Prolog Tobe


Ein heller Blitz gefolgt von einem mächtigen Donner erfüllte das friedliche Tal mit Furcht. Die hohen, schneebedeckten Berge ließen den Schlag des Himmels mehrfach widerhallen, bis der ohrenbetäubende Klang schließlich verstummte. Dann war Stille. Ab und an fielen Schneeflocken auf die Erde. Die sonst so zahlreichen Sterne am Firmament verkrochen sich hinter heranziehenden dicken Gewitterwolken und auch der Mond warf nur schwach sein weiches Licht auf zwei Personen herab. Sie waren den winterlichen Bedingungen entsprechend kaum warm genug gekleidet. Lediglich eine Kutte aus braunem Stoff, die über einer einfachen Tunika aus Wolle lag, bat ihnen Schutz gegen die kalte Nachtluft. Der Schnee knirschte bei jedem ihrer Schritte unter den abgetragenen Sohlen der Lederschuhe. Frei von allen Sorgen der Welt schlief das Kind dennoch seelenruhig in ihren Armen. Sie kamen nur langsam voran, denn immer wieder versanken sie bis zu den Knien im tiefen pulvrigen Schnee und in Kürze würde es wieder beginnen zu schneien - ein Schneesturm, der von dem entfernten Gewitter angekündigt wurde und bald über das Tal herfallen würde.

Im Tal standen dutzende Bäume - gekleidet im winterlichen weiß, deren Bestand zu den Bergen hin immer dichter wurde, bis die Baumgrenze nur noch den grauen Granit der umliegenden Berge freigab. Zwischen ihnen befand sich ein kleines Dorf, welches eine überschaubare Größe hatte. Nicht mehr als zwanzig Häuser standen hier, in einer kleinen Gemeinde zusammen. Die Häuser waren fast kreisförmig um einen steinigen Platz mit einem Brunnen erbaut. Ein Pfad führte aus dem Dorf heraus und schlängelte sich zu einem etwas abseits gelegenem Kloster in die Berge. Gebaut aus festem, massiven Gestein wirkte es so, als würde es schon ewig hier stehen und über das Tal wachen. Während in den Häusern des Dorfes keine Kerze mehr brannte, war ein Fenster in den oberen Etagen des Klosters hell erleuchtet.

Der Mönch war beim bearbeiten seiner Schriften eingeschlafen. So schnarchte er halb auf dem alten schwarzbraunen Eichentisch und halb in seinen Schriften. Seine Feder war ihm aus der Hand gefallen und hatte Spritzer schwarzer Tinte auf dem gepflegten alten Holzboden hinterlassen.

Einen Moment bleiben die Fremden stehen und ließen den Frieden des Tales auf sich einwirken. Ein Windzug ließ Schnee von den Ästen der Eichen rieseln und riss eine Kapuze nach hinten. Ein wundervolles junges Gesicht kam zum Vorschein, keine Falten und auch keine Anzeichen von den Anstrengungen des zurückgelegten Weges waren zuerkennen. Das braune Haar war noch nass vom vergangenen Schneefall, in welchen sie vor nicht all zu langer Zeit gerieten waren und so hing eine Strähne der hellbrauen Haare über ihre azurblauen Augen. Die Frau trug eine vergoldete Kette, um ihren schlanken Hals. In ihren Armen schlief das kleine Kind.

„Ist es nicht schön hier?", fragte sie mit ihrer liebevollen Stimme melancholisch, die ahnen ließ, dass sie sich nach diesem Frieden und der Ruhe sehnte. Ein kleines Lächeln schlich sich über ihre Lippen, als sie dem Kleinen eine Schneeflocke von der Stirn wischte.

„Ja! Ein guter Ort für ihn. Du solltest die Kapuze wieder aufsetzen, der Wind ist kalt!", entgegnete der Mann neben ihr und half ihr den Kopf zu bedecken.

Dann gingen sie weiter, doch je näher sie ihrem Ziel kamen, desto trauriger wurde die Frau. Der Schneefall wurde immer stärker und ein Donner in der Entfernung kündige den Sturm weiter an. Einige Vögel flogen aufgeschreckt weg von dem lauten Rums. Die Frau blieb stehen. Zweifel breitete sich in ihr aus, wollte sie das wirklich tun? Doch welche andere Wahl hatte sie?

