Klavier beinahe schon für sich beansprucht. Als Mr Houdini erkannt hatte, dass seine Fähigkeiten im Gegensatz zu denen von Phillis eher laienhaft waren, hatte er es ihr überlassen, in der Zeit zu spielen, in der sie da war, während er sich beinahe schon beleidigt von dem Instrument entfernt hatte und es nicht einmal mehr anfassen wollte.
Eigentlich herrschte eine lockere Stimmung. Draußen explodierten immer wieder Feuerwerke, Leute feierten auf den Straßen und das neue Jahr stand schon vor der Tür.
Aber Houdini und Phillis hatten alle Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen, um nicht die bunten Lichter draußen zu sehen oder die Schreie und Rufe zu hören und sie sprachen nicht wirklich von einem neuen Jahr mit dem Wissen, dass sich wahrscheinlich nichts ändern würde und sie wollten hier in New York nicht an den Krieg erinnert werden – jedenfalls nicht Phillis.
Trotz allem konnte sie nämlich noch immer nicht die Gedanken von Houdini lesen und hatte letztendlich keine Ahnung, was er davon hielt, aber er hatte keine Fragen gestellt oder sich beschwert, was für Phillis bedeutete, dass er entweder dasselbe dachte wie sie, oder sie zumindest verstand.
Sie spielte „Alla Turca" von Mozart – ihr neuestes Projekt in der Mappe an Lieder, das sie perfektionieren wollte, weswegen sie häufiger Passagen wiederholte, bis sie zufrieden damit war.
Houdini hatte es sich mit einem besonders dicken Buch auf einem Sofa der Houdinis bequem gemacht und saß ausnahmsweise einmal nicht neben Phillis, aber im Moment waren die beiden sowieso nicht wirklich dazu aufgelegt, miteinander zu reden, sondern in ihren eigenen Tätigkeiten vertieft.
Phillis wiederholte eine der schnelleren Stellen. Und noch einmal. Und noch einmal. Und dann noch einmal. Es klang noch nicht ganz so, wie sie es wollte.
Bei der siebten Wiederholung räusperte sich jemand hinter ihr und erschrocken schlug Phillis auf die Tasten und wirbelte herum.
Es war keine Stimme, die sie erwartet hatte.
Hinter ihr war Marty – nicht direkt er selbst, sondern nur ein Bild von ihm – eine Iris-Botschaft.
„Götter", rief Phillis aus, „Hast du mich erschreckt!" Sie lachte nervös. Houdini blickte in ihre Richtung und analysierte mit einem nachdenklichen Blick die Situation. Er sagte nichts, legte nur ein Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.
„Phillis", Marty lächelte leicht.
„Frohes Neues Jahr, oder nicht?", erinnerte sich Phillis und blickte auf ihre Armbanduhr, die aber für den Zeit ihres Urlaubs auf die New-Yorker-Zeit eingestellt war, „Bei euch ist es ja schon nach Mitternacht, oder? Mit der Zeitverschiebung komme ich überhaupt nicht klar!"
„Es ist schon das neue Jahr", bestätigte Marty, „aber... deswegen wollten wir dich nicht kontaktieren..."
„Wir?", fragte Phillis erwartungsvoll nach, „Wer ist noch hier?"
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, traten James, Sirius und Marlene ins Bild. Phillis war ein wenig enttäuscht, dass Remus nicht da war – aber nur einen Moment lang, denn dann sah sie, dass Marlene offenbar geweint hatte. Und als sie dann die Gesichter von James, Sirius und Marty sah, die alle ein wenig gequält lächelten, erkannte sie, dass der Krieg sie eingeholt hatte und ihr Lächeln gefror.
„Ist... alles in Ordnung?", fragte sie vorsichtig.
Houdini beobachtete die Situation stumm. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst – in seinen Augen konnte man Sorge erkennen.
Marty öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.
Es war James, der ihr antwortete: „Es ist etwas passiert, Phil", seine Stimme brach und er räusperte sich. „Phil... es ist... jemand ist angegriffen worden... heute Nacht... von Todessern..."
Phillis sagte nichts dazu.
„Phil... es... es waren die Robins'", brachte James heraus und wurde etwas blasser um die Nase herum, „Silas Robin und seine Eltern – sie sind alle umgebracht worden! Sie sind tot!"
Silas Robins – Sucher von Gryffindor in Phillis' Team, einer ihrer besten Schüler und gerade einmal fünfzehn Jahre alt, als er ermordet worden war.
