51. Dale: Gefühle

Chad und ich waren in der Nacht rüber in das Zimmer gegangen, das uns zur Verfügung gestellt worden war. Er war ziemlich schnell eingeschlafen und obwohl ich auch sehr müde war, konnte ich mir einfach keine Ruhe gönnen.

Erst, als ich mir sicher war, Chad schlief tief und fest, schlich ich mich aus dem Zimmer, tapste über den Flur und dann in den Raum, in dem Austin lag.

Boris meinte, sein Bluthaushalt sei wieder ausgeglichen und jetzt schlief er nur noch der Erschöpfung wegen.

Ich wollte trotzdem auf ihn aufpassen und außerdem gefiel mir der Gedanke nicht, dass er nach all diesen Erlebnissen aufwachte und dann alleine war. Er sollte wissen, dass er jetzt in Sicherheit war.

Deshalb legte ich mich zu ihm in das große Bett, aber in gebührendem Abstand. Ich wollte ja nicht wie ein kranker Psycho rüberkommen, der sich an unschuldigen Schlafenden vergriff und Austin womöglich noch Angst machen.

Ich wollte nur für ihn da sein... Und vielleicht auch die Gelegenheit nutzen, ihn schamlos anzustarren und mich für die dabei entstehenden Gefühle nur vor mir selbst verantworten zu müssen.

Ich verstand nicht, wieso ich mich dermaßen zu Austin hingezogen fühlte. Ich kannte ihn ja kaum. Aber es war genau das Gefühl, dass ich ihn schon kannte und wir eine tiefergehende Verbindung hatten, das mich so zu ihm zog.

Mir war klar geworden, dass ich Chad mit Sicherheit kannte. Aber ich glaubte nicht, dass wir Familie waren.

Ich kannte auch Boris. Ich mochte ihn. Ein Teil von mir, der Teil, der meine Vergangenheit kannte, der vertraute ihm. Etwas sagte mir, er hatte mir schon oft geholfen und Rat gegeben. Er war mein Freund.

Auch Silas und Raphael kannte ich, aber die eher flüchtig.

Charlie war mir ebenfalls bekannt, aber ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Er konnte sehr gemein sein, das wusste ich, obwohl ich das noch nie richtig erlebt hatte.

Chad kümmerte sich viel um mich, er war ein guter Mensch, ehrlich, treu, loyal. All das wusste ich aber nicht, weil ich mich daran erinnerte, sondern weil ich es fühlte. Und vielleicht waren die Erinnerungen an sie ja auch gar nicht so wichtig.

Ich meine, wäre es andersherum, würde ich mich an alles erinnern, doch nichts dabei fühlen, was würde es mir dann bringen? Man lebte doch nur für Emotionen. Manche für den Stolz eines Erfolgs, manche für Glück, manche für Liebe.

Klar war das charakterabhängig, aber alles führte doch immer wieder auf Gefühle zurück und wurde von Gefühlen verursacht.

Also wieso sollte ich meinen dann nicht vertrauen, nur weil mir ein Mann, den ich genauso wenig kannte wie alle andern sagten, was ich zu tun, zu denken und zu fühlen hatte?

Ich wusste, Chad meinte es nur gut, aber obwohl er augenscheinlich mein Bruder war, bedeutete mir Austin einfach mehr als er. Er war mir wichtig, ja. Aber ein Leben ohne Austin war unvorstellbar für mich.

Ich wusste ja, wie seltsam das auf alle Außenstehenden rüberkommen musste, aber die hatten auch nicht meine Gefühle. Dieses Kribbeln im Bauch, wenn er mich ansah. Dieses Gefühl jeden Moment wie ein Fangirl loskreischen zu müssen, wenn er mit mir sprach. Diese Wärme, wenn er mir berührte. Das alles fühlte sich so richtig an.

Im Gegensatz dazu stand ein einziger Gedanke daran, ohnehin zu sein und sofort zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen und ich drohte zu ersticken.

Warum sollte ich mir selbst dieses Leid zufügen, nur um Andere zufrieden zu stellen? Nein, das würde ich sicherlich nicht tun.

Austin und ich gehörten zusammen. Und wenn er und alle anderen das nicht glauben, dann musste ich es ihm und ihnen eben beweisen.

Ich wusste auch gar nicht recht, was ich da tat, als ich näher an ihn heran rutschte und sein hübsches Gesicht zu mir drehte.

