KOOKUCK - Pretty Boy

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KOOKUCK schreibt für ... Ray-Sai :)

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Pretty Boy

 
Hyunjin will nicht wissen, was das Klebrige unter seinen Füßen ist. Er atmet durch den Mund und versucht sich sein Ziel vor Augen zu halten, während er sich durch die tanzenden Menschen quetscht und nach der Kellertreppe sucht. Es ist viel zu heiß und viel zu dunkel hier drin – und Hyunjin wünschte, er könnte wie jeden Samstagabend mit Saanvi Gesichtsmasken auftragen, RuPaul’s Drag Race schauen und sich nicht mit Minho auseinandersetzen. Dummerweise bekommt man nicht immer was man will. 

Der Treppenabgang in der hintersten Ecke ist eng, kaum beleuchtet und starrt vor Dreck. Hyunjin traut sich gar nicht so genau hinzusehen. Man braucht kein Genie zu sein, um zu wissen, wie schmutzig es hier ist. Aber egal. Augen zu und durch. Hyunjin muss da hinunter zu Minho. 

Im Untergeschoß passiert Hyunjin zwei knutschende Frauen und eine inoffizielle Raucherecke, bevor er die Herrentoiletten findet. Sie sind mit Stickern und laienhaften Graffitis übersät und Gott sei Dank ebenfalls schlecht beleuchtet. Hyunjin will nicht wissen, welche Pilz-Ökosysteme in den Ritzen zwischen den Fliesen wuchern.

„Minho?“, ruft er in den Raum hinein. Der Pissoir-Bereich ist leer, aber ein paar Kabinen sind geschlossen. Der Bass ist hier unten nicht so ohrenbetäubend, als dass man Hyunjin nicht hören könnte. Minho sollte ihn verstehen.

„Bist du hier?“

Jisung hat hoch und heilig geschworen, dass Minho hier unten ist. Er hat keinen Grund zu lügen, allerdings ist Jisung so vertrauenswürdig wie ein CDU-Politiker.

Hinter einer der Türen rumpelt es. Ein Klicken hallt durch den Raum, Schritte ertönen und dann öffnet sich das Schloss. Ein misstrauischer und ungewöhnlich herausgeputzter Minho tritt heraus. Hat er sich etwa Mühe mit seinem Äußeren gegeben? An der Uni trägt er immer nur Sneakers, übergroße Hoodies und zerlöcherte Jeans. Alle seine Kleider sind voller Farbkleckse und sein Rucksack ist mehr Kunstprojekt als Tragetasche. Nicht so heute. Er trägt Lackschuhe, enge schwarze Hosen, ein gebügeltes Hemd, silberne Ringe und ein dunkelrotes Béret. Ein Béret. Der Minho, der Instant Nudeln für eine ausgewogene Mahlzeit hält und ihre Dozent:innen mit „Bro“ anspricht, trägt keine Hüte aus Wolle. Und er ist auch nicht geschminkt. Hyunjin ist von dem Anblick so überrascht, dass er für einen Moment vergisst, wieso er überhaupt hier ist.

„Pretty boy?“ Minho wirkt ebenfalls stutzig, allerdings wohl aus gänzlich anderen Gründen als Hyunjin. „Was machst du hier?“

Gute Frage. Vielleicht wäre die Antwort eine andere, wenn Hyunjin gewusst hätte, dass Minho heute so hübsch aussieht. Hyunjin ist gut darin die kleine Stimme in seinem Hinterkopf zu ignorieren. Die, die ihm sagt, dass rote Scherenschnitte und Farbkleckse eigentlich nichts Schlimmes sind. Je länger er den hübschen Minho ansieht, desto lauter wird sie. Hyunjin schüttelt den Gedanken ab.

„Pretty boy?“, hakt Minho nach.

„Unsere Gemälde wurden gestohlen.“ Hyunjin räuspert sich. Bis eben war er noch panisch, aber das dunkelrote Béret lenkt ihn ab.

„Was?“ Minho runzelt die Stirn. „Welche Gemälde?“

Unsere. Für morgen. Der Lieferwagen, der sie zur Galerie bringen soll, verlässt gerade die Stadt.“

Minho blinzelt. Obwohl der ganze Club nach Marihuana stinkt und die Suffkotze an allen Wänden klebt, wirkt er nüchtern. Seine Augen sind klar und seine Bewegungen präzise. Und trotzdem versteht er Hyunjin nicht.

Was ist eigentlich in dem Koffer, den er dabei hat?

„Was laberst du? Welcher Lieferwagen?“

„Der, der unsere Gemälde letzten Dienstag eingeladen hat, um sie zur Galerie zu bringen.“

„Der verlässt gerade die Stadt?“

Hyunjin nickt. Die Angst nimmt wieder zu. Er sieht den Lieferwagen vor sich, wie das Nummernschild in der Ferne verschwindet und seine Träume mit sich nimmt. Sicher, Hyunjin ist der Jahrgangs-zweit-beste an L’École d’Art, hat reiche Eltern, steht in der Gunst von mehreren Mitgliedern der Société des Artistes Français und würde auch einen anderen Weg finden, seine Kunst an den Mann zu bringen – aber trotzdem. Dass Madame Ruyer seine und Minhos Werke ausgesucht hat, um sie in einer der renommiertesten Galerien in Paris auszustellen und ihre Namen sämtlichen Kunstkritiker:innen und Journalist:innen auf dem Serviertablett zu präsentieren, ist nicht nichts. Es ist seine Chance, Fuß in der Kunstwelt zu fassen – und jetzt droht sie zu zerbrechen.

„Bist du sicher?“ Minho schiebt sich an Hyunjin vorbei zu einem der Waschbecken. Was verheerend ist, denn er sieht von nahem noch besser aus. Seine Gesichtszüge sind zugleich weich und hart, lebhaft und stoisch. Wie eine Statue von Michelangelo, standhaft und überwältigend, obwohl Minho kleiner als Hyunjin ist. Er sollte öfters Makeup und Bérets tragen. Vielleicht könnte Hyunjin dann darüber hinwegsehen, dass…

Plötzlich dreht Minho sich um. Hyunjin zuckt zusammen.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Sorry, was?“ Hyunjin räuspert sich und Minho verdreht die Augen. Er stellt seinen Koffer neben das Waschbecken und wäscht sich die Hände.

„Bist du dir sicher, dass der Lieferwagen unsere Gemälde aus der Stadt fährt?“

„Denkst du, ich würde sonst herkommen?“

„Nein. Aber ich hätte grundlegend nicht erwartet, dass du herkommst. Geht man bei Diebstählen nicht zur Polizei?“

„Schon, aber die Polizei wird nicht schnell genug reagieren können. Das wäre viel zu viel Papierkram und wahrscheinlich sind ihnen die Bilder auch nicht wichtig genug – sie müssen bestimmt irgendwelche Mordfälle aufklären. Und natürlich sind Morde wichtiger als unsere Gemälde, aber wenn die Gemälde morgen nicht in der Ausstellung sind, dann… dann…“

„Dann…?“

Hyunjin beißt sich auf die Lippe. Er sollte sich nicht so hineinsteigern, aber er kann nicht anders. „Unsere Karrieren werden ruiniert, bevor sie überhaupt begonnen haben.“

Minho schüttelt den Kopf. „Sprich für dich selbst. Ich bin schon seit Jahren Künstler.”

„Aber nicht erfolgreich!”, beharrt Hyunjin vehementer als gewollt.

Minho dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich die Hände ab. Hyunjin bildet sich ein, Verletztheit in seinem Ausdruck zu erkennen, aber er ist sich nicht sicher. Dann dreht Minho sich zu ihm und lehnt sich gegen das Waschbecken.

„Wozu bist du hier, pretty boy? Um mich zu beleidigen? Um mich zu fragen, ob ich mit dir Detektiv spiele?“ Wenn Minho es so formuliert, klingt die Situation sehr viel bescheuerter, als Hyunjin sie sich vorgestellt hat. „Ich weiß, mein Charme hat etwas Magisches“, sagt Minho, „aber ich bin kein Zauberer. Ich kann weder Gedanken lesen noch deine Gemälde herhexen und wenn du denkst, dass meine Kunst keine Kunst ist, ist das dein Problem, nicht meins.“

Hyunjin sieht ertappt zu Boden. Minho um Hilfe zu bitten ist logisch (ihn zu beleidigen auch?). Er ist unkompliziert, direkt und ebenfalls von dem Diebstahl betroffen. Natürlich würde Hyunjin die Nacht lieber mit Saanvi oder Maria verbringen, aber er will seine Freundinnen nicht in diesen Schlamassel hineinziehen, wenn es nicht notwendig ist.

„Wie kannst du so gelassen sein?“, fragt Hyunjin. „Sind dir deine Gemälde gar nichts wert?“

Minho seufzt. „So wie es für mich aussieht, gibt es weder Beweise für den Diebstahl noch Grund zur…“

„Ich habe Beweise!“

Hyunjin kramt sein Handy aus der Hosentasche und öffnet die MySecurity-App, wo er auf einer Landkarte den Peilsender, den er auf die Rückseite des Bildes mit der rothaarigen Lilienfrau geklebt hat, verfolgen kann. Gerade parkt der Lieferwagen am Rand von Saint-Denis auf einem abgelegenen Parkplatz. Laut der App steht er seit dreieinhalb Stunden da – was gut ist, denn so haben Hyunjin und Minho eine Chance, die Gemälde zu retten und zur Galerie zu bringen.

Minho nimmt das Handy entgegen und inspiziert die Karte misstrauisch. „Ist das dein Ernst?“, murmelt er.

„Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, pretty boy. Zum Beispiel, dass du einen Peilsender an dein Gemälde geklebt hast?“

„Wieso sollte das nicht mein Ernst sein?”, fragt Hyunjin. „Das sind meine besten Werke. Ich musste sicher gehen, dass sie nicht verloren gehen.“

Bei den Worten „besten Werke“ sehen sie sich an. Minho spricht nicht an, dass Hyunjin schon seit Jahren mit seiner Emotionalität hapert. Dass er bei jeder Feedbackrunde ein Stück besser wird, seine Bilder größer und pompöser, aber niemals gefühlvoller. Dass Madame Ruyer jedes Mal sagt, Hyunjin solle sich ein Beispiel an Minho nehmen und sich von seinem Expressionismus und seiner Leidenschaft inspirieren lassen.

„Das ergibt keinen Sinn“, sagt Minho schließlich und reicht das Handy zurück. „Wieso sollte jemand unsere Gemälde stehlen?“

„Spielt es eine Rolle? Sie sind weg und wir müssen sie zurückholen.“

„Wir?“

In diesem Moment ist sich Hyunjin sicher, dass er einen Fehler gemacht hat. Minho will ihm nicht helfen. Natürlich nicht. Der Typ kümmert sich einen Scheiß um das Studium und die Kunst. Er lebt in den Tag hinein und tut, was er will. Sie mögen sich nicht – tolerieren sich gerade so – und werden es wohl auch nie tun. Wenn die Bilder nicht auftauchen, hängt Minho morgen irgendeinen anderen Mist aus seiner „Kunstsammlung“ in die Ausstellung und es hat sich für ihn erledigt. 

(Das ist nicht wahr, sagt die kleine Stimme in Hyunjins Hinterkopf, aber er ignoriert sie.)

„Tut mir leid”, sagt Hyunjin schwach. Vielleicht hilft ihm Saanvi ja doch. Sie ist zwar klein und würde keiner Fliege etwas zuleide tun, aber sie ist seine beste Freundin. Wenn er lieb fragt, fährt sie bestimmt mitten in der Nacht auf einen abgelegenen Parkplatz und schlägt Leute zusammen.

„Du machst einem das Leben echt nicht leicht, pretty boy.“ Minho richtet sein Béret zurecht und nimmt den Koffer in die Hand.

