68. Silas: Einsam

Ich saß in meinem Bett herum und ließ Raphaels Kette vor meinem Gesicht herum baumeln.

Ich starrte sie an, sie und den Ring, in dem unsere Namen eingraviert waren und das Versprechen, dass wir jeden Weg zusammen gehen würden.

Ich war nicht bereit zu akzeptieren, dass das wirklich das Ende meiner Beziehung mit Raphael war.

Ich spürte, dass er innerlich nach mir rief, dass er nichts lieber wollte, als sich einfach in meine Arme fallen zu lassen. Dass er weinen, schreien und einfach mal loslassen wollte. Aber auch, dass er diesen Teil in sich für menschlich erklärte und ihn nicht haben wollte.

Damals, nachdem wir erfahren hatten, was er war, hatte er sich geweigert den vampirischen Teil in sich zu akzeptieren, weil er ihn für die dunkle Seite in sich gehalten hatte. Nun wollte er sich am liebsten alles menschliche in sich ausreißen, weil er es verabscheute.

Es war schwer für ihn. All das war unglaublich schwer für ihn, ich verstand das. Ich wusste, dass ich nicht den Beleidigten spielen sollte, weil er so mit mir umgegangen war wie er es war. Ich wusste, ich musste ihm Zeit geben nachzudenken und von alleine darauf zu kommen, dass er mich brauchte. Alles andere würde ihn nur zu schlimmeren Trotzreaktionen führen.

Ich wusste auch, dass eine Trennung von mir ihm das Königsein der Vampire einfacher machte. Dass es ihm Respekt einbrachte, weil alle wussten, dass ich sein Gefährte war und er trotzdem auf mich verzichten wollte, um seiner Aufgabe nachzugehen. Aber, was sie dabei vergaßen, war, dass er ohne mich nur halb so mächtig war. Klar als Einzelperson mit seinen eigenen Kräften war er auch schon kraftvoller als wohl jedes andere Wesen, aber mit mir war seine Kraft fast grenzenlos.

Nur, weil wir uns nie die Mühe gemacht hatten, unser Potenzial zu erkunden, hieß es ja nicht, dass das, was wir jetzt konnten, schon alles war.

Ich spürte, dass wir beide noch so viel mehr drauf hatten. Aber auch, dass wir das nur zusammen erreichen konnten.

Es gab so viele Gründe für Raphael und mich, ein Paar zu sein. Nicht nur, weil wir so mächtiger waren, fast schon unbesiegbar. Nicht nur, weil das Schicksal uns zusammen sehen wollte. Nicht nur, weil eine Trennung zu sehr wehtun würde. Nein, sondern weil ich Raphael liebte. Nicht den halb Vampir, halb Menschen Hybriden, den die Jäger in ihm sahen, nicht den König, den die Vampire in ihm sahen nicht den Kumpel, den unsere Freunde in ihm sahen. Ich liebte ihn für die Person, die nur ich in ihm sah. Die nur ich kannte. Für den Jungen, der unglaublich stark war und zwar nicht nur, wenn er kämpfte oder andere zurechtwies, sondern auch, wenn er weinte und all seine Traurigkeit zuließ.
Ich liebte ihn für den Mann, der alles für seine Freunde tat und das nicht, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, sondern weil ihm sein Herz sagte, dass es richtig war.
Ich liebte ihn für dieses Strahlen in seinen Augen, wenn er mich anlächelte.
Ich liebte ihn für jeden dummen Spruch, den er schon gelassen hatte und jeden, den er noch bringen würde.
Ich liebte ihn für jedes Wort aus seinem Mund, egal wie verletzend es auch war.
Ich liebte ihn, weil er mein war, ein Teil von mir. Weil es ohne ihn ein mich nicht mehr gab.
Ich liebte ihn, weil ich einfach alles für ihn tun würde. Alles. Nur nicht aufhören, um ihn zu kämpfen.

„Hei, du Trübsalbläser!" Boris riss mich aus meinen Gedanken, als er ungefragt das Zimmer betrat, mich mit einem mitleidigen Lächeln betrachtete und zu mir aufs Bett schlenderte.

Erst jetzt bemerkte ich die Feuchtigkeit auf meinen Wangen und den Kloß in meinem Hals. Ich richtete mich leicht auf, räusperte mich und versuchte so zu tun, als habe ich einfach etwas im Auge, um mir die Tränen wegzuwischen.

Natürlich bemerkte er, was los war.
„Siehs positiv, wenigstens weißt du, wo dein Freund ist, und dass er am Leben ist" Boris zog sich seine Hose und sein Shirt aus, ehe er sich unter meine Decke kuschelte und mich dadurch auf Raphaels Seite vertrieb.

„Was soll das werden?", wollte ich kraftlos wissen.

„Was wohl? Ich will bei dir schlafen" Boris drehte sich zu mir um und ich zog die Augenbrauen hoch.

Das war jetzt auch schon ewig nicht mehr vorgekommen. Aber wirklich was dagegen hatte ich eigentlich nicht. Er war einsam, ich war einsam und wenn ich mich um seine Gefühle kümmerte, konnte ich meine ignorieren.

