59. Boris: Verrat
Ich hörte, wie die Zimmertür aufging und sich mit einem lauten Knall wieder schloss, sodass ich zusammen zuckte.
Charlie war im Raum, das spürte ich. Und genauso spürte ich, wie es mir eiskalt den Rücken hinab lief, als ich seine Schritte hörte, die auf mich zukamen.
Es war schrecklich, wie erleichtert ich war, als sie wieder wegführten und zum Kleiderschrank.
Indes wagte ich es nicht, mich zu bewegen und stellte mich schlafend, um jeglicher Möglichkeit zum Streit mit Charlie aus dem Weg zu gehen. Ich wollte nicht mehr streiten. Es sollte aufhören. Bitte.
Charlie hatte aber nicht dieselbe Absicht wie ich. Er warf etwas neben mich auf das Bett und rüttelte an meinem Fuß. „Ich weiß, dass du nicht schläfst, Boris, dafür schlägt dein Herz zu schnell"
Ich schluckte, drehte mich zu ihm, sah ihn an, wollte im Erdboden versinken.
„Was soll das?", fragte ich leise und deutete zu der Tasche, die Charlie wohl eben auf das Bett geworfen hatte.
Er sah mich so kalt an, dass ich davon überzeugt war, hätte er da schon gelebt, wäre er persönlich für die Eiszeit verantwortlich gewesen.
„Du ziehst aus", teilte er mir seinen Beschluss mit.
Sprachlos sah ich ihn an. Das konnte unmöglich sein Ernst sein.
„Und zwar jetzt", fügte er noch mit einem auffordernden Blick hinzu, zog die Augenbrauen hoch, was wohl so viel heißen sollte wie: Wird's bald?
Aber jetzt reichte es mir. Ich hatte genug. Genug von seinem Verhalten und genug davon, wie leicht ich mich von ihm verletzten ließ.
Entschlossen strampelte ich die Bettdecke ab, stellte mich auf die Matratze, um auch mal auch Charlie hinab sehen zu können. „Was ist los mir dir, man?", fragte ich ihn aufgebracht.
Er verschränkte die Arme, erwiderte meinen Blick ausdruckslos, wortlos, gefühllos.
„Scheiße, Charlie, was hab ich dir denn getan?!" Meine Stimme brach zum Ende des Satzes hin, man hörte all meine Verzweiflung heraus. Man hörte heraus, wie sehr ich wollte, dass mir all das egal war, wie sehr ich einfach gehen wollte und meine Zeit mit Charlie hinter mir lassen, aber auch wie wenig ich das konnte und wie sehr mich das quälte. Aber nicht mal das zeigte eine hilfreiche Wirkung. Nein, er presste nur die Lippen zusammen und wurde wütend. Etwas, das in seinem Umgang mit mir eigentlich eher ungewöhnlich war.
„Charlie, ich..." Ich hüpfte vom Bett runter und wollte meine Hand auf seine Arme legen, aber er ging zurück, ließ mich ihn nicht mal berührten.
Ich vermisste meinen Charlie. Den Charlie, der mit jedem Lächeln ein kleines Wunder vollbrachte. Den Charlie, der mich kaum eine Sekunde loslassen wollte. Den Charlie, der mir jeden Tag auf unendlich viele verschiedene Arten zeigte, wie sehr er mich liebte. Ich vermisste es, diese Wärme zu spüren, wenn wir uns berührten, dieses Gefühl von zuhause, wenn er mich festhielt. Ich vermisste seine Lippen, die nicht sprechen, sondern mich einfach nur zu küssen brauchten, um zu beweisen, was er empfand. Ich vermisste seine Blicke, die immer so voller Liebe waren, dass ich beinahe darin ertrank. Ich vermisste ihn. Aber er war weg.
„Du willst das also wirklich", stellte ich fest. „Du willst, dass ich gehe"
Er sah mich nur an, so als habe er nicht mitbekommen, dass ich mit ihm sprach oder als sei es ihm einfach egal. Aber, was ihm am Arsch vorbei kroch, brach mir das Herz. Und ich hatte noch nie gut mit Schmerzen umgehen könnten.