Du machst es einem auch nicht leicht, will Hyunjin sagen, schluckt es aber herunter. „Darin bin ich gut.“

Minho lächelt. Manchmal ist sich Hyunjin nicht sicher, wie er Minho einschätzen soll. Minho ist kein Unmensch, er ist bloß anders. Nervig. Hyunjin ist Menschen mit Rundungen gewohnt, aber Minho besteht ausschließlich aus Ecken und Kanten.

„Na gut.“

„Na gut?“, fragt Hyunjin. Manchmal schweift er ab, ohne es zu merken.

„Ich spiele Detektiv mit dir. Jisung ist mit dem Auto da, ich kann ihn fragen, ob er uns den Schlüssel leiht.“

Hyunjin blinzelt. Was hat er verpasst? „Sicher?“

Minho zuckt mit den Schultern. „Wenn du weiter fragst, überlege ich es mir nochmal.“

„Sorry, ich bin bloß überrascht“, verteidigt sich Hyunjin.

(Ist er das wirklich?)

(Wenn du lieb fragst, gehe ich für dich durchs Feuer.)

Minho geht voraus, zurück in den Gang, an den knutschenden Lesben vorbei die Treppe hoch. Hyunjin eilt ihm hinterher. Er bekommt gar nicht mehr so wirklich mit, wie düster und klebrig alles ist. Nicht einmal die Hitze stört ihn. Es ist, als ob Minhos Unterstützung seine Panik dämpft und ihm Sicherheit gibt. 

Und trotzdem ist Hyunjin nicht komplett überrascht. Er wusste, dass Minho ihm helfen würde. Irgendwie. Und er weiß auch, dass sie es gemeinsam schaffen, die Bilder wieder zu bekommen. Sie müssen einfach.

***

Es ist der erste Tag an der Uni. Obwohl Hyunjin sein Leben lang darauf hingearbeitet hat, an L’École d’Art zu studieren, ist er nervös. Er trägt seinen teuersten Pullover und hat sich heute Morgen zwei Stunden zurechtgemacht. Es ist ihm ein bisschen peinlich – normalerweise braucht er nicht einmal für Geschäftsessen seiner Eltern so lange –, aber heute ist ein wichtiger Tag.

Zum ersten Mal stehen sie im Schulzimmer, wo ihre Klassendozentin sie die nächsten drei Jahre unterrichten wird. Jeder hat eine Staffelei und eine Leinwand zur…

„Psst, pretty boy“, flüstert es von der linken Seite. Hyunjin versucht es zu ignorieren, aber es gelingt ihm nicht. Er kennt den Typen neben sich nicht, aber er nervt Hyunjin, seit er das Uni-Gelände betreten hat. Er trägt abgewetzte Noname-Sneaker, hat in der Mittagspause einen Joint geraucht und duzt die Dozent:innen.

„Psst.“

„Was?“, fragt Hyunjin. Es kostet ihn viel Mühe, nicht aggressiv zu klingen. Sie müssen als Einstiegsübung eine Blumenvase abzeichnen und Hyunjin präferiert es, dies schweigend zu tun.

„Kannst du mir einen Bleistift leihen?“

„Du hast keinen Bleistift dabei?“ Ungläubig sieht er den Typen an, mit dem er nichts außer seiner koreaniscehn Abstammung gemein hat. Er heißt Minho. Hyunjin kann das Gras noch auf seinen Kleidern riechen und obwohl sie heute weder mit Öl- noch mit Gouache-Farbe gemalt haben, hat er Farbkleckse auf den Händen. Besitzt er keine Dusche? 

„Hab‘ meine Stifte vergessen.“

„Als Kunststudent?“

Minho zuckt mit den Schultern, als wäre das das Normalste der Welt. „Kann passieren.“

Kann passieren. Am liebsten würde Hyunjin einen Streit beginnen, aber das würde Hyunjin nicht gut dastehen lassen, also gibt er Minho den kürzesten, billigsten Bleistift, den er besitzt und beginnt zu zeichnen.

Er ist gut darin. Seit er denken kann, zeichnet er. Seine Eltern sind etablierte Künstler:innen und haben ihn früh gefördert. Sie haben ihn in Bastel- und Malkurse geschickt und in Museen mitgenommen, während andere Kinder Kletterparks besucht haben. Hyunjin muss nicht nachdenken, um die Vase abzuzeichnen. Er sieht sie bloß an, setzt den Bleistift auf das Papier und beginnt. Seine Hand tut es ganz von allein, wie ein Instinkt. Kunst fließt durch seine Adern, so als wäre sie seine Lebensessenz. Weswegen es umso irritierender ist, dass Madame Ruyer kaum eine Reaktion auf seine Zeichnung zeigt.

Sie geht durch die Reihen und wirft neugierige Blicke auf die Leinwände ihrer zukünftigen Schüler:innen. Sporadisch gibt sie Feedback oder spricht Lob aus. Als sie an Hyunjin vorbei geht, nickt sie zufrieden, aber nicht beeindruckt und Hyunjin würde die Reaktion nicht als negativ interpretieren, bliebe sie nicht zwei Schritte weiter vor Minhos Leinwand stehen.

„Beeindruckend“, sagt sie und zieht mit dem Wort Hyunjins Blick an.

Die Blumenvase auf Minhos Leinwand ist nur schwer zu erkennen. Er hat sie vergrößert, sodass sie nur halb auf das Papier passt und eine merkwürdige Komposition entsteht. Außerdem ist sie viel zu dunkel und wild. Der Kontrast ist so intensiv, dass die feinen Nuancen in den Schattierungen nicht erkennbar sind und dass das Ganze wie ein wahlloses Muster wirkt, statt wie das Abbild einer Vase.

„Die Strichqualität ist gut – haben Sie das alles mit einem einzigen Bleistift gezeichnet?“

Minho nickt. Sein wirres Haar fällt ihm in die Augen und es macht Hyunjin rasend. Wie kann er bloß so achtlos und uninspiriert sein? Und sich nicht einmal ordentlich waschen oder frisieren? 

Hyunjin kann es nicht erklären, aber er beschließt in exakt diesem Moment, dass er Minho niemals mögen wird. Komme was wolle. Jemand, der so wenig Respekt vor Kunst hat, hat es nicht verdient, hier zu studieren.

***

„Bist du sicher, dass das Teil fährt?“

Misstrauisch beäugt Hyunjin Jisungs Auto. Es ist ein dunkelroter Citroën aus den 90ern mit mehr Kratzern als Lack und einem knallroten Schriftzug, der auf die Motorhaube gesprüht wurde. J.ONE. Hyunjin will gar nicht wissen, was es damit auf sich hat.

„Wieso sollte es nicht fahren?“, fragt Minho. Er wirft seinen Koffer auf die Rückbank und setzt sich hinter das Steuer. An der Rückspiegel-Halterung baumelt eine kleine Discokugel und im Handschuhfach liegt eine Tube Gleitgel. Hyunjin schlägt das Handschuhfach prompt wieder zu und schwört sich, nichts in diesem Auto anzufassen, bis sie ihre Gemälde gefunden haben.

„Keine Ahnung. Es wirkt einfach, als würde es, als würde es…“ Hyunjin findet nicht die richtigen Worte. Minhos besten Freund zu beleidigen, solange er auf Minhos Hilfe angewiesen ist, scheint ihm keine clevere Idee zu sein. 

„Was?“ Minho schmunzelt. 

„Nichts. Lass uns losfahren.“

Minho sieht ihn einen Moment lang an, bevor er den Kopf schüttelt und den Motor anwirft. Obwohl Jisungs Citroën fürchterlich klingt, scheint er funktionstüchtig. Hustend und röchelnd fährt er aus der Parklücke Richtung Parkplatz in Saint-Denis. 

Die Fahrt ist kurz und holprig und Hyunjin versucht sich zu entspannen. Er fährt mit der Hand über das Handy in seiner Hosentasche und stellt sich den roten Scherenschnitt vor, der hinter der Hülle klemmt. Die kleine, unscheinbare Weinbergschnecke, die er immer wieder hervor nimmt, wenn er etwas braucht, um sich abzulenken. Das LK, das unten rechts auf dem Papier steht. (Die Stimme in seinem Hinterkopf sagt ihm, er solle aufhören sich etwas vorzumachen, aber Hyunjin hört nicht auf sie.)

Als sie Saint-Denis näherkommen, nimmt Hyunjin sein Handy hervor und lotst Minho durch die fremden Straßen. Hyunjin kann sich nicht erinnern, jemals zuvor diesen Teil von Paris betreten zu haben, aber Minho wirkt selbstsicher.

„Nächste rechts. Dann müsste der Parkplatz zu sehen sein.“

Minho setzt den Blinker und spurt ein. Hyunjins Blick bleibt ein paar Sekunden zu lange an Minhos Händen hängen – die Ringe sehen gut an ihm aus –, bevor er sich wieder auf die Umgebung konzentriert.

„Der da?“, fragt Minho.

Hyunjin nickt bestätigend. Der Parkplatz ist nicht so groß, wie es auf der Karte den Anschein macht, allerdings ist er praktisch leer und somit gruseliger, als es Hyunjin lieb ist. Ein gelber Camper und ein verbeulter Volvo stehen verlassen auf der Fläche. Es gibt weit und breit nur zwei Straßenlaternen und ein kleines Überwachungshäuschen am Rand, in dem Licht brennt.

„Sind wir hier wirklich richtig?“

„Ja. Laut App ist er gleich da vorne.“ Hyunjin zeigt durch die Windschutzscheibe auf den Parkplatz, vage in Richtung Volvo.

Minho parkt Jisungs Schrottwagen und stellt den Motor ab. „Sicher, dass wir unsere Gemälde in einen Volvo geladen haben?“

„Ach, leck mich doch“, murmelt Hyunjin und steigt aus.

Minho schmunzelt.

Sie haben die Kunstwerke letzten Dienstag in L’École d’Art eingepackt und dann mit Madame Ruyer und ein paar anderen Student:innen in einen weißen Van geladen. Es scheint unwahrscheinlich, dass sie jemand ausgeladen und in diesen Volvo gepackt hat, allerdings haben sie keine andere Spur.

Draußen weht ein kühler Wind und ein leichter Benzingeruch hängt in der Luft. Hyunjin schaudert, aber er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er will nicht, dass Minho ihn für schwach hält – auch wenn er das wahrscheinlich schon längst tut. Hyunjin hält das Handy hoch und folgt der Spur.

„Das kann doch nicht sein“, murmelt er zu sich selbst. Die App führt ihn ins Leere. Noch drei Meter. Zwei Meter. Ein Meter. Der Volvo steht mindestens zehn Meter weiter links.

Verwirrt bleibt Hyunjin stehen und sieht sich um. „Was zum Teufel?“

Minho schnaubt. „Nein, kein Teufel, bloß Menschen.“ Er kniet sich nieder und hebt den fingernagelgroßen Peilsender auf, der auf dem dunklen Asphalt kaum sichtbar ist.

„Der Dieb hat den Peilsender entdeckt“, flüstert Hyunjin betroffen. Bis eben war er noch hoffnungsvoll, aber ohne die App haben sie keine Anhaltspunkte, um die Gemälde zu finden. Niemals werden sie die Bilder bis morgen aufspüren, geschweige denn zur Galerie bringen.

„Das ist das Ende“, murmelt Hyunjin.

„Nur nicht gleich so negativ.“

„Nicht gleich so negativ?“ Panik steigt in Hyunjin auf. „Meine Arbeit von über fünf Monaten wurde einen Tag vor meiner größten Vernissage gestohlen…“

„Und wir werden sie wiederfinden.“

„Wie kannst du so blauäugig sein?“ Hyunjins Stimme schwankt, aber Minho zuckt nur mit den Schultern. Er steckt den Peilsender ein und sieht sich auf dem Parkplatz um. Sein Blick fixiert erst die Überwachungskameras, dann das kleine Überwachungshäuschen auf der anderen Seite des Parkplatzes.

