17. Austin: Enttäuschung
Nachdem ich Jay wieder in seinen Rollstuhl gesetzt hatte, war ich stumm in die Küche gegangen, in der das reinste Chaos herrschte. Alle rannten herum und suchten nach irgendetwas um Silas' Blutung zu stillen. Der Grund war offensichtlich. Er hatte sich in den Daumen geschnitten und das sah echt böse aus.
Nachdem Silas' Dad vor 5 Jahren versucht hatte, ihn abzustechen, war Silas' Wunde von alleine geheilt. Der Grund dafür war nicht, dass er plötzlich Selbstheilungskräfte bekommen hatte, sondern, dass er kurz zuvor die Gefährtenverbindung zu Raphael vollzogen hatte, die ihm in diesem Moment eine Menge an Macht verliehen hatte, die nur Gefährten kurz nach ihrer Verbindung aufbringen konnten. Man musste sich das vorstellen wie bei einer Explosion. Der Moment des Blutaustausches war der Moment, indem alles in die Luft flog. Danach breiteten sich die Gase, Hitzewellen, Schallwellen noch über Meilen aus, was im Vampirfall einer bestimmen Zeitspanne entsprach, in der die betroffenen sich keinen höheren Mächten wie Leben und Tod unterwerfen zu hatten. Doch das konnte natürlich nicht für immer anhalten, es würde auch gar nicht funktionieren, allein wegen des Energieaufwandes für diesen Vorgang. Deshalb hatte diese Sache nach ein paar Tagen wieder nachgelassen. Raphael und Silas „teilten" sich zwar nach wie vor ihre Kräfte, was hieß, sie konnten die des anderen übernehmen, wenn sie ihn berührten, sie hatten das Potenzial ihrer eigenen Kraft erweitert und sie konnten in Gedanken kommunizieren, doch solche Dinge wie Unsterblichkeit oder Selbstheilung waren nicht mehr drin. Doch dafür hatten sie ja mich.
„Macht Platz, Austin ist da!" Boris schob Charlie und Raphael so gut es ging zurück und ich trat an Silas heran, der mit schmerzverzerrtem Gesicht über dem Spülbecken stand, das schon ganz rot war. Ich überlegte nicht lange, sondern schnitt mir die eigene Handfläche mit meinen Krallen auf, ehe ich mein Blut auf Silas' Wunde presste.
Er zischte schmerzerfüllt und biss ich auf die Lippe, also führte ich seine Hand zu mir und küsste sie, damit er weniger Schmerzen hatte. Seine Schmerzen verschwanden sofort, er atmete erleichtert aus und kurz danach war auch die Verletzung geheilt.
Meine eigene Wunde verschloss sich wieder, Silas und ich wuschen uns die Hände und es war als sei nie etwas gewesen.
Raphael ging sofort zu Silas und gab ihm ganz viele kleine Küsse auf die Stirn und Wange, während dieser sich bei mir bedankte.
„Schon gut, Silas. Wie ist das denn passiert?"
Raphaels reumütiger und schuldbewusster Blick sagte eigentlich schon alles. „Ich wollte ihn nur ein bisschen erschrecken, aber er ist halt richtig erschrocken und beim Brot Schneiden voll ausgerutscht" Er klang, als stünde er kurz vor einem Suizid aufgrund der Schuldgefühle.
Silas drehte sich seufzend zu seinem Freund und küsste seine Lippen sanft. „Ist doch alles gut, Raphi, mach dir keine Vorwürfe."
Dieser nickte leicht, aber man sah ihm das schlechte Gewissen an.
Das Brot, welches nun voller Blut war, konnte man wegschmeißen, nicht mal Raphael aß sowas noch.
Er beschloss, zum Bäcker zu gehen und neues zu holen, Silas und Boris meinten, dann konnten sie gleich auswärts Frühstücken und Charlie wollte Boris begleiten.
Sie alle verschwanden wieder, um sich fertig zu machen und erst, als ich ihnen mit meinem Blick zur Tür folgte, erkannte ich Jay, der im Raum stand und mich aus großen Augen ansah.
Er hatte alles mitbekommen. Und der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Du hast ihn geheilt", hauchte er.
Ich nickte.
Er starrte mich mit offenem Mund an. Dann schob er sich zu mir, nahm meine Hand und musterte sie. Sie sah aus, als sei nie etwas gewesen.
„Wie machst du das?", fragte er, als er zu mir hochsah und meine Hand wieder losließ.
