61. Austin: Familie

„Hören Sie zu, er ist mein fester Freund. Ich habe ihn hergebracht. Ich will wissen, was mit ihm los ist." Ich sah den Arzt ernst an, wollte bedrohlich wirken, um ihm Angst zu machen, aber die Panik und das Flehen in meiner Stimme verfehlten diese Wirkung.

„Ich darf Informationen über seinen Gesundheitszustand nur an seine Familienmitglieder weitergeben. Bringen Sie mir seine Eltern und wenn diese Ihnen dann von den Ergebnissen berichten, wissen Sie ja, was los ist"

„Seine Eltern hassen mich!"

Der Arzt seufzte. „Tut mir Leid für Sie, aber ich kann da wirklich nichts machen." Er sah mich noch einen Moment mitleidig an und ging dann.

Ich kippte an die Wand neben mir und sah Boris verzweifelt an.
Er kam zu mir, umarmte mich. „Alles wird gut, Austin"

Ich versuchte meine Tränen zurückzudrängen und einen klaren Kopf zu bewahren.

Nachdem Jaylin einfach umgekippt war, hatten wir ihn ins Krankenhaus gebracht. Er war jetzt schon seit 2 Tagen hier und oft untersucht worden, doch er war nicht wieder aufgewacht. Da er auf der Intensivstation lag, durfte ich auch nicht zu ihm und keiner sagte mir, was mit ihm los war. Mir blieb also nur eine Wahl. Ich musste seine Eltern einweihen. Aber ich wollte hier nicht weg, ich bildete mir ein, meine Nähe würde Jay bestimmt irgendwie helfen können und eine Telefonnummer von Jer oder Alina hatte ich nicht.

„Kannst du seine Eltern holen?", bat ich Boris schwach.

Er löste sich von mir und nickte schnell. „Natürlich. In der Zeit dreh aber nicht durch, okay?"

Ich nickte, nicht weil ich davon überzeugt war, sondern um ihn zu beruhigen.

Boris sah mich noch einen Moment besorgt an, ehe er ging.

Ich ließ mich an der Wand entlang auf den Boden sinken und lehnte den Kopf nach hinten.

Noch nie im Leben hatte ich so eine Panik gespürt, so eine Angst. Wirklich noch nie.

Ich merkte gar nicht wirklich, dass ich nicht alleine war, bis sich zwei Leute rechts und links von mir auf den Boden setzten und eine Person vor mich. Ich roch sie. Rechts von mir saß Charlie, links Raphael und vor mir Silas. Sie hatten eigentlich alle etwas Besseres zu tun, doch sie waren hier bei mir, um mir beizustehen und stellen alles andere hinten an. Dafür liebte ich sie.

„Es tut mir leid, Austin", hörte ich nach einer Weile reumütig von Raphael.

Ich hob den Blick, sah ihn an.

„Es tut mir so leid", wiederholte er.

Ich verstand es nicht, zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Du hast doch gar nichts gemacht. Oder?"

Er sah aus, als habe er eben doch etwas gemacht. Und das bestätigte sich.

„Ich hätte seinen Wunsch niemals erfüllen sollen. Er konnte ein paar Wochen wieder laufen, aber was wenn das jetzt der Preis dafür ist? Ich hab einfach nicht nachgedacht. Ich wollte nur helfen. Ich wollte meinen Freunden was Gutes tun. Bisher hat meine Kraft nur Schaden angerichtet. Ich habe Leute verletzt und getötet. Ich wollte euch glücklich machen" Er hatte große Schwierigkeiten, seine Tränen zurückzuhalten. „Ich war naiv. Ich hätte das nicht tun sollen ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Bitte verzeih mir" Eine Träne rannte ihm hinab.

Ich hatte ihn zuletzt als Kind weinen sehen, doch schon damals hatte es mir das Herz gebrochen.

