Prolog

Wie wir uns alle voneinander unterscheiden, obwohl wir doch nur Menschen sind."

~ Nila





Es gibt Tage, da liebe ich die Menschen, es gibt Tage, da hasse ich sie.

Heute traf Zweiteres zu.

Ich saß mit meiner Familie im Restaurant und meine dreijährige Schwester warf mir ihre Pommes ins Gesicht.  Meine Laune war am absoluten Tiefpunkt, erst hatte der Kellner mich vollkommen ignoriert und jetzt waren meine Haare voll mit Ketchup, weil meine Schwester es sich nicht hatte nehmen lassen, ihre Pommes zuerst in Ketchup zu tunken, bevor sie mich abwarf. Ja, heute hasste ich die Menschen. Sie gaben mir keinen Grund, es nicht zu tun.

„Youma, deine Pommes sind zum Essen da, nicht um mich als Zielscheibe zu benutzen."

Meine kleine Schwester lachte nur und warf eine weitere Fritte nach mir. Ich stöhnte und lehnte mich weiter in meinem Stuhl zurück.

Jordan, mein älterer Bruder, ließ mal wieder eine unnötige Bemerkung los: „Also ich finde, Fritten mit Ketchup stehen dir ganz gut." Ich wusste nicht, ob er das aufmunternd meinte, denn normalerweise waren seine Sprüche stets unterstes Niveau. Und trotzdem lachte meist jemand. Nur ich nicht.

„Willst du, dass ich dir deine Cola über den Kopf schütte? Die würde nämlich auch ausgezeichnet zu deinem weißen T-Shirt passen." Meine Hände wanderten langsam in Richtung seines Glases, welches mal wieder an der Tischkante stand, bereit jeden Moment runterzufallen. Meine Finger erreichten fast sein Glas als er zu mir meinte: "Ne, lass mal!"

Er hob abwehrend die Hände. Meine Mutter telefonierte gerade und signalisierte uns mit hektischen Gesten, dass wir doch leise sein sollten, weil es ein wichtiger Geschäftsanruf war. Dabei hatte sie irgendwie Ähnlichkeit mit einer aus dem Takt geratenen Winkekatze. Diese kleinen Figuren, die oft in irgendwelchen Wohnzimmern standen und vor sich hin winkten. Ein Leben lang.

Die Finger meiner anderen Schwester Lilli huschten über ihren Handydisplay, ihre Gedanken waren mal wieder irgendwo anders, nur nicht hier. Das melodische „Pling" das alle paar Sekunde ertönte nervte nur noch. Seit sie über ein Handy verfügte beschäftigte sie sich nur noch damit. Die Stromrechnung war wegen ihr bestimmt doppelt so hoch.

Jordan flüsterte Tyron, meinem sechsjährigen Bruder, etwas ins Ohr. Der lachte laut auf und nickte. Wahrscheinlich lachten sie mal wieder über mich. Ich verdrehte entnervt die Augen. Die anderen Leute im Restaurant drehten sich immer wieder nach uns um. Wie als wären wir Zootiere. Ok, wir waren aber auch ein ungewöhnlicher Anblick.

Vier Geschwister zu haben war nicht gerade einfach für mich. Ständig wollte jemand was von mir, doch wenn ich mal nach etwas fragte, wurde immer nur abgelehnt. Sie hatten ja angeblich keine Zeit. Ich sollte gefühlt alles für sie tun, während sie nichts für mich taten. Sah ich so aus, als hätte ich Zeit?

Meine Mutter hatte mittlerweile ihr Gespräch beendet und drehte sich wieder zu uns.

„Kann man nicht einmal in dieser Familie in Ruhe telefonieren? Das war ein wichtiges Gespräch."

Ihre Stimme klang wütend, wenn es um ihre Arbeit ging, war nicht mit ihr zu Spaßen. Nein, dann wurde sie zu nem Monster.

„Handy weg!", forderte sie Libera, genannt Lilli auf. Die murrte zwar etwas, schob ihr Handy dann aber schlussendlich in die Tasche.

„Das war auch wichtig", beschwerte sie sich.

Mein Vater hatte sich noch nicht zu Wort gemeldet, er war den Großteil seiner Zeit mit seinem Essen beschäftigt gewesen. Wie ein Schaufelbagger hob er immer wieder die Gabel zum Mund. Das Chaos ignorierte er einfach.

„Wann kommt mein Essen?" Mein Magen knurrte mittlerweile sehr vernehmlich. Der Kellner hatte mir nicht eine Sekunde seiner Aufmerksamkeit geschenkt, aber kein Wunder, bei der Menge an Bestellungen von meinen anderen Familienmitgliedern.

„Das weiß ich auch nicht, kümmere dich selbst drum!", forderte meine Mutter mich auf. Das war mal wieder typisch, wenn es um mich ging, krümmte sie keinen Finger. Nie.

Ich schob beleidigt meinen Stuhl zurück und stand auf. Der Kies knirschte unter den Stuhlbeinen.

Wir saßen im Außenbereich des Restaurants. Ich lief auf den Teil mit dem Innenbereich und der Theke  zu. Dabei stolperte ich fast über einen Blumentopf mit einem Bonsai drin, der direkt am Eingang stand. Ich fluchte leise und konnte mich gerade noch abfangen, bevor ich mitten auf die Stufen knallte. Wer stellte den denn direkt dahin?