„Weißt du, pretty boy, nicht jeder auf dieser Welt hat das Privileg, Tatsachen hinzunehmen.“ Minho geht auf das Häuschen zu und Hyunjin läuft ihm mangels Alternativen nach.

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass es immer Lösungen gibt.“

„Hat dir das irgendein Youtube-Guru eingeflößt?“

„Ich habe es mir selbst ausgedacht“, widerspricht Minho. „Wenn man immer alles ernst nimmt und sich ständig Sorgen macht, kommt man im Leben nicht weit. Man verfängt sich in seinen Gedanken, statt aktiv zu werden und etwas zu ändern.“

Hyunjin schnaubt. Er will widersprechen und Minho die Stirn bieten, aber seine Gedanken hängen bei den gestohlenen Bildern fest. Er sieht bereits seine Mutter vor sich, wie sie enttäuscht in der Galerie vor der weißen Wand steht, wo eigentlich seine Gemälde hängen sollten. Ihr ganzer Stolz. Sie hat all ihren Kolleg:innen und Bekannten erzählt, dass ihr Sohn endlich in ihre Fußstapfen treten wird. Hyunjin schaudert bei dem Gedanken.

***

Nicht schon wieder. Hyunjin wirft seinen Rucksack auf den Boden neben seinem Arbeitsplatz und lässt sich auf den Stuhl fallen. Die Skizze auf seinem Pult ist harmlos. Ein gelbes Post-It mit einem Sonnenblumen-Sticker und einer aufgemalten Biene. Neben der Biene befindet sich eine Sprechblase, in der steht: „Ahhhhhh ich hasse gelb“, und in der rechten, unteren Ecke steht wie immer „LK“. Hyunjin weiß nicht, wer oder was LK ist und er will es auch gar nicht wissen.

„Wieder ein LK-Werk?“, fragt Saanvi belustigt und legt ihre Tasche neben Hyunjins.

„Mh-mh“, bestätigt Hyunjin.

Saanvi trägt heute ein hellblaues Hemd und eine Perlenkette, die im Kontrast zu ihrer dunklen Haut leuchtet. Das lange Haar fällt ihr wie ein Wasserfall über die Schultern und ihre vollen Lippen glänzen im Kunstlicht des Schulzimmers. Normalerweise fühlt sich Hyunjin von Saanvis Schönheit nicht eingeschüchtert, aber heute ist ihm alles zu viel. Madame Ruyers Kritiken stehen ihm zum Hals und sein Selbstwertgefühl im Keller.

Hyunjin zerknüllt die kleine Zeichnung und wirft sie weg. Seit ein paar Wochen tauchen sie immer wieder auf. In Hyunjins Schließfach, auf seinem Pult, in seiner Tasche. Hyunjin weiß nicht, wieso sie auftauchen. Sie sind dumm und unnötig – und Hyunjin hat größere Probleme als Bienen, die die Farbe Gelb hassen.

Er stellt das Selbstportrait, das er morgen abgeben muss, auf die Staffelei neben seinem Pult, damit Saanvi es kritisieren kann – aber das Ding ist, es gibt nichts zu kritisieren. Das Portrait ist perfekt. Die Schattierungen stimmen bis ins kleinste Detail, die Proportionen sind makellos und die Farben runden Hyunjins Person ab. Es sieht gut aus. Gekonnt. Und dennoch kann Hyunjin Madame Ruyer bereits sehen, wie sie die Stirn runzelt und den Kopf schief legt. Das macht sie immer, wenn sie Hyunjins Gemälde sieht. Als hätte sie Mitleid, dass ihr zweitbester Schüler so gnadenlos versagt.

„Ich finde, es ist sehr gefühlsvoll“, sagt Saanvi und Hyunjin seufzt verzweifelt.

„Nein, ist es nicht.“

„Es könnte besser sein“, gibt Saanvi zu. „Aber die Aufgabe war ein Portrait zu malen und genau das hast du getan.“

Das ist wahr, allerdings auch das Problem. Madame Ruyer verteilt Aufgaben, Hyunjin liest sie durch, führt sie perfekt aus und bekommt eine unbefriedigende Note. 

„Ich bin einfach zu gefühllos für die Scheiße“, murmelt Hyunjin.

Minho schnaubt belustigt. Hyunjin hat ihn nicht kommen hören, aber er schlendert gerade an ihnen vorbei zu seinem Arbeitsplatz. Er hat sein Selbstportrait schon seit einer Woche fertig und arbeitet nun an privaten Werken. Wie immer trägt er unordentliche Kleidung, riecht ein bisschen nach Gras und ist das absolut Letzte, was Hyunjin gerade gebrauchen kann.

„Was?“, schnauzt er Minho an.

„Irritation und Selbstzweifel sind auch Emotionen, also kannst du kaum zu gefühllos sein.“ Minho setzt sich an seinen Arbeitsplatz, der unglücklicherweise gegenüber von Hyunjins liegt. „Das Problem ist also nicht ein Mangel an Gefühlen, sondern die Unfähigkeit, sie zu kommunizieren.“

„Sei kein Arschloch, Min“, verteidigt Saanvi Hyunjin, aber die Worte sind bereits ausgesprochen. Die Unfähigkeit, Gefühle zu kommunizieren. Wenn das mal nicht die Pointe von Hyunjins Leben ist. Das letzte Mal, als Hyunjin akkurat seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hat, war er fünf.

„Lass gut sein“, winkt Hyunjin ab. „Er ist es nicht wert.“

„Wenn du meinst.“

Hyunjin nickt und Saanvi lächelt ihm aufmunternd zu, bevor sie ihre Sachen nimmt und zu ihrem Pult geht.

Ein paar andere Schüler:innen kommen und gehen im Verlauf des Nachmittags. Die Mittwoche stehen ihnen zur freien Verfügung, um an Projekten ihrer Wahl zu arbeiten, weswegen es keine geregelten Zeiten gibt. Maria töpfert etwas für ihr Wahlfach und Dario arbeitet an einer lebensgroßen Tiger-Skulptur. 

Je länger der Tag dauert, desto müder werden Hyunjins Glieder. Er hat keinen Bock mehr, sein perfektes Bild noch perfekter zu machen, aber während die anderen abends nach und nach nach Hause gehen, bleibt er da. 

Kurz vor neun knurrt sein Magen und veranlasst ihn dazu, sich einen Kaffee und einen überzuckerten Energieriegel aus dem Automaten zu holen. Sein Gehirn läuft auf Stromsparmodus und er ist sich sicher, dass er das gewisse Etwas, das Madame Ruyer gerne von ihm sehen würde, nichts mehr finden wird. Sie hat bis jetzt jedes seiner Werke kritisiert und obwohl sie immer noch im ersten Semester sind und Hyunjin eine Menge Zeit hat, um sich zu verbessern, hält er es nicht mehr aus. Er braucht Lob und Bestätigung. Immerhin hat er sich nicht an L’École d’Art angemeldet, um der ewige Zweitbeste zu sein.

Als er zurück in das Klassenzimmer kommt, steht Minho vor seinem Portrait. Allein der Anblick macht Huynjin wütend. Als ob Minho ihm unter die Nase reiben wollte, dass er besser ist.

„Was tust du da?“, fragt Hyunjin nicht annähernd so bissig, wie er gerne klingen würde. Der Tag war zu lang.

„Wonach sieht es aus?“

„Stören?“

Hyunjin nimmt einen Bissen Energieriegel und Minho lacht leise. Hyunjin ist ein Rätsel, wie Minho alles so leicht nehmen kann. Als wäre die Welt bloß ein Spielplatz und die wichtigste Universität in Paris ein Plastikbagger, mit dem er Sandburgen baut.

„Komm schon, pretty boy, dein Bild von mir kann doch nicht nur schlecht sein.“

„Nenn mich nicht so“, antwortet Hyunjin, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was für ein Bild er von Minho hat und wieso es so aussieht, wie es aussieht.

„Sicher doch, pretty boy.“

Hyunjin stellt sich neben ihn und kippt den Kaffee runter. Obwohl er nochmals vier Stunden an dem Ölgemälde gearbeitet hat, sieht es fast genauso aus wie zuvor. Es ist frustrierend. Hyunjin hat immer geglaubt, er wäre etwas Besonderes. Herauszufinden, dass man es nicht ist, tut weh.

„Okay“, sagt Hyunjin so gleichgültig wie möglich. „Mach mich fertig.“

„Bitte was?“ Minho sieht ihn von der Seite aus an, aber Hyunjin hält seinen Blick auf das Gemälde gerichtet.

„Wieso ist das Gemälde scheiße?“, fragt er.

„Es ist nicht scheiße.“

„Sei ehrlich.“

„Es ist nicht scheiße“, beharrt Minho. Und natürlich hat er recht. Niemand, der wahrhaftig scheiße ist, würde es an L’École d’Art schaffen, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Hyunjin feststeckt und Minho die Antworten zu allen Fragen des Universums zu kennen scheint, weil seine dreckigen Kleider und sein Marihuana-Konsum ihn anscheinend zu einem besseren Menschen machen.

Minho überlegt einen Moment, bevor er sagt: „Du bist gut darin Regeln zu befolgen – besser als alle anderen Schüler:innen. Es ist beeindruckend, ehrlich. Manchmal bin ich ein bisschen neidisch.“

Hyunjin schnaubt.

„Nein wirklich. Es ist frustrierend, eine Hand fünf Mal zeichnen zu müssen, bis sie korrekt aussieht.“

Das ist wahr. Damit hat Hyunjin auch gehapert – als er acht war. Wenn man oft genug Hände skizziert, ist es irgendwann nur noch ein Klacks. Hyunjin könnte problemlos im Halbschlaf einen anatomisch korrekten Menschen zeichnen. Wenn sich Minho etwas mehr Mühe geben würde, könnte er es auch lernen.

„Nun gut, ich bin besser im Hände zeichnen als du, aber es ist ja anscheinend trotzdem nicht gut genug.“

Minho zuckt mit den Schultern. „Gut genug ist relativ. Ich glaube, was Madame Ruyer stört, ist die fehlende Variation. Mit genug Übung kann jeder eine Hand zeichnen.“ Exakt Hyunjins Gedanke. „Also wieso zeichnest du immer nur Hände?“

„Das ist ein Portrait.“

„Ich meinte das als Metapher.“

Dem ist sich Hyunjin durchaus bewusst, aber er sieht es dennoch nicht ein. Eine Hand zu zeichnen ist das eine, sie auf der Leinwand zu positionieren und die Farbigkeit korrekt einzufassen das andere. Es ist anspruchsvoll. Nicht jeder, der Hände malen kann, hat das Potential zum Künstler.

Hat Hyunjin das Potential? Er schüttelt den Gedanken ab. Natürlich hat er es. Sein Leben lang hat er darauf hingearbeitet.

„Aber Madame Ruyer will, dass wir ein Selbstportrait malen”, beharrt Hyunjin. „Nicht, dass wir neue Stilrichtungen erfinden.“

Minho lacht. „Sicher. Aber wenn du immer nur tust, was man dir sagt, wirst du niemals herausfinden, wer du bist.“ Er macht einen Schritt auf Hyunjins Gemälde zu. „Es ist perfekt, Hyunjin, genauso hübsch wie du – aber Kunst hat niemals den Anspruch einfach nur schön zu sein.“

„Natürlich hat sie das.“

„Bist du dir da sicher?“

Minho dreht sich zu Hyunjin um. Seine Haare sind zerzaust, sein übergroßer Pullover hat ein Loch am Kragen und auf dem linken Ärmel klebt ein bisschen Farbe. Er ist so antiautoritär und chaotisch wie immer und dennoch wirkt er standhafter als Hyunjin es je war und vermutlich je sein wird. Minho weiß, wer er ist und was er will, während Hyunjin kaum begreift, wieso er sich fühlt, wie er sich fühlt.