Schnell umarmte ich ihn. „Es gibt nichts zu verzeihen, Raphael. Du hast getan, was du für richtig gehalten hast. Und ich glaube nicht, dass das etwas mit seinen Beinen zu tun hat." Ich seufzte. „Er hatte dieses Nasenbluten schon davor, hat er mir mal erzählt... Außerdem hatte er schon immer so einen besonderen Geruch. Ich dachte, es läge an seinem Herzfehler. Aber die letzten Wochen ging es ihm immer schlechter. Nur in manchen Momenten, aber genau dann hat sich der Geruch verstärkt. Es ist etwas in seinem Blut"

Raphael drückte mich von sich, um mich anzuziehen. „Wieso hast du nicht früher etwas gesagt?"

Ich schüttelte leicht den Kopf. „Er hat gesagt, es geht ihm gut. Er wollte nicht zum Arzt. Und ich wollte nicht, dass sich meine Angst bestätigt. Wir haben es verdient, glücklich zu sein. Er hat es verdient."

Ich schniefte leicht, sah traurig auf den Boden.

Es wurde still zwischen uns, nur das allgemeine Treiben eines Krankenhauses ließ es nicht zu einer kompletten Totenstille werden. Doch keiner von uns sagte mehr etwas. Alle dachten nach. Jeder wollte helfen, aber keiner wusste wie.

So verging einige Zeit, bis ich mir bekannte Leute roch und Schritte hörte. Schon bevor sie diesen Flur überhaupt betraten, stand ich auf und sah erwartungsvoll in die Richtung aus der sie kamen. Boris sprach mit Jeremy und Alina und versuchte mit Händen und Füßen zu erklären, dass keiner von uns etwas damit zu tun hatte, dass keiner Jay was getan hatte und er einfach so umgekippt war.

Jeremy glaubte ihm nicht. Als er uns sah und mich erkannte, gab es kein halten mehr für ihn, er stürmte auf uns zu und packte mich am Kragen, um mich an die Wand zu drücken.

„Wenn du ihm nur ein Haar gekrümmt hast, wirst du dir wünschen, niemals wieder auferstanden zu sein!", knurrte er aggressiv, fast schon hasserfüllt.

Klar konnte ich ihn einfach wegschieben. Ich konnte ihn mit einem leichten Schlag ans andere Ende des Flures befördern, aber das wollte ich nicht. Es würde ihn nur wütender machen. Außerdem sah ich ihm ja an, dass er nicht einfach nur wütend war, sondern Angst hatte. Es ging ihm wie mir.

„Ich habe Jay nichts getan", versicherte ich ihm deshalb ruhig, möglichst glaubhaft.

Es war eine Lüge. Aber er musste ja nicht wissen, dass ich schon des Öfteren Jays Blut getrunken hatte.

Zum ersten Mal im Bett, nachdem ich abgestochen worden war und er mir gesagt hatte, dass er mich liebte. Dann nach seiner Heilung. Dann immer wieder, wenn er es mir angeboten und ich eben Lust darauf gehabt hatte. Dabei hatte ich ihm bisher erst einmal weh getan, was schon zu viel für mich war, aber trotzdem war das in der Bilanz ziemlich wenig.

Zudem war ich mir sicher, das hatte nichts mit seinem jetzigen Problem zu tun. Das würde nur bewirken, dass Jer mir niemals anvertrauen würde, was mit Jay los war.

Er musterte mich lange, knurrte dann einmal frustriert und ließ mich wieder los.

„Wo ist mein Sohn?", fragte er angespannt.

„Intensivstation"

Alina schlug sich die Hand auf den Mund. „Aber er lebt noch, oder?"

„Sonst läge er nicht auf der Intensivstation, sondern im Leichenschauhaus", meinte Charlie nüchtern.

Klar hatte er damit Recht, aber einfühlsam war was anderes...

Als Alina daraufhin noch mehr zu zittern begann, nahm Jeremy sie in den Arm, strich über ihren Kopf und versuchte, sie zu beruhigen. Das war wohl auch besser so in Anbetracht dieser Babykugel, die sie da schob.

