Kapitel 1
Fliegen. Das war schon seit Anbeginn der Zeit des Menschen. Den Himmel erobern, das Gefühl schwerelos zu sein, die unbeschwerte und absolute Freiheit. Doch zum Fliegen brauchte man nicht immer Flügel. Merlin hatte seinen Weg gefunden zu „fliegen".
Mit einer schwungvollen Drehung wirbelte er über den Boden und führte einen Jete, einen Sprung von einem auf den anderen Fuß, aus. Im Anschluss ging er in eine der schwierigsten Techniken über, die er beherrschte, dem Fouette. Er "peitschte" beim Drehen sein ausgestrecktes Bein vom Körper weg und zog es dann wieder im Passé an den Körper zurück.
Seine kurzen aschblonden Haare flogen herum und seine graublauen Augen strahlten. Das war Freiheit für ihn, das war sein Fliegen. Die Muskeln spielten unter seiner Haut und eine Schweißschicht bedeckte seinen Körper, als er in die Endposition überging. Sein Herz schlug wild in der Brust und die Musik verstummte. Es erklang ein kurzes Klatschen und er schaute zu seiner Tanzlehrerin, die ihn mit ihrem strengen Blick musterte.
Madame Annabelle war eine der besten Ballerinas im Bundesstaat, hatte in großen Vorführungen getanzt, und diese beurteilte ihn nun mit all den Jahren der Erfahrung. „Deine Technik ist hervorragend und auch deine Begeisterung für das Tanzen, doch es fehlt dir an...", die überlegte, „Unbeschwertheit. Du bist nicht locker, es wirkt alles so starr, als wolltest du zu viel."
Erneut diese Worte. Wenn er flog, war er in seiner eigenen Welt. Er wollte diese Begeisterung weitertragen, er wollte das Funkeln in den Augen der Zuschauer sehen, so wie er als Kind. Er erinnerte sich an die erste Vorstellung, die er gesehen hatte. Dieser kleine Junge hatte an diesem Tag beschlossen, das will ich auch.
Merlin nickte nur. Er beendete sein Training mit Dehnübungen und zog sich dann an. Seufzend machte er sein Handy an und sah, dass Schelly, seine beste Freundin, mit der er schon im Sandkasten gespielt hatte, geschrieben hatte. Er antwortete ihr kurz und lief die Treppe des Studios hinunter, wo ein knallrotes Cabrio auf ihn wartete. Darin eine Brünette in einem quietschpinken Kleid und ja, quietschpink. Sie hatte ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und hatte zwei lila Clips links und rechts an der Stirn.
„Hallo Schells. Du siehst bezaubernd aus", sagte Merlin lachend. Sie warf ihm einen Luftkuss zu. Er fing ihn auf und führte seine Hand zu seinem Herzen. Wenn ich sie nicht hätte. Sie munterte ihn immer auf, wenn er niedergeschlagen war, und hörte ihm zu, wenn er Sorgen hatte. Sie war auch die Erste gewesen, vor der er sich geoutet hatte. Tatsächlich hatte sie nur gelacht und gesagt: „Das hat aber lange gedauert. Ich dachte, ich muss dir bald einen Schubs geben und Love Simon mit dir anschauen." Ja, er liebte sie abgöttisch.
Gemeinsam fuhren sie zu Merlin nach Hause, wo er sich duschte. Sie wartete in seinem Zimmer, hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht. Mit einem Handtuch um die Hüften kam er herein und erhielt einen Pfiff. „Hölle, diesen Waschbrettbauch will ich ablecken", sagte sie und tat, als schlotze sie an einem Eis. Erneut musste Merlin lachen.
„Den einzigen Bauch, den du ableckst, ist Liams. Und den würde ich auch gerne ablecken", erwiderte er und erntete einen gespielt entsetzten Ausdruck. Liam war der Freund von Schelly und ja, er war wirklich gutaussehend.
Zügig zog er sich eine Hose und ein schwarzes Oberteil an, das eng anlag und seinen definierten Körper betonte. Durch das Tanzen hatte er lange definierte Muskeln und eine elegante Haltung. Dazu kam sein verschmitztes, jungenhaftes Grinsen, was ihm viele Herzen zufliegen ließ, leider nicht immer von der richtigen Seite.
Er setzte sich neben seine beste Freundin und sagte: „Also Schells, wo geht es hin?" Er hatte keine Ahnung, wohin ihn Schelly entführen würde, denn sie hatte eine Überraschung für ihn geplant. Hoffentlich bin ich nicht overdressed oder andersherum.
Als Antwort erhielt er ein schelmisches Grinsen und wusste, er würde nichts erfahren, bis sie direkt davor standen. Merlin seufzte und folgte dem braunhaarigen Teufel nach unten in ihr Cabrio.
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„Ist das dein Ernst?", fragte er sie, konnte es wirklich nicht glauben, wovor sie standen. Es war ein großes rotes Zelt mit Streifen und unzähligen Fahnen, die an langen Seilen hingen. Er sah es und er roch es. Sie hat mich wirklich in einen Zirkus geschleppt, sein Blick wanderte nach links, in einem quietschpinken Kleid... Ja, das war seine beste Freundin.
Ihre Hand schloss sich um seinen Arm und sie sagte lachend: „Ach komm schon Merry. Du musst entspannen und hast dir einen freien Tag verdient." Er nickte nur, denn gegen Pinkzilla würde er niemals ankommen. Gemeinsam liefen sie zum Eingang und Shelly bezahlte die Tickets. Sie hatten noch etwas Zeit und liefen herum, schauten sich die Gegend an.