„Ja, ich bin mir sicher“, antwortet Hyunjin, obwohl alles in ihm nein schreit.

„Dann kann ich dir nicht helfen, pretty boy.“ Minho zwinkert ihm zu und Hyunjin wird das Gefühl nicht los, etwas verpasst zu haben.

***

Minho klopft an die Tür des Überwachungshäuschens, während Hyunjin mit geducktem Kopf neben ihm steht.

„Bist du sicher, dass…“

„Was?“ Die Tür geht auf und eine dunkelhäutige Frau in einem schwarzen Security-Anzug steht vor ihnen. Das Häuschen ist leicht erhöht, weswegen sie auf die beiden herunterschaut.

Minho lächelt sie an, als wollte er ihr sein erstgeborenes Kind schenken. „Guten Abend. Wir sind auf der Suche nach einem Lieferwagen, der heute Abend hier war. Sie können uns nicht zufällig weiterhelfen?“

Die Frau hebt eine Augenbraue. Ihre Haare sind in ordentlichen Cornrows zurückgebunden und ihr Eyeliner ist so scharf, dass Hyunjin sicher ist, sich daran schneiden zu können.

„Tut mir leid, das Überwachungssystem ist kaputt.“

„Ist es nicht“, widerspricht Minho und geht einen Schritt auf sie zu. „Nennen Sie mir Ihren Preis. Sie müssen bloß kurz aufs Klo gehen und die Tür offen lassen. Wir machen Ihnen auch keine Probleme.“

Die Frau schnaubt, lässt ihren Blick jedoch über Hyunjin und Minho wandern. Hyunjins Garderobe besteht ausschließlich aus Designerstücken und Minhos heutiges Outfit schindet ebenfalls Eindruck. 

„Ich möchte seinen Ring.“ Sie nickt Richtung Hyunjin.

„Aber natürlich.“ Minho streckt Hyunjin die Hand entgegen, welcher seine instinktiv zurückzieht.

„Weißt du, wie teuer der ist?“, flüstert er Minho zu.

„Hoffentlich teuer genug, um unsere Hinweise zu bekommen.“ Minho wendet sich komplett Hyunjin zu, sodass die Security-Frau sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Sein Ausdruck wird weich und offen und anders als alles, was Hyunjin je an ihm gesehen hat. Er nimmt behutsam Hyunjins Hand in seine und zieht ihm den Ring vom Finger. Seine Lippen formen die Worte „Vertrau mir“ und Hyunjin hat es nicht in sich, sich Minho zu widersetzen.

„Bitteschön.“ Minho reicht der Frau den Ring, welche ihn glücklich zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herdreht.

„Ich geh dann mal pissen.“

„Was für ein Zufall aber auch.“

Minho und die Frau nicken sich zu und dann ist das Überwachungshäuschen leer. Minho schlüpft hinein und setzt sich hinter den Bildschirm.

„Du bist wahnsinnig“, flüstert Hyunjin ihm zu, während Minho überraschend schnell die Steuerung der Kameras findet und damit beginnt das Bildmaterial zurückzuspulen. „Will ich wissen, warum du das kannst?“

„Wahrscheinlich nicht. Ha!“

„Oh mein Gott.“ Der Lieferwagen war tatsächlich vor drei Stunden hier. Die Aufnahme ist zwar verpixelt, aber Hyunjin würde ihn überall erkennen. „Ich liebe dich.“

„Ich weiß, pretty boy.“

„Ich…“ So wollte das Hyunjin eigentlich nicht formulieren, aber Minho lässt ihm keine Zeit, die Worte zurückzunehmen.

„Hier, er ist vor dreieinhalb Stunden hergefahren und hat”, Minho stutzt, „er hat eine Lieferung von jemand anderem aufgenommen?“

Um halb neun betritt eine überdurchschnittlich große Frau mit zwei IKEA-Tüten den Parkplatz. Aus einer der Tüten quillt eine pinke Federboa, aus der anderen etwas Glitzerndes – wahrscheinlich ein Partykleid. Sie geht auf den Lieferwagen zu und klopft an die Fahrertür, woraufhin der Fahrer aussteigt. Es ist eine weiße Frau, im Vergleich zu der IKEA-Tüten-Frau winzig, mit blonden Haaren und muskulösen Schultern. Die beiden umarmen sich, dann führt die Blondine die IKEA-Tüten-Frau zur Ladefläche. Sie öffnet die hinteren Türen und hüpft leichtfüßig in den Wageninnenraum, von wo sie die IKEA-Tüten der IKEA-Tüten-Frau entgegen nimmt. Sie scheint einen Witz zu reißen, denn die Blondine lacht so stark, dass es deutlich auf dem verpixelten Videomaterial ersichtlich ist.

„Was zum Teufel“, murmelt Hyunjin.

„Keine Ahnung“, gibt Minho zurück.

Die Blondine will gerade aussteigen, als sie für einen Moment in der Bewegung verharrt, sich bückt und etwas aufhebt.

„Das ist der Peilsender!“

„Lag er auf dem Boden?“, fragt Minho. Er spult ein paar Sekunden zurück, sodass sie die Szene nochmals ansehen können und tatsächlich, da ist deutlich ein schwarzer Punkt auf der weißen Ladefläche zu sehen. Das muss der Peilsender sein.

„Du hast gesagt, dass du ihn festgeklebt hast?“

„Ja“, stimmt Hyunjin zu. „Ich bin sicher.“

Die IKEA-Tüten-Frau und die Blondine unterhalten sich kurz, dann wirft die Blondine den Peilsender auf den Asphalt und die beiden steigen in den Lieferwagen, um davonzufahren. Danach wird der Peilsender von niemandem mehr berührt, bis Minho ihn vor zehn Minuten aufhebt.

„Und was machen wir jetzt?“, fragt Hyunjin.

Minho spult nochmals zurück, um sich die beiden Frauen genauer anzusehen. Er hält das Video bei einem Frame, in dem die IKEA-Tüten-Frau in die Kamera sieht. Einen Moment lang hält er inne, dann sagt er: „Vertraust du mir?“

(Wenn du lieb fragst, gehe ich für dich durchs Feuer.)

„Was meinst du?“

„Vertraust du mir?“, wiederholt er.

Hyunjin ist sich nicht sicher, aber die Tatsache, dass er in der Not zu Minho gerannt ist und ihn um Hilfe gebeten hat, spricht wohl für sich. Selbst wenn es kein tiefgehendes Vertrauen ist, weiß Hyunjin, dass Minho da ist, wenn es brenzlig wird. (Und vielleicht auch mehr, flüstert die Stimme in seinem Hinterkopf. Der Scherenschnitt in seiner Handyhülle wiegt schwer.) 

„Schätze schon”, sagt Hyunjin. „Wieso?“

„Ich glaube, ich kenne diese Frau“, antwortet Minho. „Aber ich bin mir nur zu 90 Prozent sicher. Vielleicht 92 Prozent.“

„Du kennst sie?“

„Wie gesagt, zu 92 Prozent.“ Minho notiert sich das Nummernschild des Lieferwagens und schließt dann das Video. „Möchtest du ein Risiko eingehen?“

Nein, auf gar keinen Fall. Aber Hyunjin hat nicht wirklich eine Wahl. Ohne Minho ist er aufgeschmissen und wenn Minho glaubt, dass das Risiko ihnen hilft, die Bilder zu finden… Hyunjin seufzt.

„Ja, das möchte ich.“

Minho lächelt. Er sieht wirklich schön aus, wenn er lächelt. Offen und verletzlich und so viel gutherziger, als Hyunjin es sich jemals eingestehen würde.

„Perfekt“, flüstert Minho. Er steht auf und verlässt das Überwachungshäuschen. Hyunjin folgt ihm. Die Security-Frau wird bald zurückkommen und sie sollten dann nicht mehr da sein. Hyunjin fährt mit dem Daumen über die leere Stelle an seinem Mittelfinger. Sein Ring ist wohl verloren.

„Woher kennst du die Frau auf dem Überwachungsvideo?“

„Von nem alten Job.“ Minho öffnet die Autotür und nimmt seinen Koffer von der Rückbank. „Sie ist die Freundin einer Freundin.“ Er öffnet den Koffer und zu Hyunjins Überraschung kommen weder Waffen noch Drogen zum Vorschein, sondern eine Schablone und eine Spraydose mit lila Lack. Hyunjin weiß nicht, was er erwartet hat, aber auf jeden Fall nicht das. Als ob Minho seine Samstagabende damit verbringt, schmuddelige Clubtoiletten zu besprühen?

„Steig am besten schon ein“, sagt Minho.

„Was machst du da?“

„Mein Kunstprojekt für morgen vollenden.“

Er legt die selbstgemachte Schablone auf den Boden. Wie alle seine Werke wirkt sie unsauber und hektisch und obwohl sie Minhos Gesicht abbildet, ist er nur schwer erkennbar. Außerdem ist sie mit einer Größe von A5 eher klein für ein Graffiti.

„Was machst du?“, wiederholt Hyunjin.

„Wonach sieht es aus?“

„Vandalismus?“

„Kunst.“

„Aber…“

Minho sprüht sein Gesicht auf den Boden, begutachtet es einen Moment, nickt zufrieden und räumt dann Schablone und Spraydose zurück in den Koffer. Gerade als die Security-Frau zurückkommt, schießt er ein Handyfoto seines Verbrechens und wirft den Koffer zurück ins Auto.

„Setzt dich schon mal ins Auto, ich bin gleich bei dir.“

„Aber…“

Bevor Hyunjin widersprechen kann, geht Minho zur Security-Frau. „Na bravo.“

Jedes Mal, wenn Hyunjin glaubt, Minho ein klitzeklein wenig näher zu kommen und ihn besser zu verstehen, macht er so etwas. Als würde er es darauf anlegen, Hyunjin zu verwirren. Aber was soll’s. Hyunjin muss Minho weder verstehen noch mögen. Er braucht seine Gemälde, das ist alles.

(Ist es das?)

Resigniert wendet er sich ab und setzt sich auf den Beifahrersitz. Er starrt die Minidiscokugel am Rückspiegel an und fragt sich, was Jisung für eine Person ist. Um Minhos bester Freund zu sein, muss er ähnlich skurril sein. Vielleicht noch skurriler. Wer zum Teufel lagert Gleitgel im…

Die Fahrertür wird aufgerissen, Minho wirft sich auf den Fahrersitz, schaltet, noch bevor er sich angeschnallt hat, den Gang ein und fährt los.

Im Rückspiegel beobachtet Hyunjin, wie die Security-Frau ihnen fluchend hinterher rennt, aber Minho wirkt untangiert. Er trägt ein breites Lächeln im Gesicht und drückt aufs Gaspedal.

„Ich habe dir doch gesagt, dass das Vandalismus ist!“, flucht Hyunjin, der sich am Türgriff festhält.

„Schau in meine Brusttasche“, sagt Minho.

„Was?“

„In meine Brusttasche“, wiederholt Minho und zieht den Wagen in eine scharfe Kurve. Hyunjin will weiterschimpfen und Minho und seine kryptischen Aussagen zum Teufel schicken, aber wie immer knickt er ein. (Du bist schwach für ihn. Gib es endlich zu, Jinnie.) Hyunjin unterdrückt die Gedanken und greift in Minhos Brusttasche. 

Ungläubig zieht er Luft in die Lungen. „Du hast den Ring zurück gestohlen?“ Hyunjin hält seinen Ring in das schwache Licht, um ihn zu betrachten.