„Rede mit mir, verdammt nochmal!", brüllte ich so plötzlich, dass es mich selbst überraschte. „So kannst du mich nicht behandeln! Ich bin dein Gefährte! Du hast mich zu verehren und mich nicht wie ein Stück Dreck zu behandeln! Du hast mich zu lieben und nicht zu hassen! Denn ich liebe dich!" Ich zeigte auf mich selbst und dann auf ihn. „Und du brichst mir das Herz! Schon wieder! Reicht es nicht langsam?! Scheiße, Charlie, was soll ich denn noch alles wegen dir durchmachen?! Ich kann nicht mehr!!!"
Mein Hals tat schon ganz weh von dem ganzen Gebrülle und als ich dann spürte, wie eine Träne meine Wange hinab lief, weil er weiterhin einfach nur dastand und mich distanziert ansah, war's das für mich.
Er wollte mich offensichtlich fertig machen, am Boden sehen. Das schaffte er. Nur durch seinen Blick.
Ich ließ mich erschöpft auf das Bett zurücksinken, vergrub das Gesicht in den Händen.
Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah. Dass er sah, wie schwach ich war, obwohl er das besser wusste als jeder andere.
Ich schluchzte ein weiteres „Ich kann nicht mehr"
Aber was wohl? Es ließ ihn kalt.
„Du hattest Recht, okay?", weinte ich. Ich wollte ja echt wütend sein und den Unerreichbaren spielen, aber das konnte ich nicht. Er war der Unerreichbare. Und ich war das Opfer, das bettelnd zu ihm kroch.
„Ewig leben zu wollen war eine scheiß Idee. Ich will das nicht mehr. Ich will gar nichts mehr."
Ich schniefte, nahm die Hände vom Gesicht und blickte zu ihm hoch. Vielleicht war ich ein Schwächling, aber das wollte ich ihm ins Gesicht sagen. Mit meiner letzten Kraft. „Ich würde lieber jetzt und hier sofort sterben, als ein Leben ohne dich zu verbringen. Als dass du mich noch eine weitere Sekunde so ansiehst."
Aber er erwiderte nichts. Einzig sein regelmäßiges Blinzeln und das Heben und Senken seines Brustkorbs bewiesen, dass er überhaupt am Leben war. Aber obwohl ich unsterblich war, brachte er mich um.
„Bitte mach dass es aufhört", flehte ich, stand zitternd auf.
Ich wollte zu ihm, wusste eine einzige Berührung von ihm würde mich heilen. „Bitte, Charlie. Wenn du mich jemals geliebt hast, dann tu jetzt irgendetwas" Ich stand vor ihm, weinte, flehte ihn an, auch nur eine Regung zu machen, aber er tat es nicht. „Nur... irgendetwas. Bitte", versuchte ich es wieder.
Ich machte mich hier lächerlich, das wusste ich. Aber ich bildete mir ein, somit würde ich um ihn kämpfen. Ihm zeigen, dass er mir etwas bedeutete.
War es nicht das, was alle wollten? Jemand, der einen liebte, alles für einen tat, bittere Tränen weinte, allein bei dem Gedanken, ohne ihn zu sein? Genau das tat ich. Aber Charlie schien es nicht genug zu sein.
Diese Erkenntnis war erschütternder als jede vor ihr. Es war mein Ende. Ich konnte nicht mehr. Ich musste hier weg. Zu Jay, Austin, Silas, egal wem, Hauptsache weg von Charlie.
Ich schleppte mich zur Tür, ohne noch etwas zu Charlie zu sagen. Wozu auch? Nicht mal einen Abschied würde er erwidern. Genauso wenig wie meine Liebe.
Meine Annahme, ich könnte mich aus dem Zimmer quälen und mich bei einem meiner Freunde ausweinen, war so falsch wie die Theorie, die Erde sei eine Scheibe.
Ich versuchte es, ich versuchte es wirklich, aber obwohl ich meinen Körper dazu zwang, zur Tür zu gehen, drückte mein Herz mich mit aller Kraft wieder zurück zu Charlie.
Ich kämpfte gegen mich selbst. Und ich gab auf.
Auf halbem Weg zur Tür ließ ich mich einfach auf den Boden fallen, brach weinend zusammen.
Ich bereute meinen Wunsch, denn im Moment würde ich nichts lieber als zu sterben. Dann hätte mein Leid wenigstens ein Ende.
Der Plan für immer mit Charlie zusammen glücklich zu sein war schief gelaufen. Sehr schief. Es war das Gegenteil der Fall. Das war einfach nicht auszuhalten für mich.