Chad hatte gesagt, ich sei nie an Männern interessiert gewesen, ich hätte sogar eine Freundin gehabt. Das konnte ich nicht glauben.
Man musste sich diesen Mann vor mir doch nur ansehen und wurde schon verrückt nach ihm. Für mich war er die Verkörperung von Perfektion. Alles, was ich brauchte und wollte.

Mein Daumen fuhr über seine Lippen. Obwohl er so lange in Gefangenschaft gewesen war, waren sie schön weich. Sie sahen so einladend aus.

Vielleicht war ich doch ein kranker Psycho, der unschuldige Schlafende sexuell anging, aber ich konnte gerade einfach nicht anders. Ich musste es tun. Vielleicht war es meine einzige Gelegenheit.

Ich blickte Austin überprüfend auf die geschlossenen Augen. Er schlief. Ich würde ihn nur ganz kurz küssen und mich sofort wieder zurückziehen, in irgendeiner Ecke verstecken und dort bis an mein Lebensende schämen.

Guter Plan.

Ich leckte mir über die Lippen und rieb sie aneinander, so als müsste ich sie aufwärmen wie Muskeln vor dem Sport, während ich meinen Kopf Austins näher brachte.

Ich wartete auf irgendetwas, sowas wie den passenden Moment.

Keine Ahnung, was mit mir los war. Vielleicht hatte ich Angst.

Als ich gerade beschloss, ihn jetzt zu küssen oder nie, sah er mir plötzlich aus einem grünen Augenpaar entgegen.

Ich erstarrte komplett, als er mich ansah.

Seine Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen, aber er hatte mich noch nicht weggestoßen.

„Dale", flüsterte er überfordert. „Was machst du da?"

Ich schluckte.

Scheiße.

War jemals jemand in der Menschheitsgeschichte so erwischt worden?

Bestimmt war ich knallrot.

„Ich... Ich hatte vor dich zu küssen", gab ich ebenso leise zurück. Seine Augen öffneten sich ein Stückchen weiter, aber nach wie vor blieb er liegen.

„Wieso?"

Doofe Frage, Austin, wieso wollte man einen wohl küssen?! Oh Mann, da hat sich mein Herz ja einen ganz Schlauen ausgesucht.

„Es hat sich gerade so richtig angefühlt"

Austin nickte verstehend, aber dann tat er, wovor ich Angst gehabt hatte. Er rutschte im Bett zurück, wodurch er automatisch Distanz schaffte.

Aber was hatte ich denn auch erwartet? Dass er sich freute, dass ich vorgehabt hatte, über ihm herzufallen? Dass er mich dazu animierte weiter zu machen? Dass er mich packte, küsste und nie mehr damit aufhörte?

Ach scheiße. Ich war doch komplett durchgeknallt!

Ich entfernte mich wieder etwas von ihm, setzte mich in den Schneidersitz und blickte beschämt auf meine Finger, die ich in meinem Schoß verschränkt hatte.

Ich wusste, ich sollte gehen, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Damit ich also nicht noch verrückter rüberkam, murmelte ich, was längst überfällig war: „Tut mir leid. Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen"

Ich hörte sein Seufzen. „Ist okay. Es gibt schlimmeres, das du mir antun könntest."

Vorsichtig hob ich den Blick, um ihn anzusehen.
„Also..." Ich räusperte mich. „Hättest du nichts dagegen?"
Ich hatte mein Herz noch nie so schnell schlagen spüren wie in diesem Moment.

Er wagte es auch noch, einfach mit den Schultern zu zucken. Ich bekam hier noch die Krise! „Ich weiß nicht, ob ich erwidern würde. Und ich finde, dass du es verdient hast, dass jemand deine Küsse erwidert."

Ich nickte nur, doch wollte es wissen. Es konnte doch nur daran liegen. Ich war mir sicher, Austin fühlte genauso wie ich. Aber er wehrte sich...

„Ist es wegen deinem toten Freund?"

Austins Miene sah plötzlich so aus, als hätte ich ihm einfach so ins Gesicht geschlagen.

Oh man, ich machte auch echt alles falsch, was man nur falsch machen konnte...

Ich versuchte es schnell wieder gut zu machen: „Tut mir leid, ich... ich bin einfach dumm. Ich gehe wieder. Tut mir wirklich leid"

Ich wollte hektisch aus dem Bett springen und meinem Plan nachgehen, mir eine ruhige Ecke zu suchen und mich doch bis an mein Lebensende meiner Peinlichkeit hingeben, da das hier gerade einfach nur noch unangenehm war, aber er hielt mich auf, indem er meine Hand abfing und sie festhielt. „Geh nicht."