Minho grinst, während er einen Gang hoch schaltet. „Ich würde es nicht stehlen nennen. Rechtmäßig ist ein mündliches Versprechen kaum belangbar – vor allem, wenn es in illegale Aktivitäten verwickelt ist. Ich habe bloß zurückgeholt, was dir gehört.“

„Du bist wahnsinnig“, flüstert Hyunjin und steckt sich den Ring zurück an den Mittelfinger. Es ist nicht sein teuerster, aber er hat ihn von seiner Großmutter geerbt und eng ins Herz geschlossen. Er hat nicht erwartet, dass Minho ihn verarscht, aber er hat ebenfalls nicht erwartet, dass er so eine Aktion abzieht, um den Ring zurückzuholen.

(Wenn du lieb fragst, gehe ich für dich durchs Feuer.)

Hyunjin sieht Minho an. Wie ein Verrückter düst er durch die Nacht – einfach nur, weil es ihm in den Kram passt. Weil Hyunjin ihn darum gebeten hat. Weil er sich weigert, sich in seinen Gedanken zu verfangen und stattdessen aktiv wird und etwas ändert.

In diesem Moment versteht Hyunjin auf eine verquere Weise, wieso Minhos Kunst so gut funktioniert. Es ist genau dieses Gefühl, die Freiheit und die unverfrorene Art, das pure Lebensgefühl, ohne Entschuldigung, ohne Rückzugsmöglichkeiten, das seine Kunst ausmacht.

(Und vielleicht ist Hyunjin erstmals in der Lage zuzugeben, dass er neidisch ist.)

***

Die meisten Schüler:innen sind schon gegangen, nur Hyunjin sitzt noch allein vor dem Unigebäude. Die Nacht färbt den Himmel schwarz und eine laue Brise geht. Es ist Sommer, sie haben das zweite Semester beendet, das erste Jahr hinter sich. Sie sind nun offiziell keine Frischlinge mehr. Hyunjin hasst den Gedanken. In zwei Jahren schließt er den Bachelor ab und er ist gefühlt kein Stück besser geworden.

Am liebsten würde er mit Saanvi reden, aber sie ist schon weg. Sie fliegt wie jeden Sommer mit ihren Eltern nach Indien, zu ihren Verwandten an die Küste. Sie hat ihn umarmt und ihm gratuliert – er hat das zweitbeste Zeugnis des Jahrgangs! –, aber es hat nicht gereicht. Hyunjin fühlt sich trotzdem scheiße. Verlassen, nutzlos, talentfrei. Er weiß, dass das nicht stimmt, aber er kann die Gedanken nicht abschütteln.

Ein Jahr Arbeit und kein bisschen Fortschritt. Hyunjin ist immer noch der Perfektionist mit dem hübschen Gesicht und der austauschbaren Kunst. Als Madame Ruyer das erste Mal gesagt hat, seine Gemälde seien inspirationslos, hat er dreißig Minuten auf dem Klo geheult. (Sie hatte recht – allerdings macht es das nicht weniger schmerzvoll.)

„Verdammt“, murmelt Hyunjin. Was macht er überhaupt hier? Er sollte nach Hause gehen – seine Eltern warten mit Champagner und Catering auf ihn –, aber er hat keine Kraft aufzustehen und loszufahren. Es fühlt sich an, als wäre alles, woran er je geglaubt hat, eine Farce und während er die ersten 20 Jahre seines Lebens problemlos damit gelebt hat, kommt er jetzt nicht mehr damit klar.

„Pretty boy?“

Hyunjin zuckt zusammen. Alle Student:innen sollten weg sein. Natürlich ist Lee Minho die einzige andere Person, die trotzdem anwesend ist. Alles andere wäre lächerlich.

„Was willst du?“, fragt Hyunjin schwach.

Minho zuckt mit den Schultern und setzt sich zu ihm auf die Treppenstufen vor dem Eingang. „Muss man immer etwas wollen?“

„Schätze nicht.“

Minho sieht ihn einen Moment lang an und Hyunjin hasst, wie verletzlich er sich fühlt. Er ist sicher, dass Minho sehen kann, wie scheiße es ihm geht – und wenn Hyunjin eines von seinen Eltern gelernt hat, dann, dass es verheerend ist, anderen seine emotionale Schwäche zu zeigen.

„Ich muss nach…“

„Würdest du mit mir…“

Sie verstummen beide. „Du zuerst“, sagt Minho. Er riecht ein bisschen nach Gras und hat einen irritierenden, roten Farbtupfer auf der Wange.

„Ich muss nach Hause gehen“, wiederholt Hyunjin. Aus irgendeinem Grund kann er Minho dabei nicht in die Augen sehen. Sie schweigen einen Moment, bevor Hyunjin hinzufügt: „Und du? Was wolltest du sagen?“

„Nicht so wichtig.“ Minho winkt ab. „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“

„Die Fahrerin meiner Eltern holt mich.“

Minho lacht. „Natürlich tut sie das.“ Hyunjin weiß nicht, was genau daran lustig sein soll, aber er beschließt es nicht zu hinterfragen. Irgendetwas sagt ihm, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.

„Na dann.“ Hyunjin steht auf und Minho tut es ihm nach. Da er eine Stufe weiter oben steht, sieht er auf Hyunjin herunter. Hyunjin muss sich konzentrieren, um nicht den roten Farbklecks anzustarren.

„Schönen Sommer?“, fragt Hyunjin. Er weiß nicht, wie man sich von Erzfeinden-slash-Konkurenten korrekt verabschiedet. Alles erscheint ihm zu viel und gleichzeitig zu wenig.

Minho lächelt – sanfter, als er es sonst tut. „Schönen Sommer“, wünscht er zurück. Er tritt einen Schritt vor und umarmt Hyunjin flüchtig. Hyunjin erstarrt und weiß nicht, was mit sich anfangen, aber bevor er darüber nachdenken kann, lässt Minho ihn wieder los. „Wir sehen uns, pretty boy.“ Er zwinkert Hyunjin zu und geht dann zu dem Motorradständer, um sein Moped aufzuschließen und davonzufahren.

Hyunjin versucht nicht weiter darüber nachzudenken und ruft die Fahrerin an, während sich ein Gefühl in ihm ausbreitet, das er nicht einordnen kann. Es ist nostalgisch und brennend und… sehnsüchtig? 

(Wieso ist Minhos Kunst besser als Hyunjins?)

(Wieso hat er Hyunjin umarmt?)

(Hätte Minho ihn auf dem Moped mitgenommen?)

Als Hyunjin auf der Rückbank des Mercedes sitzt und die Lichter von Paris in der Fahrtgeschwindigkeit verschwimmen, findet Hyunjin einen Notizzettel in seiner Jackentasche. Er ist grün, kleiner als ein Post-It und am unteren Rand wurde ein Wiesel gemalt, das neugierig hervorschaut. Die Pinselstriche sind wild und ausdrucksstark und in der unteren Ecke steht LK.

Hyunjin lächelt unbewusst und behält die winzige Zeichnung in der Hand, bis er zu Hause ankommt, sein atemberaubendes Strahlen aufsetzt und mit seinen Eltern feiert, dass er der Zweitbeste ist.

Auf der Rückseite des Minigemäldes steht mit schwarzem Filzstift geschrieben: THIS WEASEL IS HUNTING PRETTY BOYS. BE AWARE. Und vielleicht möchte Hyunjin nicht darüber nachdenken, dass Minho ihm kitschige Möchtegernkunstwerke unterjubelt, aber vielleicht hängt er das winzige Wieselbild dennoch an die Wand neben seinem Bett.

(Ist das schon Kunst oder nur ein Gag?)

(Wer entscheidet eigentlich, was Kunst ist?)

***

„Eine Drag Queen?“, fragt Hyunjin perplex.

„Mrs Puff Puff. Ich habe früher für sie Bühnenbilder gemalt.“

„Wieso sollte sie unsere Gemälde stehlen?“

Minho biegt in eine Seitenstraße mit schummriger Beleuchtung und überraschend vielen Passanten ein. Obwohl es mittlerweile nach zwei Uhr ist, erblüht die Stadt in leuchtenden Farben.

„Genau das lässt mich zweifeln“, gesteht Minho. Er drosselt das Tempo und hält nach einem Parkplatz Ausschau. Die Neonschilder der Bars werfen bunte Lichter auf sein Gesicht und erinnern Hyunjin an die Farbkleckse aus dem Unterricht. Allerdings lösen die Lichter keinen Unmut in Hyunjin aus. Sie sind schön und verspielt und genauso unberechenbar und flüchtig wie Minho. Hyunjin schüttelt den Gedanken ab und versucht sich stattdessen auf Minhos Worte zu konzentrieren. 

„Mrs. Puff Puff ist ein bisschen crazy, aber auf keinen Fall kriminell.“ Nach einer kurzen Pause fügt Minho hinzu: „Mal abgesehen von gelegentlichem Gras-Konsum. Sie würde nichts stehlen, wenn es nicht zwingend notwendig wäre. Schon gar keine Kunst von harmlosen Studenten.“

„Vielleicht hatte sie nichts mit dem Diebstahl zu tun? Vielleicht hat die Blondine sie mit reingezogen.“

„Vielleicht“, stimmt Minho zu. Er manövriert Jisungs Citroën in eine beeindruckend kleine Parklücke und würgt den Motor ab. 

„Normalerweise tritt Mrs. Puff Puff samstagabends auf. Vielleicht kenne ich jemanden an der Bar, der uns in den Backstagebereich bringen kann. Wenn nicht, müssen wir einen anderen Weg finden.“

Hyunjin nickt. Ihm ist alles recht, wenn sie gleich ihre Gemälde wieder haben. Selbst Backstagebereiche von exzentrischen Clubs mit zu vielen Besucher:innen – und exzentrisch ist das Dornröschen.

Es ist alles, was man sich vorstellt, wenn man die Worte Drag Queens und Nachtclub hört; voll, bunt, laut und queer. Eine kleine Bühne steht in der hinteren Ecke, daneben das DJ-Pult. Der Bass ist so laut, dass er Hyunjin in den Knochen vibriert und der Boden ist unangenehm klebrig. Unzählige Menschen drängen sich aneinander, der Schweiß tropft von der Decke und eine Mischung aus 2010er Pop und Elektro dröhnt aus den Boxen. Nüchtern wirkt das Ganze einschüchternder, als es eigentlich ist. 

„Wir finden sie nie!“, schreit Hyunjin Minho ins Ohr. Reflexartig greift er nach Minhos Hand und verschränkt ihre Finger. Hyunjin ist nicht per se ein Weichei, aber er würde lieber für den Rest seines Lebens Blumenkohl essen, als hier verloren zu gehen.

„Das wird schon“, schreit Minho zurück und drückt Hyunjins Hand. „Komm mit.“

Sie quetschen sich durch die Menschenmasse Richtung Bar, wo eine tätowierte Frau mit blauen Haaren Cocktails ausschenkt. Als Minho sie entdeckt, leuchten seine Augen auf. 

„Jackpot.“

Er quetscht sich die letzten Meter zu ihr vor und grinst sie an. „Liz!“

„Minnie!“ Die blauhaarige Frau überlässt die Kundin, die sie gerade bedienen wollte, ihrem Kollegen und kommt auf sie zu. „Du lebst noch? Wir dachten, du seist verreckt. Wo hast du so lange gesteckt? Wollt ihr einen Drink? Geht aufs Haus.“

„Ich musste einen zweiten Nebenjob annehmen, um das Studium zu finanzieren, da bleibt kaum noch Zeit zum Feiern.“

„Man hat immer Zeit zum Feiern! Stehst du noch auf Caipirinhas?“ Sie greift sich zwei Gläser und Limetten, um die Cocktails zuzubereiten. Hyunjin klammert sich fester an Minhos Hand.

„Natürlich – vor allem wenn du sie zubereitest.“ Minho zwinkert ihr zu und Hyunjin muss feststellen, dass er Minho noch nie mit Gleichgesinnten gesehen hat. In L’École d’Art sticht er hervor, weil seine Art zu grotesk ist, aber hier passt er perfekt. Hyunjin ist sicher, dass alle Anwesenden Hyunjins Kunst genauso verspotten würden, wie Madame Ruyer und Minho es tun. Allein bei dem Gedanken wird ihm flau im Magen.