Als ein Arzt vorbei kam, ließ Jer ziemlich plötzlich von seiner Frau ab und joggte zu dem Mann im weißen Kittel, der mich schon ein paar Mal abgewiesen hatte. Jer musste sich ausweisen und Angaben machen, bis der Arzt meinte, ihn zu Jay zu bringen. Alina folgte ihm natürlich und meine Freunde und ich ließen auch nicht lange auf uns warten.

Vor Betreten der Intensivstation, hielt der Arzt und drehte sich zu uns um. „Nur die engsten Familienmitglieder oder in Ausnahmefällen die Partner des Patienten"

Er sah mich dabei an, als sei er gespannt, ob Jays Eltern mir erlauben würden, mit rein zu kommen.
Auch Jeremy sah mich an. Er wusste, dass er gerade eine enorme Macht über mich hatte. Er dachte nach.

„Bitte", flehte ich. Ich würde sogar auf die Knie gehen, nur um ein Okay von ihm zu hören. Aber ich zog eine andere Karte, indem ich viel zu nah an ihn herantrat und so nach seiner Hand fasste, dass nur er ich und der Arzt es mitbekamen. „Bitte, Jeremy. Lass mich mitkommen"

Wir hatten so intensiven Blickkontakt wie wahrscheinlich noch nie und Jeremy schluckte hart, als er das bemerkte. Er rang mit sich und mein Streichen mit dem Daumen über seinen Handrücken versetzte ihn fast schon in Panik. Ich wusste, dass es gemein war. Aber ich würde alles tun, um für mein Baby da zu sein. Selbst, wenn ich seinem Vater dafür das Herz brechen musste.

Er riss seinen Blick von mir los, drehte sich um und lief los. „Aber nur du"

Ich atmete erleichtert aus, warf meinen Freunden einen letzten Blick zu und rannte dann Jeremy, dem Arzt und Alina hinterher.

Als ich bemerkte, in welches Zimmer wir gingen, fokussierte ich mein Gehör, achtete auf des Piepen, das daraus kam. Es war regelmäßig. Der Herzschlag war schwach, aber auch akzeptabel. Den Geruch konnte ich noch nicht wahrnehmen, da ich nicht so ausgeprägte Sinne hatte wie Charlie, aber allein Jays Herzschlag zu hören, reichte mir schon.

Wir betraten das Zimmer. Alle, bis auf den Arzt starrten auf das Bett.

Wir standen in einer Reihe davor. Alles war weiß, auch Jay, der einfach dort lag, die Augen geschlossen, Schläuche, die in seine Nase führten und in seinen Arm.

Ich hörte Alinas Schluchzen und war selbst fast vor einem Zusammenbruch. Würde ich endlich mal begreifen, dass das hier real war, könnte ich vielleicht auch zusammen brechen, aber bis dahin wartete ich einfach, dass ich aufwachte aus diesem schrecklichen Alptraum.

Ich wollte Jay diese Schläuche aus den Armen und vom Gesicht reißen, ihn wach küssen und mit nachhause nehmen, wo er glücklich sein konnte. Wo er lachen konnte. Wo es ihm gut ging. Aber so einfach war das nicht.

„Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt", begann der Arzt mit der Erklärung.

Ich konnte meinen Blick nicht von meinem regungslosen Freund nehmen, bemerkte, wie sehr ich zitterte, dass ich Tränen in den Augen hatte und kurz davor war, dass meine Knie nachgaben.

In diesem Moment spürte ich eine Hand in meiner.

Ich sah dorthin, folgte dem Arm nach oben und blickte direkt in Jeremys Gesicht. Er sah mich nicht an, sondern konnte selbst nur auf den Jungen vor uns starren, aber, dass er meine Hand leicht drückte, bewies, dass er registrierte, wie ich ihn verwundert anstarrte.

