Kapitel 4

„Ich bin nicht perfekt. Und ich werde es auch nie sein. Das will ich aber auch gar nicht."

~Nila


„Wie echt sind wir eigentlich?"

Mit dieser Frage wand ich mich an Celine, die neben mir am Schultor stand. „Keine Ahnung,", antwortete sie nur und schaute wieder auf ihr Handy.

„Schau dir mal diese ganzen Menschen an. Viele sehen einfach gleich aus und bilden so eine Masse. Zwar hat jeder seine Eigenheiten, die sieht man aber heutzutage nicht. Zum Großteil liegt das leider auch an den Trends von heute. Fast jeder rennt ihnen hinterher, nur um dazuzugehören."

Ich ließ meinen Blick schweifen. Von überall her strömten Menschen. Keiner fiel mir besonders aus. Alle gleich. Wie vom selbem Hersteller gefertigt. Die Art namens Menschen.

Nur ein Mädchen bekam dann doch kurz meine Aufmerksamkeit.

„Schau dir mal die da drüben an. Wie sie nach Aufmerksamkeit bettelt. Sie ist einfach aufmerksamkeitsgeil. Oder wie man in der heutigen Welt sagen würde, sie ist ein Pick-Me-Girl. Ich finde das irgendwie traurig."

Celine schaute mich nur kurz an, dann das Mädchen.

„Du hast Recht. Aber so ist das in der heutigen Gesellschaft halt. Da kannst du auch nichts großartig ändern, mach einfach nicht das Selbe wie das Mädchen da, ok?"

Ich nickte bloß. Eher würde ich von einer Klippe springen, als mich auf solch ein Niveau zu begeben.

„Lass uns reingehen, wir haben gleich Physik." Ich folgte Celine, die sich schon auf den Weg zum Physikraum gemacht hatte. Meine Schritte hallten laut durchs Treppenhaus, als ich die Stufen nach oben ging. Sie waren, bis auf die Schritte von Celine, die einzigen Geräusche die ich vernahm. Sonst war es totenstill. Es kam mir leicht unheimlich vor.

Meine Laune war im Keller. Physik war nicht gerade so mein Lieblingsfach, davon ganz zu schweigen, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Wie ich es mit fast jeden Hausaufgaben tat. Egal, das änderte jetzt auch nichts mehr.

Wie sollte ich denn überhaupt Hausaufgaben schaffen, wenn ich fast keine Zeit hatte?

Die „Aufgaben der Familie", wie meine Eltern sie so schön nannten, waren wichtiger, zumindest für sie. Vom Prinzip her wäre ich dann aber meine eigene Familie, da ich die Einzige war, die diese Aufgaben übernehmen musste.

Mein großer Bruder Jordan hatte Basketballtraining, Spiele und so weiter und so weiter. Lilli war ständig bei irgendwelchen Freunden und Tyron übernahm sowieso nichts. Ganz zu schweigen von Youma. Die wurde nämlich fast ständig von mir gebabysittet.

Und an wem blieb der ganze Mist dann schließlich hängen? Natürlich an mir.

„Nila, du musst noch den Müll rausbringen, die Spülmaschine ausräumen, die Waschmaschine einräumen und Youma zu Bett bringen."

Sowas hörte ich mir tagtäglich an. Und diese Aufgaben fielen nicht gerade gering aus, bei einer siebenköpfigen Familie. Meine Eltern hatten so gut wie auch nie Zeit.

Was tat ich also nach der Schule? Irgendwelchen Haushaltsscheiß erledigen. Wenn ich Glück hatte, was selten passierte, hatte ich abends noch ein wenig Zeit für mich.

Manchmal war ich kurz davor gewesen Youma was ins Essen zu mischen, damit sie schneller einschlief. Die war nämlich so gut wie nachtaktiv und welche Schwester hat bitte Bock, zum 23. Mal an einem Abend, das gleiche Kinderbuch vorzulesen?

Das mit dem ins Essen mischen, hatte ich dann schlussendlich aber doch gelassen, wenn das rausgekommen wäre.

Ach, und zum Thema Noten. Meine Eltern erwarteten von mir nur Bestleistungen. Welche ich natürlich nicht liefern konnte.

Mittlerweile konnte ich die Unterschrift von meiner Mutter, sowie meines Vaters, schon im Schlaf.

Bei der lieben Lilli verzogen sie mal ne schlechte Note, sie nannten das „einen kleinen Ausrutscher". Bei mir bekamen sie, wenn ich ihnen überhaupt mal eine Note zeigte, gleich einen Anfall.