„Wir sind auf der Suche nach Mrs. Puff Puff — tritt sie heute auf?“

Liz nickt, während sie die Cocktails randvoll füllt. „Klar doch. Du kennst sie: sie übersteht kein Wochenende ohne Auftritt. Heute macht sie was mit Federboas.“

Bei dem Wort Federboas sieht Minho verschmitzt zu Hyunjin, als wollte er sagen, siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass wir das irgendwie schaffen.

Liz schiebt ihnen die Drinks über die Theke und Minho bedankt sich.

„Kannst du uns zu ihr bringen? Wir müssen dringend mit ihr reden.“

Hyunjin bedankt sich ebenfalls und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Er liebt süße-säuerliche Cocktails, allerdings ist er nicht hier, um sich zu betrinken. Minho hingegen scheint das nicht zu kümmern. In gerade mal zwei Schlucken leert er die Hälfte des Glases.

„Habt ihr wen umgebracht?“, scherzt Liz. Sie mustert Hyunjin nüchterner als man es in einem Club erwarten würde. Hyunjin schluckt schwer.

„Wie immer“, sagt Minho trocken.

Liz lacht. „Mrs. Puff Puff tritt gleich auf, aber nach der Show kann ich euch nach hinten lassen.“

„Liz!“, ruft ihr der Kollege zu. „Mach mal vorwärts.“

„Fuck you, Chris“, ruft sie zurück. Dann beugt sie sich zu ihnen vor. „Um Viertel vor wieder hier?“

„Geht klar“, stimmt Minho zu. Er ext den Rest des Cocktails und wirft Hyunjin einen verspielten Blick zu. „Wir tanzen jetzt.“

„Wir tun was?“ Hyunjin hat gerade noch Zeit, um seinen halbvollen Drink auf die Theke zu stellen, bevor er von Minho mitgezogen wird. Plötzlich sind überall Körper und Minhos Hände an seiner Taille. Die tanzende Masse verschluckt sie und Hyunjin muss tief durchatmen, um den Fokus nicht zu verlieren. Die Situation ist berauschender als der Caipirinha; die Lichter sind gedimmt und die Kulisse verworren.

Was passiert hier gerade?

Minhos Berührung ist sanft, als wäre Hyunjin wertvoll. Er bewegt sich im Rhythmus der Musik – und der rationale Part in Hyunjin versteht, dass in einem Club Tanzen die beste Methode ist, Zeit totzuschlagen, aber der emotionale Part brennt bei ihm alle Sicherungen durch. Minho riecht nach Limetten-Cocktail und Regenwald-Parfüm. Sein Körper ist warm und weich und Hyunjin geht zwar regelmäßig mit Saanvi und ein paar Freund:innen feiern, aber er tanzt immer allein. Der unantastbare Schönling, der nur von Weitem bewundert werden darf; der Mann, der alles allein macht, aus Angst die Kontrolle zu verlieren. Unbefleckt. Untangiert.

Hyunjin legt die Arme um Minhos Schultern und schmiegt sich an ihn. Die Kontrolle entgleitet ihm. Er kann es spüren. Mit jeder Bewegung, jeder Note verschwimmt Hyunjins Persona ein bisschen mehr. Sie löst sich an den Rändern auf und verschmilzt mit der Umgebung und lässt ihn jegliches Zeitgefühl verlieren. Vielleicht tanzen sie seit Sekunden, vielleicht seit Stunden.

Hyunjin sieht zu Minho hinunter, in die großen Augen, auf seine glänzenden Lippen. Wenn man genau hinsieht, kann man hinter dem Makeup und den teuren Stoffen den Minho von L’École d’Art erkennen. Den, der zu spät in einem mit Farbklecksen übersäten Hoodie auftaucht, macht worauf er Bock hat und jeden einzelnen von ihnen mit seiner Kunst an der Nase herumführt.

(Hyunjin ist neidisch.)

(Und er ist sich sicher, dass es keine Rolle spielt, was Kunst wirklich ist.)

Er vergräbt seine Hand in Minhos Nacken und zieht ihn zu sich. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals, aber es ist ihm egal. Der Drang Minho zu küssen vernebelt seine Sinne. Er kann den Caipirinha in Minhos Atem bereits riechen und…

„Hello friends and family!“

Hyunjin schreckt zurück, als hätte er sich die Finger verbrannt. Die Leute um sie herum beginnen zu jubeln, als die Musik verstummt und eine schwarze Queen in hellgrünem Kleid die Bühne betritt. Hyunjin bekommt kaum etwas mit und nein, er ist auch nicht ready for the show.

Verlegen wendet er sich von Minho ab, versucht seinen Puls zu beruhigen und seine Gedanken auf etwas anderes zu fokussieren. Die bunten Lichter, der klebrige Boden oder die jubelnde Menge, aber es funktioniert nicht. Seine Gedanken sind bei Minho. Bei seiner sanften Berührung, dem Limettengeruch des Caipirinhas und seinen geschminkten Lidern. Er ist wunderschön und der nervigste Mensch an L’École d’Art und Hyunjin hätte ihn beinahe geküsst.

Hyunjin weiß nicht, ob ihm zum Lachen oder zum Weinen zumute ist.

***

„Das ist wirklich beeindruckend“, sagt die Kunstdirektorin der Société des Artistes Français. Sie sitzt Hyunjin und seiner Mutter am weiß gedeckten Tisch gegenüber – gekleidet in einer goldgelben Bluse und funkelnden Perlohrringen – und hat ein Glas Weißwein vor sich.

„Ich sage doch, er ist ein Wunderkind“, bestätigt Hyunjins Mutter.

Bei diesen Worten zieht sich Hyunjin Magen zusammen. Er überspielt es mit einem verlegenen Lächeln. „Wunderkind ist vielleicht der falsche Ausdruck.“

„Aber natürlich – hinter diesem Talent steckt sicher eine Menge Arbeit. Sie sind ohne Aufnahmeprüfung an L’École d’Art angenommen worden, nicht wahr?“

„Ja, das ist er“, bestätigt Hyunjins Mutter.

Hyunjin nimmt einen Schluck Wein, in der Hoffnung, seine Anspannung würde ein wenig nachlassen. Es ist zu heiß für das Jackett, das er trägt, aber das Image ist die halbe Miete. Wenn man den richtigen Eindruck hinterlässt, spielt die eigentliche Leistung nur noch eine nebensächliche Rolle.

„Ich bin der Zweitbeste des Jahrgangs“, fügt Hyunjin gespielt stolz hinzu.

„Der Zweitbeste“, wiederholt die Kunstdirektorin. „Der Beste ist dieser Monsieur Lee, den mir Madame Ruyer ebenfalls empfohlen hat, nicht?“

Hyunjin nickt, sein Hals ist wie zugeschnürt. „Genau der.“ Wieso zum Teufel reden sie in seinem Kennenlerngespräch über Minho? Kann Hyunjin denn nichts mehr tun, ohne von Minho verfolgt zu werden? Es fühlt sich an, als hinge sein ganzes Leben von Minho ab. Egal was Hyunjin tut, er muss es besser tun als Minho. (Will er das überhaupt?)

„Wohl wahr“, sagt Minhos Mutter. „Allerdings hat Monsieur Lee nicht im Entferntesten so viel Erfahrung und Referenzen wie Hyunjin.“

„Mh-mh“, stimmt die Kunstdirektorin zu. „Wobei die größten Künstler nie für ihre Referenzen bekannt waren. Man stelle sich vor, was aus Van Gogh geworden wäre, wenn er nicht gelitten hätte.“

Die Hände von Hyunjins Mutter verkrampfen sich unter der Tischplatte und Hyunjin sieht schuldbewusst weg. Minho - der Neuzeit Van Gogh, der unter dem System leidet. Sicher, gemessen an seinem gesellschaftlichen Status passt er nicht wirklich in die Société des Artistes Français, aber marketingtechnisch gibt Minho eine Menge her. Aus Hyunjin könnte man höchstens das unantastbare Wunderkind zaubern. Aber wer interessiert sich schon für ein unantastbares Wunderkind, wenn man eine herzzerreißende Außenseiter-Geschichte haben kann?

Das Gespräch nimmt seinen Lauf. Hyunjin verliert zwischen dem dritten und vierten Weißweinglas den Überblick und ist froh, als die Direktorin das Gespräch nach etwa einer Stunde beendet. Sie verspricht ihm und seiner Mutter, dass sie einen besonderen Platz in der Galerie für ihn freihalten und bei ihrer Chefin ein gutes Wort für ihn einlegen werde. Hyunjins Zukunft als Mitglied der Société des Artistes Français solle nichts im Weg stehen. Das einzige Wünschenswerte wäre ein Semesterzeugnis an der Spitze! Es spiele keine Rolle, dass er die ersten vier Semester nur der Zweitbeste war – wenn er es einmal an die Spitze geschafft habe, könne man das Narrativ drehen und wenden wie man will, ohne dass es auffällt. 

Hwang Hyunjin – der beste Student an L’École d’Art*. 

(*In einem von sechs Semestern.)

Als sich die Kunstdirektorin verabschiedet hat und außer Hörweite ist, atmet Hyunjin erleichtert auf. Seine Mutter schüttelt missbilligend den Kopf.

„Du musst an deinen sozialen Fähigkeiten arbeiten. Wäre dein Gesicht nicht so schön, hätte das nach hinten losgehen können.“

Natürlich. Wenn alles andere den Bach hinunter geht, ist Hyunjin wenigstens noch schön. Etwas, wofür er nichts kann und nie etwas getan hat, aber hauptsache es öffnet ihm Türen. Normalerweise macht das Hyunjin nichts aus, aber je näher die Ausstellung kommt, desto gereizter ist er. Alles geht ihm gegen den Strich und nichts ist mehr gut genug. (Nichts war je gut genug, pretty boy.)

„Und jetzt Kopf hoch“, sagt seine Mutter. „Wir wollen doch nicht, dass jemand denkt, du hättest kein Rückgrat.“

„Aber natürlich.“

„Sehr schön. Gehen wir.“ Hyunjin folgt seiner Mutter zum Auto und setzt sich wortlos auf die Rückbank. Er nimmt sein Handy hervor und beantwortet eine Nachricht von Saanvi, bevor er das Gerät umdreht und die Rückseite betrachtet. Er hat eine durchsichtige Hülle, hinter der ein Polaroid von Saanvi an ihrem 21. Geburtstag und ein kleiner Scherenschnitt, auf dem LK steht, steckt. Der Scherenschnitt ist rot und bildet eine Weinbergschnecke ab.

Hyunjin schnaubt. Das ist doch alles lächerlich. In zwei Wochen findet diese blöde Vernissage statt und alle erwarten etwas. Die Kunstdirektorin will Kunstgeschichte schreiben, Madame Ruyer ihre Schüler:innen präsentieren und Hyunjins Mutter, dass er in ihre Fußstapfen tritt. Als wäre er ein Werkzeug, das man beliebig einsetzen kann. Ein wehrloser Mister Perfect, der immer ja sagt.

***

Liz führt die beiden in den Backstagebereich, wo Mrs. Puff Puff verschwitzt zwischen ihren pinken Federboas sitzt und sich ein Gläschen Sekt gönnt. Obwohl Hyunjin nur die Hälfte ihrer Performance mitbekommen hat, weiß er, dass sie gut war. Ihre Bühnenpräsenz hat den ganzen Club eingenommen und zum Zittern gebracht.

„Minnie!“, ruft die Queen, als sie Minho entdeckt.

