83. Chad: Aufmunterung
Ich fragte mich, wieso ich überhaupt das machte, was Boris gesagt hatte.
Wohl hauptsächlich, weil es ihn ganz gut von seinem Liebeskummer abzulenken schien, uns herumzukommandieren.
Er verdrängte seine Gefühle um Charlies Verschwinden ganz gut.
Ich sah keinen Grund, uns Sorgen um Charlie zu machen. Er konnte schon auf sich aufpassen.
Im Gegenteil, ich war zwar nicht wirklich sauer, aber ich konnte nicht nachvollziehen, wie Charlie es wagen konnte, einfach zu verschwinden, ohne irgendwem Bescheid zu geben. Das war schon ziemlich gemein von ihm gegenüber Boris. Es musste ihm doch klar sein, dass sein Freund sich den Kopf darüber zerbrechen würde.
Charlie schien nicht immer so reif zu sein, wie er sich gab. Aber dieses Verhalten kam mir irgendwie kindisch vor. Wenn er hatte gehen wollen, warum hatte er nicht Klartext geredet und die Eier gehabt, Boris ins Gesicht zu sagen, dass und vor allem, warum er ging?
Wenn ich Charlie je wiedersehen würde, dann hatte ich jetzt wenigstens Munition, wenn er mich anging, weil ich zu schwach oder menschlich war. Irgendwie vermisste ich meine Zickereien mit ihm. Diese Ungewissheit, ob er mir jeden Moment die Kehle aufschlitzen würde, nur weil ich nicht seiner Meinung war. Aber auch die Gewissheit, dass wir, solange er da war sicher waren, weil er alles tun würde, um uns zu beschützen.
Keinem von uns war bewusst, dass er das längst getan hatte....
All das änderte aber nichts daran, dass ich hier gerade an der Kühltheke stand und nach einem guten Vanilleeis suchte, das man gut mit Himbeersoße servieren konnte.
Anni liebte diesen Nachtisch. Ich hatte ihn ihr so oft gemacht, dass ich mir sicher war, ihn schlafend hinzubekommen. Die Himbeeren hatte ich schon und für alle, die es nicht kalt, sondern einfach erfrischend wollten, hatte ich andere Früchte besorgt.
Gerade legte ich das Vanilleeis in die Stofftasche, die ich mit mitgenommen hatte, und wollte die Glasscheibe des Regals schließen, als das jemand anderes tat und die Hand der Person vor meinem Blickfeld auftauchte.
Na das würde aber schöne Fettflecken auf dem Glas geben...
Ich folgte dem Arm mit meinem Blick, über die Schulter und blickte einem grinsenden Luzifer entgegen. „So ein Zufall, dich hier zu sehen"
Ich seufzte. „Ich gebe zu, dass ich gestern ziemlich durch den Wind war. Das könnte erklären, warum ich dich als lustig bezeichnet habe"
Ohne ihn nach diesem Satz weiter zu beachten, ging ich weiter meines Weges und schlenderte noch ein bisschen durch die Abteilungen. Vielleicht fand ich ja noch was, das uns als Dessert dienen konnte. Ich war mir nämlich sicher, egal, was ich mitbrachte, Boris würde einen Weg finden zu motzen. Dem wollte ich vorbeugen.
„Passt schon, ich finde mich selbst auch nicht lustig", Luzifer joggte zu mir und lief dann neben mir her, als würden wir einen Spaziergang machen.
Ich verdrehte die Augen. Was machte er überhaupt hier? „Was soll das werden, Luzifer? Hast du nichts Besseres zu tun, als mir beim Einkaufen hinter zu laufen?"
„Auf keinen Fall", sagte er schnell. „Ich freue mich sehr über die Aussicht" Ein Blick zu ihm verriet mir, dass er fett grinste und dann einen vielsagenden Blick runter warf.
Ich schüttelte den Kopf, aber musste leicht grinsen. „Dir ist bewusst, dass du mit deinen Anmachen bei mir nicht weiterkommst, oder? Du weißt doch von Anni und so..."
„Klar", meinte er sorglos. „Deshalb bin ich das Beste, was dir die Erde an Ablenkung zu bieten hat. Glaub mir, du und ich, Chester, wir werden teuflisch guten Sex haben"
Während er das sagte, lege er den Arm um mich, aber ich schob ihn sofort weg und drückte ihm dann meine Tragetasche in die Hand.