Ich würde diesem Schmerz nicht mal in einem menschlichen Leben irgendwie standhalten können, die Ewigkeit war nicht vorstellbar.
Meine Gedanken kreisten wild herum. Ich erinnerte mich an meine Zeit mit Charlie, an unser Glück, sein Lachen, die blicke, die er mir zugeworfen hatte, die Fürsorge, die er bewiesen hatte. Ich erinnerte mich an jeden Moment, indem er mir weh getan hatte, ob absichtlich oder unabsichtlich. Mir wurde bewusst, dass unsere Beziehung von Anfang an aussichtslos gewesen war. Bisher hatte ich geglaubt, unsere Liebe sei stärker als all die Steine, die uns in den Weg gelegt wurden. Ich hatte mich geirrt.
Das hier war das Ende von Charis. Das Ende einer Liebesgeschichte, wie sie nicht mal Dramaautoren hin bekamen. Das Ende meines Herzschlags.
Sobald ich davon überzeugt war, innerlich gestorben zu sein, spürte ich plötzlich Arme, die sich um mich legten.
Ich zuckte erschrocken zusammen, doch als ich spürte, wie sich diese bekannte Wärme in mir ausbreitete, musste ich schlimmer weinen.
Charlie nahm mich hoch und trug mich wie ein Baby irgendwo hin. Meine Wange lag an seiner Brust, dort wo sein Herz schlug. Es arbeitete, als sei er einen Marathon gelaufen.
Sein Duft, dieser Geruch einer dunklen Regennacht, von getrocknetem Zedernholz, der Minznote und einer herben Männlichkeit tröstete mich irgendwie, obwohl er mich durch diese plötzliche Tat doch ziemlich verwirrte.
Vielleicht war ich ihm ja doch nicht so egal.
Charlie schien zum Bett gelaufen zu sein, denn er legte mich sanft daran ab. Als er sich von mir lösen wollte, klammerte ich mich aus einem Reflex an ihn. „Bitte verlass mich nicht", brachte ich schwach hervor.
Und hiermit war es offiziell. Ich hatte meinen Tiefpunkt erreicht. Aber das war mir jetzt mal egal.
Als Charlie sich zu mir legte und mich fest in seinen starken Armen hielt, redete ich einfach weiter, während ich mich an ihn drückte und meine Finger auf Höhe seiner Brust in seinem Shirt festkrallte.
„Ich weiß, dass ich anstrengend bin und nervig und zickig und schwierig, aber ich kann mich bessern. Versprochen. Nur bitte, bitte verlass mich nicht. Ich kann nicht ohne dich, Charlie. Du bist alles für mich. Ohne dich bin ich ein Nichts..."
Ich wollte noch so viele schlechte Dinge über mich sagen, die mir bewusst geworden waren, aber Charlie unterbrach mich. „Das ist nicht wahr"
Als er das sagte, zuckte ich vor Schreck zusammen, obwohl er so sanft geklungen hatte wie lange nicht mehr.
„Ich verstehe dich nicht." Ich schüttelte leicht den Kopf, aber ließ keinen Zentimeter von ihm ab. „Ich weiß, dass ich viel Scheiße baue und dass ich diesen Wunsch geäußert habe, obwohl du das nicht wolltest, aber du kannst doch nicht einfach einen Schalter umlegen und mich plötzlich hassen. Das hab ich nicht verdient..."
„Ich hasse dich nicht"
„Was denn dann?" Ich hob den Kopf, um ihn anzusehen, verzweifelt, verletzlich, vorwurfsvoll.
Er atmete tief ein, ließ hörbar die Luft wieder aus, richtete sich ebenfalls leicht auf.
„Ich liebe dich nach wie vor"
Mein Herz überschlug sich, krachte voll auf die Fresse, aber rappelte sich schnell auf, um weiter zu sprinten, schneller als je zuvor, obwohl es dabei verzweifelt nach Luft hechelte und seine letzten Kräfte mobilisierte.
Ich schüttelte den Kopf, sah Charlie ungläubig an. „Man behandelt niemanden so, den man liebt"
Das sollte er eigentlich wissen...
„Ich weiß", sagte Charlie.