„Puff Puff“, ruft Minho zurück. Sie streckt ihm den Arm entgegen und er gibt ihr einen Handkuss. „Du warst unglaublich.“

„Und du warst wie vom Erdboden verschluckt. Wo hast du so lange gesteckt?“ Ihr Blick wandert zu Hyunjin. „Und wo hast du diese Sahneschnitte aufgelesen?“

„An der Kunstschule.“

Mrs. Puff Puff macht große Augen, was in Kombination mit ihrem extravaganten Makeup besonders skurril aussieht. Sie ist definitiv die IKEA-Tüten-Frau von der Videoüberwachung, allerdings hat Hyunjin von Sekunde zu Sekunde weniger das Gefühl, dass sie irgendetwas stehlen würde - von Kunst gar nicht zu reden.

„Ich bin Hyunjin“, murmelt Hyunjin.

„Nenn mich Puff Puff.“ Mrs. Puff Puff streckt ihm ebenfalls den Arm entgegen und Hyunjin ahmt Minho nach, in dem er ihren Handrücken küsst. Sie formt ihre roten Lippen zu einem überraschten O und Hyunjins Nacken wird heiß. Das hätte er nicht tun sollen, oder? Minho grinst zufriedener als angebracht und Hyunjin beißt sich auf die Unterlippe.

„Pretty boy und ich brauchen deine Hilfe“, sagt Minho an Mrs. Puff Puff gerichtet, ohne den Blick von Hyunjin zu lösen. Wenn er ihn noch länger anstarrt, wird Hyunjin beginnen, über den gescheiterten Kussversuch nachzudenken. Das will er unter allen Umständen vermeiden, also sagt er: „Ja, bitte, Sie müssen uns helfen”, um die Aufmerksamkeit auf Mrs. Puff Puff zu lenken.

Sie nickt anerkennend. „Aber klar doch. Wo brennt’s?“

„Unsere Gemälde wurden gestohlen”, erklärt Minho. „Und die letzte Spur, die wir haben, führt zu dem Lieferwagen, mit dem du hergefahren bist.

Mrs. Puff Puff überlegt einen Moment. Dann werden ihre Augen wieder groß. „Der Peilsender“, flüstert sie.

„Genau.“

„Ach du meine Güte.“ Sie steht auf und ein paar pinke Federn wirbeln durch die Luft. „Liz? Ist Charlie noch da?“ Ihre Stimme donnert durch den Backstagebereich.

„Huh?“, ruft es zurück. Liz kommt gerade mit einer Kiste Bier aus dem Keller. Die blauen Haarsträhnen kleben ihr verschwitzt am Nacken und das enge Oberteil an ihrer Brust. „Was ist?“

„Hast du Charlie gesehen?“

Liz denkt kurz nach, bevor sie nickt. „Ich glaube, sie ist bei Betty Blue.“

„Im Archiv?“

„Ja.“

„Thanks Darling.“ Mrs. Puff Puff nickt zufrieden. “Wartet einen Moment, ja?” Mit diesen Worten verschwindet sie in einem Nebenraum. Kaum ist es still, kommen wieder die Bilder von Minho in Hyunjins Armen hoch. Hyunjin kann die Limetten riechen und die Wärme an seiner Taille spüren. Minho ist ihm so nah und so schön und…

Mrs. Puff Puff kommt zurück und Hyunjin atmet aus. (Was ist nur los mit ihm?) Die Drag Queen hat eine kleine Blondine mit breiten Schultern an der Hand. Sie wirkt dank Mrs. Puff Puffs High Heels noch kleiner als auf der Überwachungskamera, hat die Haare zusammengebunden und lächelt verunsichert.

„Ihr sucht mich?“

(Konzentration!)

Minho nickt, doch Hyunjin ist nur halb bei der Sache. „Wir sind auf der Suche nach ein paar Gemälden, die in deinem Lieferwagen sein sollten.“ Minho zieht den Peilsender aus der Hosentasche und reicht ihn ihr. „Die Gemälde sollen morgen in einer Galerie ausgestellt werden.“

„Oh!“ Sie lacht erleichtert und dreht den Peilsender zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. „Daher kommt das Ding – ich dachte schon, wir würden verfolgt. Solche Peilsender sieht man normalerweise nur im Fernsehen.“

„Also hast du die Bilder gesehen?“

„Natürlich.“ Charlie antwortet mit so viel Selbstvertrauen, dass Hyunjin unsicher wird. Natürlich? Niemand, der in einen Diebstahl verwickelt ist, gibt offen zu, die gestohlene Ware gesehen zu haben. Oder ist sie nur eine Handlangerin für den eigentlichen Dieb?

Charlie lächelt und Hyunjin fühlt sich wie im falschen Film. Dann reicht sie Minho den Peilsender zurück und sagt: „Ich habe die Gemälde gestern Vormittag in die Galerie gebracht. Sie sollten schon hängen.“

Es ist still. 

Hyunjin blinzelt.

Bitte was?

Hat er gerade richtig gehört?

Selbst Minho scheint fassungslos. Er wirft Hyunjin einen Seitenblick zu, aber er sagt nichts, stattdessen fragt er: „Die Gemälde sind bereits in der Galerie?“

Hyunjin und Minhos Verwirrung scheint von Charlie nicht unbemerkt zu bleiben. Sie lächelt verlegen. „Ja”, sagt sie unsicher. „Wo sollen sie denn sonst sein? Wir hatten den Auftrag, sie bis Samstagvormittag auszuliefern.“

Natürlich.

Natürlich.

Hyunjin ist dumm. So, so dumm. Er kann sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal dermaßen stupide angestellt hat. Als hätte er es darauf angelegt, im Fettnäpfchen baden zu gehen.

Hat er es tatsächlich geschafft, einen Diebstahl zu erfinden und Minho zu zwingen, mit ihm die Nacht zu verbringen? Um Security-Frauen zu bestechen und Caipirinhas zu trinken? Für nichts und absolut wieder nichts?

Hyunjin ist es übel. Sein Körper fühlt sich taub an und alles scheint sich in Zeitlupe abzuspielen. Er sieht Minho, der begreift, was passiert, Mrs. Puff Puff, die Hyunjin interessiert mustert und Charlie, die nicht so recht weiß, was abgeht – und er fühlt sich schuldig. Was hat er nur getan?

„Do I smell drama?“, flüstert Mrs. Puff Puff verschwörerisch.

Die Spannung hält einen Augenblick an. Niemand scheint sich zu trauen, den Elefanten im Raum anzusprechen, bevor Minho plötzlich in Gelächter ausbricht. Er geht in die Knie und vergräbt das Gesicht in den Händen, während sein Lachen den Raum füllt. „Verdammte Scheiße“, murmelt er. Sein Körper zittert vor Lachen. „Verdammte Scheiße.“

Hyunjin weiß nicht, wie er die Reaktion einordnen soll, aber Minhos Lachen ist ansteckend. Obwohl Hyunjin zum Weinen zumute ist, beginnt er ebenfalls zu schmunzeln. 

Verdammte Scheiße. Hyunjin atmet aus. Das kann doch nicht wahr sein.

***

„Ich muss schon sagen, pretty boy - irgendwie habe ich erwartet, dass du ein klein bisschen intelligenter bist.“

„Es tut mir leid…“

Minho lacht nur. Er lacht und lacht und irgendwie hört er nicht mehr damit auf, als wäre die Situation saukomisch. 

„Hast du überhaupt in Erwägung gezogen, zuerst in der Galerie anzurufen, bevor du auf Schnitzeljagd gehst? Oder wolltest du unbedingt mal Polizist spielen?“

Sie verlassen das Dornröschen und machen sich auf den Weg zu Jisungs Auto. Jemand kotzt in den Straßengraben neben dem Eingang und ein paar Männer in Absatzschuhen torkeln an Minho und Hyunjin vorbei.

„Ich habe nicht nachgedacht“, verteidigt sich Hyunjin. „Ich habe bloß den Alarm der Security-App gesehen und Panik bekommen und…“

„Und gedacht, dass der liebe Minho bestimmt nichts Besseres zu tun hat, als dir zu helfen?“ Minho holt seinen Koffer und beginnt sein Gesicht an die Hauswand gegenüber des Dornröschens zu sprühen.

„Es tut mir leid, dass ich deine Zeit verschwendet habe…“

„Verschwendet ist nicht das Wort, das ich verwenden würde.“

Als Minhos lila Gesicht die Hauswand ziert, nickt er zufrieden und verstaut den Koffer wieder im Auto. Dann schießt er ein Foto von dem kleinen Graffiti. Hyunjin hat aufgehört zu hinterfragen, wieso er die Dinge tut, die er tut.

„Steig ein, pretty boy.“ Minho hält ihm die Tür auf. „Ich fahre dich nach Hause.“

„Es tut mir…“

„Steig ein“, beharrt Minho und Hyunjin setzt sich in das Auto.

Er gibt Minho die Adresse seines Elternhauses und schnallt sich an, während er in Gedanken nochmals den Abend durchspielt. Wie er mit Saanvi gemeinsam Abendbrot isst. Wie er sich umzieht und seine Gesichtsreinigungs-Routine erledigt. Wie er sein Outfit für morgen heraussucht. Wie kurz vor Mitternacht plötzlich der Alarm auf seinem Handy losgeht und er alles geben muss, um nicht in Tränen auszubrechen. Wie er sich die erstbesten Kleider anzieht und zu Minhos Lieblingsclub fährt. Wie er Jisung entdeckt und ihn beinahe überrennt, weil er Minho so dringend braucht.

Hyunjin vergräbt das Gesicht in den Händen. Fuck. Er ist so ein Idiot. Zwei Sekunden rationales Denken und er hätte das Problem selbst lösen und seit drei Stunden schlafen können.

Obendrein hätte er Minho beinahe geküsst. Minho. Wofür? Für ein bisschen Freiheit? Weil er es satt hat, ständig alle Regeln zu befolgen und rebellieren will?

(Hyunjin weiß, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Was er nicht weiß, ist, ob er bereit ist, die ganze Wahrheit zu akzeptieren.)

Als Minho vor dem pompösen Vorgarten von Hyunjins Elternhaus hält, wird Hyunjin wieder einmal kläglich bewusst, wie verschieden sie sind. Minho tut ihnen den Gefallen und kommentiert weder den schnörkeligen Gartenzaun noch die perfekt gestutzten Büsche im Vorgarten. Dass Hyunjin Geld hat, wird ihm nicht erst seit heute bewusst sein. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Hyunjin ein Idiot ist.

„Es tut mir…“

„Ich fand den Abend schön“, unterbricht ihn Minho, bevor Hyunjin sich erneut entschuldigen kann. „Ich weiß, du hast ihn dir anders vorgestellt, aber anders muss nichts Schlechtes sein.“

Hyunjin lächelt schwach. Er wünschte, er könnte das so wie Minho sehen. Er wünschte, er könnte mehr so sein wie er. So locker, lebensfroh und unbekümmert. „Lass mich raten“, sagt Hyunjin. „Es ist genau wie mit der Kunst. Man muss sich bloß darauf einlassen.“

Minho lächelt. „Du beginnst es zu verstehen.“

„Ich weiß nicht.“

„Musst du auch nicht. Wenn man wüsste, wie das Leben funktioniert, ginge der ganze Spaß verloren.“

„Spaß“, murmelt Hyunjin.

„Spaß“, bestätigt Minho. „Oder hast du etwas gegen Drag-Shows und Verfolgungsjagden?“

Vor allem habe ich nichts gegen dich. Obwohl du alles verkörperst, was mir gegen den Strich geht. Ist das normal?

„Vielleicht“, sagt Hyunjin ausweichend. „Ich geh dann mal. Wir sehen uns morgen, ja?“

„Wir sehen uns morgen“, bestätigt Minho, doch Hyunjin steigt nicht sofort aus. Er würde sich gerne richtig von Minho verabschieden, aber er weiß nicht wie. Seiner Mutter gibt er einen Luftkuss auf die Wange und Geschäftspartner:innen seiner Eltern verabschiedet er mit einem viel zu festen Händedruck.

(Minho würde er gerne küssen.)

