79. Silas: Zukunftspläne

Überraschenderweise war ich ziemlich früh eingeschlafen, als ich mich ins Bett gelegt hatte.

Dieser Tag war einfach viel für mich gewesen und wenn ich schlief, dann spürte ich den Schmerz auch nicht mehr ganz so sehr.

Jetzt, wo ich wieder wach war, registrierte ich, dass Boris sich wohl in der Nacht mal wieder zu mir geschlichen hatte, da er mich mit einem Bein und einem Arm umklammert hielt und an meiner Schulter leicht vor sich hin schnarchte.
Okay, es war nicht wirklich ein Schnarchen, es war eher ein zugegebenermaßen süßes Schlummergeräusch.

Ich musste leicht lächeln, als ich so auf meinen Cousin hinunter sah und genoss es für einen Moment, dass es gerade nur uns gab.

Früher war ich manchmal auch so aufgewacht, ca. vor 10 Jahren, als das mit seinen Alpträumen/ Visionen angefangen hatte. Damals war es unser größtes Problem gewesen, den Schultalltag hinter uns zu bringen, irgendwann mal eine Uni zu finden.

Naja, Boris hatte eher den Plan gehabt mit seiner Band berühmt zu werden, aber laut seiner eigenen Aussage seien alle Mitglieder außer ihm selbst dafür zu schlecht gewesen.

Ich hatte den Plan gehabt, vielleicht Lehrer zu werden oder Psychologe. Irgendwas, bei dem man Leuten helfen konnte, etwas, wo meine Kraft nützlich gewesen wäre für Leute, die ihre Gedanken nicht wirklich auszudrücken wussten.

Raphaels Auftauchen auf meiner Schule hatte mein Leben komplett umgeschmissen. Er hatte alles verändert und ich wusste auch, dass er mich verändert hatte.

Jetzt, wo ich ihn nicht mehr hatte, wurde mir so richtig bewusst, dass die Welt noch mehr Menschen hatte als nur ihn und mich. Dass es mehr gab als unsere Liebe und, dass ich auch ohne ihn ein zufriedenes Leben haben konnte. Es hatte ja auch vor ihm funktioniert, wieso sollte es das danach nicht mehr tun?

Ich war nicht davon überzeugt, dass Raphael jemals zu mir zurückkommen würde.

Vielleicht würde er mich immer lieben, ja, vielleicht aber auch nicht.

Ich wusste aber mit Sicherheit, dass es ihm die vergangenen Ereignisse unmöglich machten, seinen Posten als König je wieder aufzugeben und wenn er wirklich produktiv und hilfreich sein wollte, dann ging das nur ohne mich.

Obwohl ich ihn vermisste, obwohl sich das Fehlen unserer Verbindung so anfühlte, als fehlte auch ein Teil von mir, war ich irgendwie stolz auf ihn. Er hatte in seinem Leben eigentlich noch nie etwas richtig durchgezogen. Es war einfach scheiße gelaufen, dass das jetzt bei mir angefangen hatte. Doch es änderte nichts daran, dass ich ihm nur das Beste wünschte. Ich wollte, dass er glücklich wurde. Aber ich wollte auch selbst glücklich werden.

Mir war bewusst, dass jedes Glück, das ich ohne ihn erreichen konnte nicht mal ein Bruchteil von dem war, das ich in der traurigsten Sekunde mit ihm erlebt hatte, aber es war besser als gar nichts.

Ich war 25 und ich würde jetzt ganz sicher nicht mein Leben wegwerfen wie ein sitzengelassener, depressiver, hässlicher, erbärmlicher Junge, der keine Perspektiven hatte und abhängig von den Definitionen und der Zuneigung Anderer war.

Ich hatte Geld, zwar nicht so viel wie Boris, aber genug, um klarzukommen. Ich konnte mir eine Arbeit suchen oder eine Uni. Aber all das kam mir irgendwie falsch vor. Es schien, als hätte ich zum jetzigen Zeitpunkt eine andere Aufgabe zu erfüllen und natürlich hatte diese mit dem Krieg zu tun.

Ich konnte nicht einfach den ahnungslosen normalen Menschen spielen, wenn ich doch quasi verantwortlich für den Krieg war. Ich wollte irgendwie helfen.
Aber auf der Seite der Vampire wollte man mich nicht, die Menschen hatten selbst keine Ahnung und dann blieb eigentlich nur noch eine Gruppe, bei der ich meinen Platz finden und hilfreich sein konnte...

„Wie lange bist du schon wach?", brummte Boris in meine Pläne.

„Keine Ahnung, schon ne Weile."

Er gähnte herzhaft, machte dann einen verschlafenen Laut und drückte sich fest an mich.

„Wir müssen dringend endlich Charlie finden.", meinte ich wenig begeistert von seiner Kuschel-Aktion, ohne dabei wirklich über meine Worte nachzudenken.

Es war eine Weile still, bis Boris unsicher fragte: „Denkst du, es geht ihm gut?"

Ich seufzte.

Woher sollte ich das denn wissen? Ich war Gedankenleser und kein Hellseher. Aber ich wusste, dass Boris mich das nicht fragte, weil er eine ehrliche Antwort wollte, sondern weil er Trost wollte, also nickte ich.

„Ja, ich denke Charlie geht es gut. Wenn einer auf sich aufpassen kann, dann er. Schau mal, wenn ihn jemand auf der Straße sieht, macht er doch mit Sicherheit einen großen Bogen um ihn. Er ist nicht die Art von Typ, mit der man sich anlegt, dafür ist er zu groß, zu breit und zu gruselig, wenn man ihn nicht kennt"

Boris kicherte leicht, aber es klang auch traurig. „Stimmt, da hast du recht. Er kann ja auch echt angsteinflößend gucken"
Dieser Ton, in dem er das sagte, bewies, dass er alles andere als okay damit war, dass wir bisher noch keine Bemühungen angestrebt hatten, Charlie zu finden.

Aber wo sollten wir denn bitte auch anfangen suchen? Der letzte Ort, an dem Boris noch gewusst hatte, wo Charlie gewesen war, war ihr Bett. Es war sicherlich keiner ins Haus geschlichen und hatte ihn entführt. Das hieß, er war freiwillig gegangen, nur wussten wir halt nicht wohin.

Aber ich wollte nicht derjenige sein, der Boris sagte, dass sein Mann ihn bewusst verlassen hatte, ohne ein Wort zu sagen.

Wenn man seine Situation mal mit meiner Verglich, wusste ich nicht mal genau, welche schlimmer war.

Zu wissen, dass der Gefährte einen nicht mehr wollte oder nicht zu wissen, was mit seinem Gefährten überhaupt war.

Es war alles nicht das Gelbe vom Ei. Aber in einer Zeit wie dieser würde das nichts sein. Wir mussten uns mit dem zufrieden geben, was wir hatten. Und wir mussten uns Verbündete suchen, von denen wir nicht wirklich erwarteten, dass sie mal unsere Verbündeten werden würden.

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