„Wir müssen es tun, wir haben keine andere Wahl", drang es ernüchternd unter der braungrauen Kutte ihres Gefährten hervor, „Du weißt er darf es niemals erfahren und uns rennt die Zeit davon. Wir dürfen Tobe keiner Gefahr aussetzen."

„Ich weiß, aber es fällt mir so schwer. Gibt es keine andere Möglichkeit?"

Er schüttelte nur den Kopf. Er hätte nicht damit gerechnet, dass diese einfache Frage so schwer auf ihm wiegte, dass er keine Worte fand, um sie zu beantworten. Sie gingen weiter - vorbei an dem Dorf entlang des beschneiten Pfades zum Kloster. Eine Eiche gewaltigen Ausmaßes stand vor den hölzernen Doppeltüren, die einen Einlass in das Kloster boten. Ein Paar Treppenstufen galt es zu erklimmen. Doch der erneute Schneefall ließ sie fast eins werden mit der Umgebung und auch so schien sich eine neue Schicht gerade auf der vorherigen zubilden.

„Hier ist es!", sagte der Mann. Er konnte kaum die Worte aus seinem Mund hervorbringen. behutsam küsste er das Kind auf die Stirn.

„Werde groß und stark Tobe!", sagte er. Dann räumte er etwas Schnee am Eingang des Tores beiseite.

Ein letztes mal drückten sie das Kind, dann legten sie es behutsam auf die oberste Stufe vor die Klostertür. Ein weiterer Donner schallte durch das Tal, das Wintergewitter näherte sich. Während sie sich von dem Kind verabschiedeten, erschien eine dritte Person. Auch er trug eine Kutte, doch die Kapuze zeigte sein Gesicht. Er war alt, ein halbförmiger, nach unten geöffneter Mond, umgeben von drei Sternen, war in violetter Farbe auf seine Stirn tätowiert. Seine Augen waren glasig wie die eines blinden. Aufgrund seines Alters lagen einige Falten unter seinen Augen, die seine schwachen Wangenknochen fast verdeckten. Dennoch war sein Haar voll und in schwarzer Farbe.

„Ihr hattet einiges zu laufen?", sagte er neckisch. „Ich habe alles vorbereitet, wie abgesprochen."

Er ging auf die beiden zu.

„Danke!", sagte sie und küsste das Kind ein letztes mal behutsam auf die Stirn.

„Bitte lösche unsere Gedanken und deine. Falls etwas schiefgeht, darf niemand von Tobe wissen!", flüsterte sie, hörbar mitgenommen von dem Abschied und sie beobachte wie die Hand der dritten Person auf der Stirn ihres Begleiters ruhte.

Sie kniete noch einem Moment neben dem Kind und legte ein kleines unscheinbar wirkendes Täschchen dazu. Dann erhob sie sich, stieg die Treppen hinab und drückte die Hand der dritten Person an ihre Stirn. Eine Kraft durchströmte sie und im nächsten Moment wusste sie nicht mehr was sie hier verloren hatte, so weit weg von dem Ort an dem sie eigentlich sein sollte. Das schlimmste war es hatte bereits begonnen. Es donnerte lauter und länger, als all die Male zuvor.

Jonach wachte auf. Sein Kopf schnellte in die Höhe. Erschrocken von dem lauten Knall, riss er das Buch, auf dem er eben noch schlief vom Tisch. Scheppernd fiel dieses auf den Boden und überschlug sich mehrfach. Er hatte geträumt, obwohl dies seit Jahren nicht vorkam. Das was er im Traum erlebte überraschte ihn. Alles, was er träumte, sah er aus den Augen eines Mannes, er nahm Gerüche wahr, hörte die Schritte in den hallenden Fluren und spürte die Kälte der Nachtluft. Er konnte sogar zwei Personen mit ihren verschneiten, dunklen Kutten reden hören. Sie hatten ein Kind vor die Klostertür gelegt. Er fragte sich, ob das, was er geträumt hatte, wahr war. Für einen Moment schaute er aus den verglasten Fenstern in die tiefschwarze Nacht. Schneeflocken schlugen unbarmherzig vom Wind gepeitscht an die Scheiben und immer wenn sie sich auf der Fensterbank ablegten, wurden sie sogleich weggefegt. Er stand auf. Sein Stuhl scharte über den alten Boden, der schon viele weiße Kratzer hatte. Wegen der ungemütlichen Position in der er, beim bearbeiten seiner Schriften, eingeschlafen war, schmerzte sein Rücken an einer Stelle, die er mit seinen Händen nicht erreichen konnte. Die Kerze brannte aus und erlöschte alles Licht in der kleinen Bibliothek. So stand er im Dunklen.