Die Situation schaffte mich. Aber irgendwie half Jeremys Geste. Es machte mir Hoffnung, dass Jay nur wieder aufwachen musste und alles würde gut sein.

Der Arzt sprach weiter, nichts ahnend von meinen Gedankengängen.

„Sein Hirndruck war ungewöhnlich hoch und einige kleine Gefäße sind geplatzt, was zu dem explosiven Nasenbluten geführt hat, das sie angegeben haben" Er sah mich an. Irgendwie erkannte ich in seinem Blick, dass er mich wohl mochte, aber auch, dass dieses Gespräch nicht gut enden würde. Dafür hatte er zu viel Mitgefühl.

„Nach er Blutabnahme konnten wir die Diagnose stellen, dass der junge Mann ein Glioblastom hat."

Er packte etwas aus einer Mappe und steckte es in ein Gerät an der Wand, wo er nur ein Licht anschalten musste, damit man etwas sah. „Nach dem Lokalisieren des Tumors..." Der Arzt zeigte mit einem Kulli auf einen Bereich des abgebildeten Hirns, der irgendwie anders aussah als der Rest der Aufnahme. „...und der ungefähren Messung konnten wir feststellen, dass das betroffene Gewebe verschiedene Hirnareale umfasst."

Jeremy schien keine Lust mehr zu haben, nur zuzuhören, denn er fragte: „Was können wir tun?"

Der Arzt drehte sich wieder zu uns. „Es könnte helfen, ihn zu operieren, um erstmal den Druck vom seinem Hirn zu nehmen. Dabei können wir auch gleich eine Gewebeprobe entnehmen, deren Biopsie bei der weiteren Behandlung hilfreich sein kann. Bei dieser Größe und den Symptomen, die uns angegeben wurde, ist davon auszugehen, dass es sich um einen bösartigen Tumor handelt. Mit der Biopsie könnten wir uns dabei Sicherheit verschaffen"

„Was wenn es einer ist?", fragte Jeremy, in einem Ton, der fast so klang, als würde er in einen Krieg ziehen, um gegen diesen Tumor anzukämpfen.

Ich für meinen Teil verstand erst, je tiefer dieses Gespräch ging, dass das alles hier wirklich passierte. Jayjay hatte einen Hirntumor. Als ich aufgrund dieser erschütternden Erkenntnis die Lippen zusammenpresste, um nicht zu schreien, drückte Jeremy meine Hand fester.

„Egal, ob er gut oder bösartig ist, er liegt an einer sehr sensiblen Stelle und ist zudem ungewöhnlich groß. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir ein Rätsel, wie er noch am Leben sein kann. Er trägt dieses Glioblastom bestimmt schon 2 Jahre mit sich herum, was über alle Lebenserwartungen hinausgeht, vor allem wenn man bedenkt, dass es nicht behandelt worden ist. Aber genau deshalb kann ich ihnen versichern, dass dieser junge Mann ein Kämpfer ist"

Ich hielt das kaum mehr aus. Dieser Typ wusste doch gar nichts über Jay. Und trotzdem stellte er unser ganzes Leben auf den Kopf.

2 Jahre?! Und keiner hatte was bemerkt?!

Ich erinnerte mich daran, als er mir von dem Schwindel und den Kopfschmerzen erzählt hatte, daran, dass ihm morgens immer so schlecht war, er sich auch das ein oder andere Mal übergeben hatte. Ich erinnerte mich an all die Momente, in denen ihm mal ein Wort nicht eingefallen waren, oder er kurz gestottert hatte ohne es zu bemerkten oder als er mal kurz weggetreten war. Ich hatte gedacht, er war ein kleiner Tagträumer und schweifte mit seinen Gedanken in Philosophien ab, aber so harmlos war all das nie gewesen.

Nein.

Jay hatte einen Tumor und dieser brachte ihn um.













Wer hats erwartet? :(



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top