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Eine kleine Hand zupfte an Kirans Hose und er schaute nach unten. Seine Nichte schaute ihn mit ihren großen braunen Augen an, ihre schwarzen Locken waren in einem süßen Zopf zusammengebunden, der wackelte. „Hühott", kam aus dem kleinen Mund. Kiran hob die Kleine hoch und setzte sie auf seine Schultern, um mit ihr zur Tierschau zu gehen, damit die ein Pferd streicheln konnte.
Auch wenn er eher der kühle, zurückhaltende Mensch war und seine Gefühle nicht gut zeigen konnte, so liebte er es, Zeit mit Marla zu verbringen, sie zum Lachen zu bringen. Die glucksenden Geräusche erfüllten ihn mit Freude, denn die Kleine streichelte begeistert das Pferd vor ihnen. Als dieses sie anpustete, kreischte sie und zappelte. Sanft trat er zurück. Rechts neben ihm, hörte er ein Gespräch.
„Ach komm schon Merry. Du wirst es mögen. Sie sind keine Profis wie du, doch es wird sicher lustig." Eine männliche Stimme antwortete: „Schells, das wäre, als würdest du einen Cheeseburger mit einem Apfel vergleichen. Es ist zwar beides Essen, aber nichts kommt an einen Cheeseburger heran."
Cheeseburger? Ein Kreischen holte ihn aus Gedanken. Marla hatte ihre Puppe verloren und machte traurige Geräusche. Kiran wollte sich gerade herunterbeugen, um sie aufzuheben, da trat ein aschblonder Hinterkopf in sein Blickfeld. Als dieser sich hob, trafen graublaue Augen auf seine und er sah das schönste Lächeln, das er je gesehen hatte. Der junge Mann war gute fünfzehn Zentimeter kleiner und war etwas schlanker gebaut als er, doch er sah Muskeln. Heilige Scheiße.
Eine Hand mit langen schönen Fingern bewegte sich in Richtung seiner Wange. „Hier ist deine Puppe", erklang dessen Stimme und Kirans Herz machte einen Hüpfer. Der Blonde hatte nicht ihn gemeint, er war nicht ihm nahegekommen, er hatte Marla die Puppe gegeben. Doch er war nahe genug, dass er dessen Geruch wahrnehmen konnte.
Merlin gab dem Mädchen die Puppe und trat etwas zurück. Wow. Er ist groß. Mit seinen 1,79 m war Merlin nicht klein, doch dieser Mann vor ihm war größer als er und er war... heiß. Breite Schultern und ein männliches Gesicht mit einem leichten Bartschatten. Dunkelbraune Augen musterten ihn und die schwarzen Haare hingen ihm locker ins Gesicht. Doch dieses Gesicht schaute ihn nur kühl an. Habe ich ihn verärgert?
Eine Hand schloss sich um sein Handgelenk und er wurde aus dem Blickduell, das er sich mit dem Fremden lieferte, gerissen. „Merry, komm. Es fängt bald an", erklang Shellys Stimmte und er nickte nur. Mit einer Hand zog er zwei Lollis, die er gekauft hatte, heraus. Einen gab er dem kleinen Mädchen, das ihn begeistert annahm, der andere dem Mann, der sie auf den Schultern trug. „Wäre doch unfair, wenn immer nur die süßen Kleinen was bekommen, oder?", sagte er, als der Mann es verwirrt annahm.
Kiran wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Schaute den Lolli an, dann den Blondschopf. Bevor er ihm danken konnte, wurde er von der Brünetten mit der Geschmacksverirrung weggezogen. Sie sind wohl ein Paar. Enttäuschung machte sich breit und er wusste nicht warum. Ohne nachzudenken, packte er den Lolli aus und schob ihn in den Mund – seine Lieblingssorte.
Ein Klopfen an der Schulter ließ Kiran sich umschauen. Vor ihn stand Luan, sein jüngerer Zwilling. Er sah aus wie er selbst, nur hatte er einen Seitenscheitel, einen Leberfleck auf der linken Backe und bernsteinfarbene Augen. Und es gab noch etwas, was ihn von Luan unterschied, Luan konnte seine Gefühle offen zeigen, war immer freundlich und witzig. „Woher habt ihr die Lollis?", fragte dieser neidisch.
Der ältere Zwilling sagte nichts, sondern lief mit Marla in Richtung ihrer Plätze. Kaum hatten sie sich gesetzt, hörte er eine ihm bekannte Stimme. Er schaute nach rechts vorne und sein Herz begann zu schlagen. Er sitzt dort.
Luan schaute zu Kiran und war verwirrt. Wieso ignoriert er mich? Sein Bruder starrte nach vorne zu einem Pärchen. Was gibt es so Interessantes? Die Vorstellung begann, also schaute er nach vorne.
Kiran hörte die beiden reden. Es war merkwürdig, doch nach der Hälfte der Vorstellung war er sich sicher, die beiden waren kein Paar. Die Brünette hatte einen Freund und der Blonde namens Merry, wenn er so hieß, war nur ein Freund. Hör auf, dir Hoffnung zu machen.
„Sag mal, hast du dem heißen Typen vorher echt einen Lolli gegeben?", fragte die junge Frau und erntete ein Lachen.
„Wer weiß, vielleicht locke ich ihn damit in mein Lebkuchenhaus, um ihn dort zu vernaschen", erwiderte der blonde Engel. Vernaschen. Hölle. Hatte er richtig gehört? Hatte er es sich eingebildet?
Leider redeten sie meistens nur über belanglose Dinge. Als die Tänzer auftraten, hörte er, wie er diese bewertete und kritisierte. Er muss ein professioneller Tänzer sein.
„Merry, wann ist nun eigentlich deine Aufführung?"
„Schells, das habe ich dir nun schon hunderte Mal gesagt. Nächsten Freitag", antwortete dieser und boxte sie, als sie eine Ballerinafigur mit den Hände nachahmte. Kiran lachte leise.
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