„Na danke auch!", sagte er in voller Selbstironie. Langsam tastete er sich durch den dunklen Gang der Bibliothek. Sie war nicht sonderlich groß, hatte auch nur drei kleine Tische zum Lernen, auf denen Feder und Tusche standen. Die Regale waren sehr hoch, so wie der Raum ansich. Es gab einen langen Gang in der Mitte, links und rechts erstreckten sich jeweils fünf große Bücherregale. Für die obersten Etagen brauchte man ganz gewiss eine Leiter und die obersten Bücher bedeckte eine dicke Staubschicht.

Um nicht noch mehr Schriften zu verwühlen, entschied er sich eine Fackel anzuzünden. Vorsichtig schlich Jonach dem Ausgang entgegen und nahm sich, dort angekommen, die Fackel aus der Wandhalterung.

Er konzentrierte sich auf seine Finger, hielt seine Arme und die Fackel ausgestreckt von seinem Körper entfernt. Dann lies er die Finger seiner linken Hand schnippen. Dabei entsprangen Funken aus seinen Fingerspitzen, welche die Fackel entzündeten. Der Raum wurde in ein warmes, sicheres Licht eingedeckt, während draußen der schlimmste Sturm wütete den Jonach jemals erlebte. Blitz und Donner wechselten sich in regelmäßigen Abständen ab. Jeder Schlag war lauter, als der vorherige.

Jonach stieg die Wendeltreppe zur Bibliothek hinab, entlang des langen Flures des Klosters, der zur Eingangshalle führte. Wo er das mächtige Tor vorsichtig öffnete, dabei gab dieses laute, knarrende Geräusche von sich. Er konnte kaum genug sehen, selbst die Eiche vor dem Kloster war nur wage auszumachen. Der Wind pfiff in voller Stärke und wehte kalte Luft in den Korridor. Dabei wirbelte er Jonachs verbliebenen drei Haare auf dem Kopf ordentlich durcheinander. Zitternd wollte er die Tür daraufhin wieder schließen, doch ein Geräusch gewann seine Aufmerksamkeit. Was er vorfand machte ihn sprachlos. Sein Traum bewahrheitete sich und direkt vor der Tür, in eine einfache braune Decke gehüllt, schaute ihn ein kleines Kind, mit strahlend blauen Augen an. Es war wach, nicht wirklich verwunderlich, bei dem Gewitter, aber was sollte er tun. Erst gestern fanden sie ein Kind vor dem Tor und jetzt wieder. Jonach befreite das Kind vom Schnee und hob es behutsam ins Warme.

„Also erfrieren tust du mir schon mal nicht Kleiner.", sagte Jonach. Das Kind lächelte ihm zu. Jonach schaute nochmal in die Nacht, ob er nicht die Person fand, die das Kind vor die Türen legte, doch sie war längst nicht mehr ausfindig zumachen. Interessanterweise fand er nur die Fußspuren zum Kloster hin, keine führten weg und morgen schon würde der Schnee sie eins werden lassen mit einer großen weißen Decke, die sich über alles legte. Jetzt alleine nach den nicht vorhanden Spuren zu suchen schien ihm wenig sinnvoll. Er bevorzugte es doch lieber seine Gemächer aufzusuchen und sich in den warmen, sicheren Schlafsaal der Mönche zu legen. Auch dem Kind in seinem Arm schien dieser Gedanke zu gefallen, denn es war bereits eingeschlafen.

Als er versuchte das Kind aus den dicken Wolldecken zu befreien, fiel eine Börse zu Boden. Das unscheinbar wirkende einfache Lederbeutelchen konnte problemlos mit einer Schnur geöffnet und wieder verschlossen werden. Er öffnete ihn und war von dessen Inhalt mehr als überrascht. Diamanten, Juwelen und Gold – soviel, dass es für die kommenden Jahre genügen sollte das Kloster zu bezahlen. Sicherlich würde es nicht Schaden, wenn er ein oder zwei Taler herausnehmen würde, um der Taverne im Dorf einen Besuch abzustatten. Schließlich deckte die Menge des Geldes in dieser Tasche die Unkosten, die das Kind bereiten würde, bei weitem ab. Danach würde er die Tasche auch ganz sicher sofort zum Leiter der Einrichtung bringen.