Plötzlich schien er gar nicht mehr emotionslos. Ich konnte so viele Emotionen in seiner Stimme hören, sie ablesen in seinem Blick und erkennen in der Art, wie er mich ansah und festhielt, doch mein Hirn war zu überfordert, um es zu verarbeiten.
Weil er nicht auf die Idee kam, sich endlich zu rechtfertigen, machte ich ihm durch meinen Blick deutlich, dass ich sein Verhalten einfach nicht fassen konnte.
Ich wollte mich von ihm wegrücken und nochmal einen Versuch starten, hier wegzukommen, aber Charlie hielt mich fest und – oh Wunder- natürlich war er stärker als ich.
Bevor ich versuchen konnte, Charlie eine Ansage zu machen, strich er mir mit einer Hand sorgfältig die Tränen vom Gesicht, so als wolle er die Spuren beseitigen, die Beweise dafür, was für ein Arschloch er sein konnte.
„Ich lasse mich ungern verarschen", war dann sein erster Satz, als er mir wieder in die Augen sah. Streng, aber nicht mehr kalt, sondern eher so, als würde er ein Kind tadeln.
Ich wollte ansetzen zu widersprechen, aber er ließ mich nicht.
„Du hast gesagt, dass du aufhörst, dir Gedanken um die Sache mit dem Wunsch zu machen, nachdem ich euch von Raphael erzählt habe. Du hast mir ins Gesicht gelogen, Boris, und ich habe dir geglaubt und vertraut. Und dann eines Nachts, wache ich auf, weil ich spüre, dass sich etwas Gewaltiges verändert hat und du bist nicht da. Klar konnte ich nicht wissen, dass du das getan hast, aber sofort hatte ich dieses Gefühl von bitterem Verrat in mir. Du, die Person, der ich am meisten vertraue, hast mich hintergangen und meine Liebe zu dir und die damit einher kommende Leichtgläubigkeit ausgenutzt, um deinen Willen zu bekommen. Ich meine, du hast gewartet, bis ich schlafe, um dich rauszuschleichen. Und da soll ich mich nicht verraten fühlen? Du hast bei dieser ganzen Aktion mal wieder nur an dich gedacht. Keinen Moment hast du dir Zeit genommen, um wenigstens zu versuchen mich zu verstehen. In meinen fast 800 Jahren habe ich schon viel zu oft so gefühlt, wie du grade. Ich wollte einfach nicht mehr, aber wusste, dass ich es nicht beenden kann, weil das Schicksal noch etwas für mich bereithält. Die Belohnung für all mein Leid. Das bist du, Boris. Du bist das Ziel meines Lebens. Ich wollte das mit dir beenden, sodass dein Tod auch meiner gewesen wäre. Ich war bereit dazu, dein menschliches Dasein mit dir zu verbringen und danach von der Welt abschied zu nehmen. Ich wollte es, endlich diese Erlösung spüren, wissen, was da ist, wenn man nicht mehr an seinen Körper gebunden ist. Aber du hast mir das unmöglich gemacht. Als Gefährten sind wir aneinander gebunden und füreinander verantwortlich. Wir werden zusammen leben, für immer. Aber, da der Tod das Einzige ist, das ebenfalls unsterblich ist, ist das hier unser Tod. Du verstehst das nicht, dafür bist du noch zu jung und ich weiß, ich sollte dir deshalb nicht böse sein, weil du gar nicht wissen kannst, wie das ist, wenn du erstmal so alt bist wie ich. Aber du hättest mir doch einfach ein bisschen vertrauen können. So wirst du all die Erfahrungen, die ich gemacht habe, auch machen müssen. Du wirst die Leute überleben, die du liebst, du wirst dich von Alica, Silas verabschieden müssen, nach einer Zeit, die für sie ein ganzes Leben war und für dich nur ein Wimpernschlag. Du hast da Mächte beschworen, die hätten ruhen sollen. Und wir können nur noch hoffen, dass uns das nicht einholen wird, denn wenn ja, dann haben wir keine Chance mehr, dem Leid zu entkommen."
Ich konnte das mit Boris und Charlie einfach nicht so stehen lassen hahahaXD
Haltet ihr Boris für eine Dramaqueen oder beweist das alles einfach nur, wie sehr er Charlie liebt?
Wer findet noch, Charlie sollte mal so richtig auf die Fresse bekommen für diese Scheiße?
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