Ich seufzte also, ließ mich in die liegende sinken und deckte mich mit Raphaels Decke zu, die er nachts noch nie benutzt hatte, weil er sich immer zu mir unter meine gekuschelt hatte.

Ich machte mir seine Kette um, hielt den Ring aber trotzdem in der Hand, an der ich meinen eigenen Ring hatte.

Boris seufzte, als er mich musterte.

Bevor er etwas sagen und mich auf meinen nicht sehr erfreulichen Zustand ansprechen konnte, tat ich es. „Eine Ahnung, wo Charlie ist? Keiner der Vampire weiß was davon."

Boris wich meinem Blick aus und schüttelte traurig den Kopf. „Ich weiß, es ist fies, aber ich hoffe irgendwie, dass ihm was passiert ist. So hätte er mich wenigstens nicht freiwillig verlassen...", murmele er leise.

Ich sah ihn leidend an, rutschte ein bisschen zu ihm und strich ihm tröstend durch die Haare. „Hast du denn ein Gefühl..."

Boris schnaubte. „Ich kann meinen Gefühlen doch gar nicht mehr trauen. Es fühlt sich nicht mal so an, als sei er noch auf diesem Planeten."

Ich nickte verstehend, dachte mir schon, wie er dies Problem beheben konnte. „Ich hab, um diese Gedankenhören und -kontrollieren Sache besser zu lernen meditiert und sowas"

Er schaute mich ganz doof an und ich verdrehte die Augen. „Das stand in den Jägerschriften. Vampire haben körperliche Kräfte und wir nun mal mentale. Nur wenn du mit deiner Seele im reinen bist, funktionieren die auch richtig. Das heißt: akzeptieren, zulassen, kontrollieren, anwenden. Wenn du versuchst, deine Kräfte zu unterdrücken, dann stauen die sich und drehen komplett am Rad. Am besten ist es bei der Anwendung einfach auf seine Instinkte zu hören. Aber man muss trotzdem die Kontrolle behalten. Ich weiß, das klingt kompliziert, vor allem bei deiner Kraft, weil das beste über dein Unterbewusstsein geht, aber vielleicht solltest du es einfach mal probieren, mh?"

Boris nickte leicht, sah ein bisschen beeindruckt aus. „Wann hört es eigentlich auf, dass ich von meinem kleinen Cousin was beigebracht bekomme?"

Ein Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen. „Vielleicht, wenn du mal erwachsen wirst, großer Cousin"

Er lächelte leicht und rutschte ganz nah an mich heran, um seinen Kopf auf meine Brust zu legen. „Lass uns kuscheln", murrte er dabei.

Leicht grinste ich, weil er nach all den Jahren immer noch so war wie in unserer Jugend, legte die Arme um ihn.

„Du, Silly...." Er nutzte den Spitznamen für mich, den ich noch nie gemocht hatte, aber irgendwie hatte er schon immer unser Verhältnis ganz gut beschrieben. Wir neckten uns oft, aber waren auch sehr liebevoll zueinander.

„...Ich weiß, wir streiten viel...", meinte Boris leise und legte sich etwas auf meiner Brust zurecht. „...Aber ich will einfach, dass du weißt, falls mir mal was passieren sollte... Dass ich dich liebe"

„Boris", seufzte ich, strich ihm beruhigend durchs das Haar. „Du überdramatisierst es schon wieder. Dir wird nichts passieren. Du bist unsterblich..."

„Nein", widersprach er. „Ich altere nicht. Das heißt aber nicht, dass ich unsterblich bin, wenn mich jemand absticht oder so"

„Na wenn du schon deine Beziehung für diesen Wunsch riskiert hast, hättest du es wenigstens richtig machen können", meinte ich missbilligend.

Ich hörte einen genervten Ton von ihm, er richtete sich auf, um mich anzusehen. „Ich wollte gerade ausnahmsweise mal süß und nett zu dir sein und was machst du? Nörgelst mal wieder nur an mir rum. Du dummer Arsch"

Das brachte mich zum Lachen. „Schon gut, Bobo. Du weißt doch, dass ich dich auch liebe. Du bist mein Bruder. Ich würde meinen Arsch für dich ins Höllenfeuer halten"

„Na bei dem Arsch kann ja nicht viel kaputt gehen..."

„Hei!" Ich gab ihm einen Klapser auf den Hinterkopf und er kicherte.

„Aber ich muss dich ja nicht ficken, also" Er zuckte mit den Schultern und legte sich dann wieder auf mich.

„Du bist unfassbar. So ein frecher Wicht", beschwerte ich mich.

Boris und ich zickten uns noch ein bisschen an, aber irgendwann schliefen wir relativ friedlich ein.

Ich zumindest. Boris für seinen Teil hatte Angst. Vorm Einschlafen, vorm Träumen, vor dem Leben. Aus dem ganz einfach Grund, weil er auch ohne es in seinen Visionen deutlich zu sehen, wusste, dass uns bald sprichwörtlich die Hölle auf Erden bevorstand.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top