Was er nicht bemerkte war jedoch, dass dieser bereits hinter ihm stand und ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter legte. Jonach erschrak bei der unvorhergesehenen Berührung. Wenn der Pater etwas gut konnte, dann war es sich in den unerwartetsten Momenten heranzuschleichen. Trotz seines Alters bewegte er sich geräuschlos über die laut quietschenden Holzdielen des Klosters. Er war immer barfuß unterwegs, dennoch hielt er sich in seinem hohen Alter sehr fit. Meist trug er ein weißes, einfaches Gewand, dass bis auf den Boden reichte. Ein Gürtel aus gedeichseltem Stoff schnürte sein Gewand an seine schmale Hüfte. Bis auf ein paar Haare, die an den Seiten seines Kopfes wirr wuchsen, hatte er nicht mehr viele.

„Pater Oster, was machst du hier?", rief Jonach.

„Mich lies die Nacht nicht schlafen, der Sturm wütet draußen schlimmer als ich es jemals zuvor erlebt habe und Träume wecken auch die letzte Ruhestunde. Dennoch habe ich nicht erwartet bei meinem nächtlichen Rundgang einen anderen Mönch aufzufinden.", entgegnete der Pater und schaute auf das Kind, welches weiterhin seelenruhig schlief. Dabei rückte er seine antike Drahtbrille auf seiner Nase zurecht. Die Gläser wiesen bereits unzählige Kratzer auf. Jonach fragte sich immer wieder wie der Pater es überhaupt schaffte durch die zerkratzen Linsen zu blicken.

„Jemand hat widermal ein Kind vor die Türen gelegt. Das zweite schon diesen Monat.", flüsterte Jonach.

„Ich nehme an, du bist nur aus diesem Grund unterwegs und nicht, weil du wieder zwischen deinen Büchern eingeschlafen bist?"

Der Frage des Paters lag ein makelnder Unterton bei. Häufig schon hatte Jonach die morgendliche Predigt verschlafen, weil er bis tief in die Nacht die Bücher las.

„Nein, so was würde mir doch niemals passieren.", sagte Jonach und beobachte, wie sich das Gesicht des Paters zu einem Lächeln formte.

„Wir werden das Kind aufnehmen und in die Lehren der Gleichheit und Veränderung einweisen.", sagte der Pater.

„Ein Kind in diesem Unwetter abzugeben, ist eine Untat, hätte ich morgen erst nachgeschaut wäre der Kleine erfroren.", beschwerte sich Jonach.

„Nein, wer auch immer dieses Kind hier abgegeben hat, stellte sicher dass nach dem Kind geschaut wird. Eine Stimme erschien mir im Traum und bat mich, dass wir uns um Tobe kümmern.", sprach der Pater. „Wenn du ihn nicht gefunden hättest. Dann hätte ich ihn spätestens jetzt gefunden."

„Da du ihn als erster gefunden hast Jonach, wirst du der Ansprechpartner für das Kind im Kloster sein. Die Verantwortung liegt in deinen Händen. Du wirst ihn trösten, wenn er weint, seine Fragen beantworten, wenn er fragt, ihn pflegen, wenn er Krank ist und ihn loben, wenn er seine Pflichten gut erfüllt. Außerdem wirst du ihn die Schriften der Gleichheit und Veränderung Lehren. Bringe ihm alles bei, was du weißt und mache ihn mit den Gewohnheiten des Klosters vertraut."

Jonach seufzte, doch gegen das Wort des Paters war kein Widerspruch einzulegen. Er sah sich in allen Dingen, aber als Kinderhüter am aller wenigsten. Immerhin hatte er noch das Geld bevor er es morgen beim Pater abgeben würde, könnte er noch einmal die Taverne im Dorfbesuchen. Ein Gedanke der ihm frohlockte auf seinem Weg in die Gemächer.

„Ach und Jonach, bitte lege den Geldbeutel vollständig morgen früh in meinen Raum.", rief der Pater ihm hinterher.



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