„Wenn du mich schon zulabern willst, dann sei doch sinnvoll dabei und trag das für mich", schlug ich vor, ohne auf sein zugegebenermaßen gutes Wortspiel einzugehen.
„Natürlich, Meister", Luzifer deutete eine Verbeugung an und grinste dann stolz, als er bemerkte, wie sehr er mich amüsierte.
„Kaum zu glauben, dass deine Albereien mich auch noch aufmuntern", murmelte ich, schüttelte dabei den Kopf und streckte mich nach den bunten Streuseln, die ich danach in die Tasche steckte.
„Das liegt ausschließlich an unserer emotionalen Verbindung", beteuerte Luzifer ernst.
Ich verdrehte erneut die Augen. „Ist es nicht ein bisschen unter deiner Würde, einem Menschen Avancen zu machen, der so absolut kein Interesse an dir hat?"
„Durchaus", stimmte er mir zu. „Aber irgendwas sagt mir, du bist es wert, also wieso nicht? Außerdem finde ich, ich sollte noch mal so richtig leben, bevor mein Fluch mich ins Nichts verbannt..."
„Was genau ist eigentlich dein Fluch?" Neugierig sah ich ihn an.
Er zuckte mit den Schultern, eine aussagslose Geste, die er viel zu oft machte. „Ach das ganze Drama willst du doch gar nicht wissen. Ich verstehe den höheren Sinn, den mein Vater sich wohl dabei gedacht, hat auch gar nicht. Er weiß nur, dass ich die Bedingungen niemals erfüllen kann und will sich durch die 'Chance'..." Er setzte in Anführungszeichen. „...Nur als den Gerechten aufspielen, weil er mir ja noch die Möglichkeit gibt, was an meinem Schicksal zu ändern." Er verdrehte die Augen und seufzte dann. „Wenigstens konnte ich meinen Bruder überzeugen, die Bedingung mit dem Krieg hinzuzufügen. Michael hält sein Wort immer, das heißt, ich kann mich darauf verlassen, dass er bei Vater für mich einstehen wird, wenn ich ihm die Notwendigkeit nehme, die Neuschöpfung einzuleiten"
Ich konnte nicht glauben, dass ich hier gerade mit dem Teufel über die Apokalypse redete und es mir auch noch total normal vorkam. Oder, dass der Teufel so bodenständig und normal war. So nett. Ich meine, er trug mir die Tasche, weil ich einfach zu faul war. Okay, er erhoffte sich wahrscheinlich davon eine Belohnung, aber trotzdem...
„Was ist denn die Bedingung, von der du denkst, sie nicht erfüllen zu können?"
Er schnaubte, als ich ihn das fragte. „Offensichtlich ist meine Familie davon bezeugt, dass ich keine wahre Liebe empfinden kann und es auch niemanden gibt, der das für mich fühlen kann. Ich muss jemanden finden, mit dem dieses Band der reinen und wahren Liebe so stark ist, das uns beiden kein Opfer dafür zu groß wäre... Schwierig mit meinem Ruf"
„Und was, wenn du es doch schaffen solltest, den Fluch zu brechen?"
Warum ich so interessiert war? Keine Ahnung. Ich wollte es einfach wissen.
„Wenn ich den Krieg verhindere, dann darf ich zumindest wieder auf die Erde und muss nicht ins Nichts. Wenn ich beide Bedingungen erfülle, also den Kitsch und die Verhinderung des Krieges, darf ich wieder in den Himmel. Zwar werde ich nie wieder als Engel anerkannt werden, aber darum geht es mir auch gar nicht. Ich will in den Himmel zurück, weil dort mein Platz ist. Egal, was die Anderen sagen oder ob sie mich dort haben wollen"
Ich legte den Kopf leicht schief, als ich ihn ansah, wie er nur noch mit verletzlicher Miene geradeaus blickte, so als sah er sein Ziel bereits vor sich.
„Hast du Heimweh?" Eigentlich wusste ich die Antwort auf diese Frage bereits.
Er schluckte, wandte den Blick auf den Boden und zuckte dann mit den Schultern.
Das brachte mich zum Schmunzeln.
Ich nahm ihm die Tasche ab und griff nach seinem Handgelenk. „Na komm, du darfst dir was aussuchen"
Ich zog ihn in die Kinderabteilung mit den ganzen Spielsachen, ließ ihn dabei nicht los. Ich bemerkte gar nicht, dass ich sein Handgelenk die ganze Zeit umfasst hielt und er machte mich auch nicht darauf aufmerksam.