Ich lehnte mich an die Küchenschränke und verschränkte die Arme. „Ich hab dir doch schon erklärt, dass wir die Kräfte aus dem Blut zehren, das wir trinken. Ich trinke unter anderem Reptilienblut. Eidechsen zum Beispiel können abgetrennte Gliedmaßen wieder vollständig nachwachsen lassen. Ich vermute, daher die Heilkräfte."
Jays Augen waren ganz groß, er tat nichts, als vor mir zu sitzen und zu blinzeln.
„Wie funktioniert es?", fragte er weiter.
Ich ahnte schon, wieso er all das wissen wollte, doch ich erklärte es ihm trotzdem. „Ich verschließe mein Blut mit der Wunde, die ich heilen will und so fungiert es eigentlich. Wenn man mein Blut trinkt oder ich jemandem küsse, hat dieser weniger oder keine Schmerzen mehr. Das sind aber eigentlich alle Kräfte, die ich habe. Nicht viel, ich weiß..."
Er unterbrach nicht. „Nicht viel? Du verbringst verdammte Wunder, Austin. Du bist ein Engel!"
Ich schmunzelte, schüttelte aber den Kopf. „Ich bin sicher kein Engel, Jayjay. Und wenn du hoffst, ich kann dich heilen, dann muss ich dich leider enttäuschen. Was Chronisches hab ich noch nie geheilt und das Nervensystem ist ohnehin viel zu komplex, um das mit ein bisschen Blut wieder hinzubekommen..."
Während ich sprach, merkte ich, wie seine Mimik sich veränderte. Es war, als nahm ich ihm all sein Licht, ein Strahlen der Hoffnung, das er bis dahin gehabt hatte.
Ich wollte ihm genau erklären, wieso ich ihm nicht helfen konnte, da ich wusste, wie schwer das jetzt für ihn sein musste. Ich wollte es ja wirklich gerne, Jay hatte es so sehr verdient. Ich wollte ihn mal so richtig wunschlos glücklich sehen, aber ich konnte leider nicht dafür sorgen.
„Okay ich hab's kapiert" Somit unterbrach er mich, ich verstummte und sah ihn leidend an.
„Ich würde dir wirklich gerne helfen, Jay.", versicherte ich ihm.
„Kannst du es nicht wenigstens versuchen?", flehte er.
Ich musste den Kopf schütteln. „Ich müsste mein Blut genau auf deine verletzten Nerven bringen. Dabei kann so viel schief gehen Jay. Ich könnte dein Rückenmark verletzen oder andere Nerven schädigen, du könntest dir eine Infektion holen, weil ich dich dafür aufschneiden müsste und selbst, wenn ich es schaffe, die richtige Stelle zu erreichen, weiß ich nicht, ob es hilft, weil ich bisher nur Oberflächliches geheilt habe. Das Risiko ist einfach zu groß"
Jay schüttelte den Kopf. „Es gibt kein Risiko, Austin. Was könnte denn noch schlimmer sein als das hier?!" Er schlug mit einer Hand auf den Rollstuhl. „...Ich hatte bis eben keinen Funken Hoffnung mehr, weil die Medizin mir nichts zu bieten hat und jetzt finde ich raus, dass du mich heilen könntest, doch zu feige bist, es überhaupt zu versuchen. Sag doch einfach, dass du mir nicht helfen willst. Ich verstehe schon, wir sind keine Freunde sowie du und Silas, aber ich..." Er sah mich so verzweifelt an, was mir beinahe das Herz brach. Ich wollte ihn nicht so sehen. Das war nicht mein JayJay.
„...Ich kann dich bezahlen. Ich werde alles tun, wenn du es nur versuchst..."
„Jay", seufzte ich, um ihn zu unterbrechen.
Ich sah in seinem Blick eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, Angst, sein Leben so verbringen zu müssen.
„Wenn ich die falsche Stelle erwische, könntest du komplett querschnittsgelähmt sein. Wenn ich eine Arterie erwische, könntest du sterben. Ich will das nicht riskieren"
„Klar", schnaubte er. „Du bist so egoistisch, weißt du das? Du beurteilst das alles nur danach, was du falsch machen könntest. Aber was ist mit mir? Ich dachte bis eben, es gibt nur 2 Möglichkeiten für mich. Mein Leben als Krüppel zu verbringen oder zu sterben. Aber du gibst mir eine Chance, Hoffnung. Es ist mir egal, dass ich dabei draufgehen kann. Wenn, dann wäre ich dir sogar dankbar. Ich hab keine Lust mehr auf das alles hier, Austin. Ich bin 19 verdammte Jahre alt. Mein Leben ist im Arsch. Du könntest alles besser machen. Du könntest mir mein Leben zurück geben, du..."