Phillis' Gedanken rasten und vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die Leichen des Paares – ein Mann und eine Frau – Mr und Mrs Robins, Silas' Eltern. Und Phillis wollte sich umdrehen, um die dritte Leiche zu sehen, aber bevor sie einen Blick darauf werfen konnte, wachte sie auf – aber nicht dieses Mal.
Dieses Mal sah sie es vor ihrem inneren Auge – der kleine Silas Robin, tot auf dem Boden liegend, unter Schmerzen gestorben.
Phillis blinzelte, aber das Bild von Silas' Leiche hatte sich schon in ihre Netzhaut gebrannt, obwohl sie ihn nie wirklich so gesehen hatte.
„Phillis?", fragte Marty vorsichtig.
Phillis sagte nichts. Sie drehte sich wieder um, wieder zum Klavier, blätterte in den Seiten der Noten, die sie von Mr Houdini zu Weihnachten bekommen hatte und begann dann zu spielen.
Als Houdini die ersten Noten von Mozarts „Lacrimosa" erkannte, sprang er auf und ging mit schnellen Schritten an Phillis' Seite und stellte sich vor das Bild der Iris-Nachricht.
„Wir werden so bald wie möglich abreisen und zurückkommen", verkündete Houdini mit einer so gleichgültigen Stimme wie immer. Phillis spielte im Hintergrund.
„Er war ein Freund...", sagte James leise, mit einem besorgten Blick auf Phillis.
„Ich werde bei ihr bleiben", versprach Houdini und er klang genervt, „Vermutlich steht sie unter Schock..."
„Sie spielt das Requiem", bemerkte Marty leise, „Sie ist wohl fix und fertig... sie hat davon geträumt, oder?"
Houdini blickte kurz über die Schulter zurück zu Phillis, die in ihrer eigenen Welt der Musik blieb. Er antwortete nicht auf die Frage, aber das war schon Antwort genug.
„Wir werden nach Irland zurückkommen", sagte Houdini noch einmal, „Wir sehen uns dann dort."
Plötzlich brach die Musik ab – nach dem achten Takt. Marty zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen und auch Houdini blickte wieder in Phillis' Richtung, wie um zu sehen, ob sie noch lebte.
Kurz herrschte Stille. Dann begann Phillis von vorne.
Houdini nickte den Leuten in England noch einmal zu und wischte dann durch die Iris-Botschaft.
Einen Moment lang blieb er ratlos und überfordert neben Phillis stehen.
Dann setzte er sich zu ihr und wartete, bis sie den achten Takt gespielt hatte und das Lied wieder abrupt abbrach, bevor er sie von der Seite umarmte.
Zitternd holte Phillis Luft. „Ich hab mich nicht einmal von ihm verabschieden können", wisperte sie ganz leise, kaum hörbar, „Er war doch gar nicht beteiligt. Er war doch noch so jung..."
Aus Mangel an verbalen Optionen, ließ Houdini Phillis wieder los und klappte einfach nur das Musikbuch zu.
„Ist alles in Ordnung?", Mrs Houdini kam besorgt ins Wohnzimmer. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Phillis und schien sofort alles zu verstehen, obwohl Phillis noch nicht einmal alles verstand.
Sie fragte auch nicht lange nach, sondern breitete nur die Arme aus und Phillis zögerte nicht, zu ihr zu gehen und sie zu umarmen.
Houdini stand ebenfalls auf, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und wohl unsicher, wie er reagieren sollte. Ihm fiel nicht wirklich ein, wie er Phillis hätte helfen können, also ging er in die Küche.
„Dad", sagte er sachlich und ruhig, „Wir müssen morgen schon zurückfliegen."
Henry blickte überrascht auf, fragte aber nicht nach, schon gewohnt, dass man manchmal besser keine Fragen stellte, denn die Antwort würde nichts an dem Entschluss ändern.
„Ich werde euch gleich für morgen Früh ein Ticket buchen – der erste Flieger, den wir bekommen", versprach er ruhig, „Ist... alles in Ordnung?"
Houdini runzelte die Stirn. Eigentlich war wahrscheinlich nicht alles in Ordnung – er wusste nicht, wer Silas Robins gewesen war, was er Phillis bedeutete oder sonst irgendetwas. Er wusste nur, dass jemand, den Phillis gekannt hatte, gestorben war und sie deswegen traurig war. Also war nicht alles in Ordnung.
Houdini sagte das alles aber nicht, sondern drehte sich einfach nur um und ging wieder. Aber das war wieder Antwort genug.
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