Ich wollte nicht mehr hier leben. Die Menschen und vor allem die Stadt machten mich verrückt. Aber großteils auch meine Familie, wenn man die Menschen aus dem Haushalt, wo ich lebte, überhaupt noch Familie nennen konnte.

Drei Minuten später saß ich dort, wo ich nicht sitzen wollte. Im Physikunterricht. Ich ignorierte einfach das Geschwafel von unserem Physiklehrer und dachte weiter nach. Ich hatte schon jetzt keinen Bock mehr. Vorallem nicht auf Physik und unseren Lehrer.

Das war so ein alter Typ, so einer der sich nur für Mathe, Physik und Schach interessierte. Einer, der kein Interesse daran hatte, wie es zum Beispiel den Schülern ging. Deswegen ignorierte ich ihn, wie gesagt, einfach.

Dem schien das aber gar nicht zu gefallen, dass ich ihm und insbesondere seinem Unterricht nicht meine „volle Aufmerksamkeit" schenkte, wie er mich jetzt durch das Aufrufen meines Namens wissen ließ.

„Nila Shikalepo, haben sie nicht mitbekommen, dass ich ihnen eine Frage gestellt habe? Nun gut, ich möchte diese ausnahmsweise noch ein weiteres Mal für sie wiederholen."

Scheiße. Ich hatte absolut keinen Plan von irgendwelchen astronomischen Weltbildern und solchem Mist. Deswegen wählte ich die einfachste Lösung. So wie ich es, in dem Fall immer tat, wenn ich nicht den Unterricht mitbekommen und absolut keine Ahnung hatte. Einfach dasitzen und Fresse halten. Um es mal so auszudrücken. Bringt immer was. Oder meistens. Heute brachte es nämlich nichts.

„Sagen Sie mal, sind sie schwerhörig? Ich würde sie bitten jetzt einfach meine Frage zu beantworten. Wir warten alle."

Das stimmte nicht so ganz. Niemand wartete bis auf ihn auf eine Antwort, denn absolut keinen aus unserer Klasse interessierte Physik, bis vielleicht auf Ben aus der letzten Reihe.

Das Klopfen mit dem Fuß auf dem Boden, welches von unserem Lehrer kam, sollte mir wohl klarmachen, dass er wartete. Klopf, Klopf, Klopf. Es setzte mich irgendwie unter Druck. Dieses Monotone machte mich ganz verrückt. Löste einen inneren Druck aus.

Am liebsten wäre ich gerade in dem Moment aufgesprungen und hätte geschrien:


„Wissen Sie was? Sie können sich die Physikscheiße sonst wo hinstecken.

Ich habe keinen Bock mehr. Keinen Bock mehr auf diese Gesellschaft.

Wo Sie mich mit einem fucking Fußklopfen ganz verrückt machen.

Wo Menschen ausgegrenzt werden, wegen ganz banalen Dingen, wie einer dummen Hose oder so.

Wo fast alle nur irgendwelchen verdammten Trends hinterherlaufen, nur weil es alle anderen tun.

In einer Gesellschaft, wo es als richtig angesehen wird, gleich zu sein.

Wo tagtäglich Menschen so niedergemacht werden, dass es auf den ersten Blick wirkt, als wäre es nur Spaß, doch das ist es nicht.

Und vor allem in einer Gesellschaft, wo Menschen einfach vergessen werden.

Übersehen werden. Niemandem etwas bedeuten. Ist doch egal was mit denen ist,

solange man es von außen nicht sieht.

Ich habe keinen Bock mehr auf diese dämliche Gesellschaft, wo alle versuchen sollen gleich zu sein, sonst werden sie ausgegrenzt.

Wo Liebe keine Liebe mehr ist.

Wo Leid für Geldgeilheit genutzt wird.

Und vor allem auf eine Gesellschaft, wo Sie zum Fuck so tun, als könnten alle alles,

oder als müssten alle alles können.

Wo Sie von mir erwarten, dass ich perfekt bin.

Aber das bin ich nicht.

Ich bin nicht perfekt.

Niemand ist perfekt.

Aber sie wollen es nicht zugeben.

Und das ist einfach nur noch traurig."


Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Doch ich traute mich noch nicht, sie auszusprechen. Ich schwieg. Wie ich es vorerst weiterhin tuen würde. Aber eines Tages, würde ich diese Dinge aussprechen. Das eben war nur ein kleiner Teil davon gewesen. Ein Teil, den ich mir schon genauso bereitgelegt hatte, genauer gesagt niedergeschrieben.

Aber irgendwann, würde man diese Worte hören können.

So wahr ich Nila Shikalepo hieß.

Und Physik überlebte.


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