„Ich könnte dich umbringen! Wieso kapierst du das nicht?!"
Ups. Das war wohl etwas zu laut gewesen.
Er war zurück geschreckt und sah mich geschockt an.
Ich seufzte erschöpft. „Tut mir leid, ich wollte nicht so schreien", murmelte ich, seinem Blick ausweichend.
Es war still.
Vorsichtig sah ich ihn wieder an und erkannte, dass er ebenfalls auf den Boden sah. Er sah so traurig aus, gar nicht mehr wütend, sondern nur noch enttäuscht.
Ich kniete mich neben das Rad an seinem Rollstuhl und legte vorsichtig die Hand auf seinen Unterarm. „Hör zu, Jaylin. Ich weiß, du glaubst mir das jetzt nicht, aber es tut mir wirklich leid, dass ich dir nicht helfen kann. Wäre ich mir sicher, dass es dir wirklich eine Hilfe ist, würde ich es machen. Aber du bist mir in dieser kurzen Zeit zu wichtig geworden, um dein Leben oder deine Gesundheit für eine minimale Wahrscheinlichkeit zu riskieren, dass es funktionieren könnte."
Er nahm den Arm unter meinem weg und sah stur gerade aus, als wäre ich gar nicht da, während sich das Licht der durch die Fenster scheinenden Sonne in seinen glasigen blauen Augen spiegelte.
„...Ich will dich nicht verlieren. Deshalb hoffe ich, du verstehst mich ein bisschen. Wenn dem nicht so ist und du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, kann ich das auch verstehen. So oder so ändert sich nichts an meiner Meinung zu diesem Thema. Aber ich akzeptiere es, wenn du jetzt deinen Abstand brauchst"
Er nickte. „Ich will nachhause"
Meinen Schmerz darüber überspielend nickte ich und stand wieder auf, um Chad anzurufen. Ich erklärte ihm, dass Jay nachhause wollte und er meinte, er sei ohnehin gleich hier.
Seufzend legte ich wieder auf und sah Jay musternd an. „Möchtest du etwas trinken oder essen?"
Er schüttelte stumm den Kopf.
„Musst du aufs Klo?"
Er schüttelte stumm den Kopf.
„Kann ich sonst irgendetwas für dich tun?"
Er schüttelte stumm den Kopf.
Scheiße, wieso tat das jetzt so weh? Diese Distanz...
„Hasst du mich?"
Er schüttelte stumm den Kopf.
Ich wollte ansetzen, ihn zu fragen, ob er vorhatte, mich wieder zu treffen, als er mir ins Wort fiel. „Bitte, Austin, ich will grade einfach nicht reden."
Unbewusst biss ich mir auf die Lippe, versuchte es fest genug zu tun, damit der Druck auf meiner Brust verschwand. Was er nicht tat.
Weil er nicht mit mir reden wollte, nickte ich einfach nur.
Die Stille zwischen uns war unerträglich. Sie tat fast schon weh. In den Ohren, im Kopf, im Herzen... Überall. Es war eine Qual.
Ich war erleichtert, als es an der Tür klingelte und ergriff die Flucht vor der Stimmung in der Küche.
Chad lächelte, umarmte mich und sah dann an mir vorbei zu Jay, der grade in den Flur kam.
„Na, hast du mich vermisst?", grinste Chad.
Jay sagte dazu nichts, sondern fuhr auf die Treppenstufe vor der Tür und sah Chad dann erwartungsvoll an.
Er blickte überrascht zu mir. Ich wollte nicht antworten, sondern ging raus und wollte Jay von der Stufe heben, aber er brachte mich durch seinen Blick dazu, eingeschüchtert zurückzuweichen.
Chads Blick sprach Bände.
Ich schüttelte einfach traurig den Kopf, er flüsterte mir zu, dass er das nachher mit mir klären würde und schob Jay dann von der Treppe.
Ohne große Verabschiedung gingen sie und ich wagte es nicht mal, ihnen hinterher zu sehen.
Ich hatte viel zu großen Respekt vor Jay, um seinen Wunsch nicht zu akzeptieren und ich mochte ihn zu sehr, um ab der Sekunde, als ich die Tür schloss, nicht darauf zu hoffen, dass er mir wenigstens eine kleine Nachricht schreiben würde.
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