Ich schloss die Augen, genoss das Gefühl, das diese Berührung in mir auslöste und versuchte, mich zu beruhigen, bevor ich mich wieder zu ihm drehte.

„Es wird wirklich Zeit für uns zu reden", sagte er, als er mir wieder in die Augen sehen konnte.

Ich setzte mich wieder hin, nickte nur als Antwort.

Er seufzte, zog seine Hand zurück und ich konnte nicht verhindern, ihr sehnsüchtig hinterher zu sehen.

„Ich finde, du hast eine Erklärung verdient", begann Austin.

Ich sah von seiner Hand, die eben noch dieses unbeschreibliche Gefühl in mir ausgelöst hatte, hoch in seine Augen.

Er versuchte, sachlich zu bleiben, das sah man ihm an, doch er schaffte es nicht. „Ich weiß, dass du dich nicht nur zu mir hingezogen fühlst, weil ich nach deiner Auferstehung da war und so. Chad und die Anderen können das nicht verstehen, ich verstehe es ja selbst nicht, aber ich weiß, dass da was zwischen uns ist, Dale und so toll es sich auch anfühlt und so süchtig ich jetzt schon danach bin, einfach nur deine Hand halten zu dürfen, so weh tut es mir auch."

Ich blickte ihn leidend an, als ich den Schmerz in seinen Augen sah, der seine Worte unterstrich.
Ich wollte nicht, dass es ihm meinetwegen schlecht ging. Dafür war er viel zu gut.

Könnte ich, würde die gesamte Welt für ihn auf den Kopf stellen, nur damit es ihm gut ging, aber der Grund für sein Leid lag in meiner Hand.

„Diese Gefühle für dich... erinnern mich einfach zu sehr an meinen letzten Freund. Es gibt so viele Gründe, warum das nicht gut ist. Ich liebe ihn noch immer. Ich werde das immer tun. Ich habe ihm versprochen, dass er der Einzige für mich ist und bleibt. Klar wollte er, dass ich glücklich werde, aber, wenn ich mich jetzt auf einen Anderen, dich, einlasse, dann sind alle Worte, die ich je zu Jay gesagt habe, bedeutungslos und somit auch sein Tod"

Natürlich verstand ich, was er meinte und es zeugte von Austins wahrer Liebe zu seinem Jay, dass er so dachte, aber das änderte nichts daran, dass sein Ex tot war und ich hier war, um für ihn da zu sein.

„Denkst du, ihm ist es noch so wichtig, dass du ihm irgendetwas beweist?", fragte ich.

Ich wusste, das konnte gewaltig nach hinten losgehen, immerhin führte ich gerade einen Kampf gegen Austins toten Freund, den dieser mit Sicherheit gewinnen würde, aber ich wollte eben nicht einfach so aufgeben.

„Es geht nicht darum, ihm etwas zu beweisen, sondern mir"

Na toll. Und da war sie auch schon, die Niederlage.

„Was soll das sein? Wie lange du es aufhältst, glücklich zu sein?" Mein Ton wurde angreifender, ja, aber vielleicht hatte ich es auch einfach satt, immer abgewiesen oder wie ein unmündiges Kind behandelt zu werden.

Austin hatte wohl keine Kraft, deshalb sauer auf mich zu sein, er seufzte nur.
„Ich habe das nur getan, weil wir davon überzeugt waren, unsere Liebe sei stark genug, damit er wieder zurückkommen kann...", sagte Austin zusammenhanglos. „...und wenn ich jetzt, nach nur 3 Jahren, einfach die Hoffnung aufgebe und das Thema abhake, was hat diese Liebe dann noch für eine Bedeutung?"

Es klang, als sei er das in Gedanken schon tausendfach durchgegangen. Er hatte wahrscheinlich alles, was man so darüber besprechen konnte, schon in seinem Kopf durchgekaut, aber mir reichte das nicht, ich wollte es ausgesprochen haben.

Ich wollte verstehen, wieso ich ihm nicht genug war.
Und ich wollte verstehen, was er mit diesem Satz meinte.

„Was hast du getan, Austin?", fragte ich ihn ernst, in leicht böser Vorahnung.

Seine Miene versteinerte sich, so als habe er es sich antrainiert, bei dem leisesten Gedanken daran, keine Gefühle mehr zuzulassen. „Ich habe ihn umgebracht"

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