Ich betrat das Restaurant. Drinnen war es düster, es fiel kaum Licht durch die großen Scheiben in den Raum.

Hinterm Tresen stand ein fein gekleideter Herr, welcher gerade etwas in den hinteren Raum schrie:

„Geschmorten Chicorée in Thymian-Senfrahmsoße."

Ich erschrak, solch einen Ton hatte ich nicht erwartet. Die Stimme passte nicht zu seinem Aufzug. Ich hatte nichts anderes zu tun, als ihn perplex anzustarren.

„Entschuldigen sie bitte", wandte er sich an mich. „Was wünschen sie?" Ich erwachte aus meinem leichten Schock und überlegte, was ich überhaupt haben wollte. Nudeln, die gab es so gut wie immer bei uns zu Hause. Ich war nichts anderes gewöhnt.

„Eine Pasta e Ceci und ein stilles Wasser bitte", brachte ich heraus. Der Kellner nickte nur und schrie meinen Wunsch weiter in die Küche. Ich erschrak ein weiteres Mal und stolperte in Richtung Ausgang. 

Ich hatte im Moment keine Lust wieder an unseren Tisch zurückzukehren. Die fliegenden Pommes hatten mir die Laune verdorben. Oder generell das Verhalten meiner Familie.

Ich erschrak und lief wieder rein. Ich hatte die Fritten in meinen Haaren vergessen. Dabei stolperte ich beinahe wieder über diesen doofen Bonsai. Der Kellner schaute mich an und verstand meine Situation. Er deutete still in die Richtung, wo wohl die Toiletten waren. Als ich mich auf den Weg dorthin machte, sah ich im Augenwinkel, dass er sich ein kleines Lächeln wohl doch nicht verkneifen konnte.

Ich war in letzter Zeit immer vergesslicher geworden. Gefühlt immer dummer. Vielleicht sollte ich mir mal diese Tabletten gegen Vergesslichkeit zulegen, die in letzter Zeit immer wieder in meiner YouTube Werbung liefen. Mit meinen 15 ½ Jahren hatte ich Seniorenprobleme. Na toll.

Ich stieg die Wendeltreppe runter. Am Ende des Flures war die Damentoilette. Ich betrat den Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampen gingen an und warfen ein warmes Licht in den kleinen Raum. Er wurde von, meiner Meinung nach, potthässlichen Marmorwaschbecken geziert.

Ich betrachtete mich im Spiegel. Meinen Afrolook hatte ich von meiner Mutter. Die Haare hatte ich in zwei Zöpfen gebändigt. Und mittendrin hingen Youmas Pommes, den Ketchup nicht zu vergessen. Mein Anblick war wirklich amüsant. Obwohl die Sache nicht lustig war. Ich nahm ein Papierhandtuch aus dem Spender und fischte die erste Fritte aus meinen Haaren.

Als ich auch die Restlichen entfernt hatte, schaute ich meine ziemlich zerstörte Frisur an. Den Ketchup hatte ich nicht ganz rausbekommen können. Prima. Dann musste ich heute Abend nochmal meine Haare waschen. Und das nur, weil meine Schwester lieber ihre Pommes warf, als dass sie sie aß.

Manchmal hätte ich gerne eine andere Familie. Eine Familie, wo ich nicht nur ignoriert wurde. Jeder hatte immer mehr Spaß, als ich. Selbst Youma, und die war gerademal drei.

Ich fühlte mich alleine. Vergessen. Einfach übersehen. Ich wurde gar nicht wahrgenommen. Als wäre ich unsichtbar. Mein Leben war eine Mischung aus einem Horrorfilm und einer Komödie. Einer sehr schlechten Komödie. Und einem mega kranken Horrorfilm.

Eine junge Frau betrat die Toiletten und lief strikt auf die Kabinen zu. Ich sah zu, dass ich verschwand. Die Stufen knarzten unter meinen Füßen. Ich machte mich auf den Weg nach draußen. Ein Kellner stellte gerade mein Essen auf dem Tisch ab. Endlich.

Ich schob den Stuhl zurück und setzte mich. Der Teller dampfte vor Hitze. Ich schlang die Nudeln regelrecht runter, während meine Familie mich, unangenehmerweise, beobachtete. Als mein Teller leer war, legte ich mein Besteck, so wie wir das gelernt hatten, feinsäuberlich auf den Teller. Mein Glas leerte ich in wenigen Schlucken und knallte es mit voller Wucht wieder zurück auf den Tisch.

„Also ein bisschen ordentlicher essen, kannst du doch bitte. Und beim nächsten Mal, nicht so schlingen!" Typisch meine Mutter. Wie immer.

Alles was ich tat war falsch oder nicht gut genug. Zumindest nicht für sie. Aber ihr reichte nie irgendetwas. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie größenwahnsinnig war.

Der Abend war für mich gelaufen. Ich wollte einfach nur noch nach Hause, mich irgendwo hinschmeißen und mich von Musik zudröhnen lassen. Hausaufgaben hatte ich auch noch, doch Lust drauf hatte ich nicht. Ich nahm mir vor, die morgen in der Pause zu erledigen. Was ich dann doch nicht tun würde. Wie immer.


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