„Ich verstehe nicht, wieso du mich hier hergebracht hast. Wenn du mit mir spielen willst, lass uns lieber Kondome kaufen", brummte Luzifer.
Ich lachte leicht. „Komm schon, ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemals ein eigenes Spielzeug hattest. Ich habe Dale früher, als er traurig war, immer entweder Süßigkeiten oder Spielzeug geschenkt, damit er wieder aufgemuntert war..."
Mein Lächeln verging mir, als ich bemerkte, über wen ich hier redete. Ich wusste, sein Körper lief hier irgendwo mit Jays Seele in ihm herum, neben Austin.
Ich war einfach nicht mehr gut auf die beiden zu sprechen.
Okay, ich gab ihnen die Schuld. Aber wem denn sonst? Den Engeln? Das würde ich ja gerne, aber die waren nun mal nicht da. Jay und Austin waren immerhin die, die von alle dem profitierten.
„Vielleicht sollte ich lieber dir Spielzeug kaufen", stellte Luzifer fest, hielt an und nahm dabei meine Hand, die um sein Handgelenk gelegt war.
Ich hielt ebenfalls an und sah zu ihm.
Wir, zwei erwachsene Männer standen mitten in der Spielwarenabteilung und sahen uns an, als könnten wir uns durch unsere Blicke so viel mitteilen, das durch Worte gar nicht möglich war.
„Du musst darüber hinweg kommen, Chester. Du verlierst sonst all dein Glück" Eindringlich sah Luzifer mich bei diesen Worten an.
Ich schnaubte „Was für ein Glück? Sieh mich doch an. Das Leben kotzt mir in einer Tour vor die Füße und ich rutschte immer wieder darauf aus. Ich hab langsam echt keine Lust mehr..."
„Es geht nicht um dieses Glück", unterbrach er mich, ging einen kleinen Schritt auf mich zu, sodass er direkt vor mir stand.
Er war etwas größer als ich, deshalb hob ich den Blick, um ihn anzusehen und herauszufinden, was das hier werden sollte.
Er legte seine noch freie Hand auf meine Brust, genau da, wo mein Herz pochte, so schnell wie lange nicht mehr.
„Es geht um das Glück in deinem Inneren. Um die Möglichkeit, glücklich zu sein. Du hast so ein großes Herz, Chester. Du bist so rein. Dir kommt es gerade so vor, als würdest du von deinem Leid überflutet werden. Aber dein Herz kämpft noch für dich und eine gute Zukunft. Das musst du auch tun. Und dann, verspreche ich, wird es dir besser gehen"
Still sah ich zu ihm hoch, während seine Hand auf meiner Brust liegen blieb und die Andere nach wie vor meine Hand hielt.
Er sah mir eindringlich in die Augen, ich bemerkte, wie sein Kopf meinem immer näher kam. Sein Atem stieß leicht an meine Lippen. Unsere Nasenspitzen waren kurz davor, sich zu berühren.
Ich stand einfach nur stocksteif da, konnte mich nicht rühren und wartete gespannt darauf, was er als nächstes tun würde.
Gerade, als ich davon überzeugt war, dass er jeden Moment tun würde, was ich erwartete, mich jedoch auch davor fürchtete, löste er seinen Blick aus meinem, weil er den Blick nach unten wandte und leise seufzte, irgendwie enttäuscht.
Er strich einmal leicht über meine Brust, aber ließ mich dann los und machte einen Schritt zurück.
Ich schluckte hart, erinnerte mich daran, wieder zu atmen und zu blinzeln und sah mein Gegenüber aus großen Augen an.
„Was... Was sollte das?"
Wie hatte ich nur in eine Situation geraten können, in der ich mich fragte, warum der Teufel mich nicht einfach zu einem Kuss gezwungen hatte?
Er tat es wieder - Er zuckte mit den Schultern. „Es macht keinen Spaß, wenn du mich nicht genauso begehrst wie ich dich. Bis es so weit ist, trage ich einfach weiter deine Tasche"
Er nahm mir die Tasche wieder ab und es passierte tatsächlich, dass er mich leicht, aber irgendwie traurig anlächelte.
Ich riss meinen Blick von ihm los, fuhr mit der Hand übers Gesicht und konnte nicht fassen, dass mein Herz fast schon schmerzhaft schnell in meiner Brust schlug.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wegen ihm und seiner Nähe war. Vielleicht hatte ich einfach Angst davor, mit ihm alleine zu sein. Das musste es sein. Es musste einfach.
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