Hyunjin schüttelt den Gedanken ab und öffnet die Autotür. Er entscheidet sich für nichts davon.

„Sag Jisung vielen Dank, dass wir sein Auto ausleihen durften.“

„Werde ich tun.“

Hyunjin nickt und schließt die Tür. 

Obwohl es bereits halb vier ist und er in wenigen Stunden wieder aufstehen muss, bekommt er kein Auge zu. Hellwach liegt er auf seiner zu teuren Matratze in seinem zu großen Zimmer mit den reinweißen Wänden und den Ölfarben auf dem Designerregal.

Persönlichkeit haben nur zwei Dinge in diesem Raum - ein Wiesel, das pretty boys frisst und ein Weinbergschnecken-Scherenschnitt in seiner Handyhülle.

Kann Hyunjin jemals Minhos Gelassenheit erreichen? Gibt es eine Welt, in der Hyunjin unperfekte Bilder malt und darauf scheißt, was Kunstdirektor:innen und Dozent:innen von ihm denken?

Vielleicht. 

Hyunjin hofft, dass es in dieser Welt auch einen Minho gibt, der ihm das Leben schwer macht. Er beschließt, nicht zu hinterfragen, was dieser Wunsch bedeutet.

Hyunjin trägt sein teuerstes Chanel-Hemd aus weißer Seide. Er hat sein schulterlanges Haar mit einer Schleife halb nach oben gebunden und sich stärker als sonst geschminkt. Ein verruchter Smokey-Look, der die perfekte Gratwanderung zwischen sexy und professionell darstellt.

Die Vernissage beginnt in 60 Minuten. Eigentlich sollte er mit Saanvi, der Kunstdirektorin und seiner Mutter beim Aperitif sein. Stattdessen steht er mit einem Topf roter Farbe vor seiner Blumenportrait-Serie in der Galerie. Alle drei Werke sind mit Öl auf Leinwand gemalt und bilden, umrahmt von Lilien, Wildrosen und Dahlien, je eine schwarze, eine westasiatische und eine rothaarige Frau ab. Sie sind so plastisch gemalt, dass Hyunjin das Bedürfnis überkommt, sie anzufassen, über ihre Haare zu streichen und an den Blumen zu riechen. Objektiv betrachtet könnte Hyunjin nicht besser werden. Nicht präziser und nicht detaillierter. Diese Bilder sind Hyunjins Magnum Opus, doch er hasst jeden einzelnen Pinselstrich daran.

Einmal atmet er noch tief durch, dann taucht er den Pinsel in die billige Acrylfarbe und malt der rothaarigen Frau einen Schnauzer auf.

Hyunjin lächelt.

(Das ist Kunst.)

***

Mit einem Stück Malertape klebt Hyunjin den Peilsender auf die Rückseite des vordersten Gemäldes. Sie sind alle drei in Schutzhüllen gepackt und bereit zum Transport. Obwohl nichts an der Situation nervenaufreibend sein sollte, fühlt sich Hyunjin, als würde er jeden Moment explodieren. 

Minho ist bereits fertig. Wie die Schüler:innen aus den höheren Semestern hat er seine Ausstellungsstücke im Lieferwagen verstaut und packt nun seine Sachen zusammen. Als er Hyunjin wie festgefroren vor seinen Werken stehen sieht, hält er inne.

„Brauchst du Hilfe?“

„Mhm?“

„Brauchst du Hilfe?“, wiederholt er.

„Oh.“ Hyunjin versucht seine Nervosität abzuschütteln. „Nein nein, geht schon.“ Minho wartet einen Moment, wohlwissend, dass Hyunjin nicht die Wahrheit gesagt hat. Manchmal fragt sich Hyunjin, wieso ausgerechnet Minho ihn so leicht durchschaut. Seinen Eltern ist nie aufgefallen, wenn es ihm schlecht ging.

„Vielleicht brauche ich doch Hilfe?“, meint Hyunjin zögerlich.

Minho nickt. Ohne ein Wort der Beschwerde hilft er Hyunjin die schweren Gemälde hochzuheben, in den Lieferwagen zu befördern und mit Gurten zu befestigen, sodass sie während der Fahrt nicht stützen können.

„Danke“, sagt Hyunjin, als sie fertig sind.

„Für dich doch immer, pretty boy.“

Hyunjin will ihm sagen, dass er ihn nicht so nennen soll, aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Hyunjin wehrt sich aus Gewohnheit dagegen, aber wirklich stören tut ihn der Kosename schon seit Monaten nicht mehr.

„Das meinst du nicht ernst“, sagt Hyunjin.

„Wieso sollte ich es nicht ernst meinen?“

Weil man Leuten nicht immer helfen kann oder will und es lächerlich ist, es versprechen zu wollen. Es wird ein Tag kommen, an dem Minho keine Zeit für Hyunjin hat – sei es um ihn zu nerven oder ihm zu helfen.

Als deutlich wird, dass Hyunjin keine Antwort weiß, fügt Minho hinzu: „Wenn du lieb fragst, gehe ich für dich durchs Feuer.“

Hyunjin schüttelt den Kopf. „Das ist lächerlich.“

„Nun“, Minho zuckt mit den Schultern, „ich bin lächerlich.“

Hyunjin schnaubt. Manchmal ist er kurz davor, Minho zu fragen - zu fragen, wieso er ihm unter falschem Namen dumme Zeichnungen unterschiebt. Zu fragen, wieso er sich die Mühe macht Hyunjin zum Lächeln zu bringen. Zu fragen, wieso er ihm mit kleinen Kunstwerken den Alltag versüßt.

(Na wieso wohl?)

(Weil er besser ist. Weil er es dir unter die Nase reiben will. Weil er dich genau wie alle anderen enttäuschen wird.)

(Hyunjin will die Stimme zum Schweigen bringen, aber er hat nicht die Kraft dazu.)

Die Illusion ihrer Feindschaft ist so fragil, dass ein Windstoß reichen würde, um sie zum Zerfallen zu bringen – und es macht Hyunjin Angst. Was wartet auf der anderen Seite dieser Feindschaft? Wer ist Hyunjin, wenn der rote Scherenschnitt in seiner Handyhülle nicht mehr von LK, sondern von Minho ist?

„Wir sehen uns morgen“, sagt Minho und wirft sich seinen abgewetzten Rucksack über. „Denk nicht zu viel über unsinnige Dinge nach.“

„Tu ich nicht.“

„Ist klar.“

„Ich meins ernst!“

„Ich doch auch.“ Minho zwinkert ihm zu. Er verschwindet im Abendrot und Hyunjin wird das Gefühl nicht los, dass die Illusion sehr sehr bald zerbrechen wird.

***

Hyunjin kann die Blicke seiner Mutter spüren. Sie glühen förmlich, die Frage nach dem Wieso liegt ihr auf der Zungenspitze, aber solange die Galerie voller Besucher ist, wird sie Hyunjin nicht blöd anmachen.

Hyunjin ignoriert die Blicke. Er fühlt sich großartig, sein Lächeln will nicht mehr verschwinden und sein Selbstbewusstsein ist so groß wie seit Monaten nicht mehr. Vielleicht hat er den dümmsten Fehler seines Lebens begangen, aber es ist ihm egal.

Seine mit Rot verunstalteten Gemälde hängen neben den Werken anderer Nachwuchskünstler:innen direkt im Eingangsbereich. Hyunjin betrachtet sie - die abstrakten Tulpen von Juliette aus dem fünften und die expressionistischen Stadtgemälde von Maurice aus dem sechsten Semester.

Und den QR-Code von Minho.

Natürlich hat Hyunjin mit einem merkwürdigen Ausstellungsstück gerechnet – doch statt einer abstrakten Skulptur, einer skurrilen Collage oder einem expressionistischen Gemälde hängt auf der großen weißen Fläche ein winzig kleiner QR-Code.

Darunter steht: Minho Lee, 2022-2023, „Wer bin ich?“

Hyunjin zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und scannt den Code. Eine Website mit den Worten FINDE MICH öffnet sich. Hyunjin runzelt die Stirn. Er sieht sich um. Juliette erklärt gerade einem alten Mann im Anzug ihre Tulpen und Hyunjins Mutter steht unzufrieden mit einem Glas Sekt in der Ecke, aber Minho ist nicht da. Hyunjin tippt auf den Schriftzug und wird zu einem Archiv weitergeleitet, dessen Layout an Instagram erinnert. Hunderte Bilder sind darin gespeichert. Alle sind Fotos von Minhos lila gesprühtem Gesicht. Minhos Gesicht auf Wänden. Minhos Gesicht auf Pflastersteinen. Minhos Gesicht auf Lampenschirmen.

Hyunjin schnaubt. Das oberste Bild ist das vom Parkplatz gestern Abend, aber die Bilder weiter unten sind schon Monate alt. Hyunjin erkennt eines als ein Kunstprojekt aus dem zweiten Semester, das Minho nach der Bewertung anscheinend mit seinem Gesicht verunstaltet hat. Die für ein solches Projekt erforderliche Hingabe ist für Minho passend und untypisch zugleich.

Wer bin ich?

Hyunjin hat keine Ahnung, wer Minho ist, aber…

„Jinnie!“ Hyunjin zuckt zusammen, als Saanvi ihn am Arm packt. Sie wirkt ungewöhnlich zerzaust und aufgeregt. In ihren Augen glänzt etwas Chaotisches.

„Alles okay?“, fragt Hyunjin besorgt.

„Warst du schon im hinteren Teil der Galerie?“

„Nein, wi…“

„Das musst du sehen.“

Bevor Hyunjin protestieren kann, zieht Saanvi ihn mit. Obwohl sie ein ganzes Stück kleiner ist, hat sie eine Menge Kraft.

„Was ist denn los?“ Er rempelt versehentlich eine Besucherin an, aber Saanvi nimmt keine Rücksicht. Sie eilt mit Hyunjin durch die Galerie, als hinge ihr Leben davon ab.

„Da hängt ein Bild von dir.“

„Ja, ich weiß, das ist doch der Sinn dahinter, dass ich meine…“

„Nicht deine Bilder, ein Bild von deinem Gesicht.“

„Meinem Gesicht?“

Hyunjin ist sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hat, aber bevor er nachhaken kann, bleibt Saanvi vor einem zwei auf zwei Meter großen Gemälde stehen. Als Hyunjins Blick darauf fällt, bleiben ihm die Worte im Hals stecken.

Das Kunstwerk ist eine Kombination aus Collage und Gouache-Gemälde. Ein gemalter Sonnenuntergang vermischt sich mit aus Zeitungsartikeln ausgeschnittenen Sternen und Monden. Im Vordergrund ist der Oberkörper einer abstrakten Gestalt gezeichnet. Sie hat langes Haar und trägt eine Bluse, die sich mit den Farben des Hintergrunds vermischt – als wäre die Person Teil eines Sonnenuntergangs am Sternenhimmel.

Hyunjin kann eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich und dem Gemälde erkennen, aber nicht genug, um…

„Lies den Text“, fordert Saanvi.

Hyunjin tritt näher, um die Beschriftung auf der kleinen Tafel links unter dem Kunstwerk zu lesen. Als er den Namen sieht, bleibt sein Herz kurz stehen.

Lee Know, 2023, „Hwang Hyunjin – Ich möchte nur dein sein.“

Hyunjins steht da wie angewurzelt. Er liest den Text wieder und wieder, aber auch beim fünften Mal bleibt der Inhalt unverändert. Da steht immer noch Hwang Hyunjin gemalt von Lee Know.

Hyunjin tritt einen Schritt zurück, um sich das Gemälde in seiner ganzen Pracht anzusehen. Die Rottöne, die in funkelnde Sterne überlaufen und mit Hyunjins Abbild verschmelzen, so als wäre Hyunjin Teil davon. Seine Schönheit genauso intensiv wie warme Sonnenstrahlen und so endlos wie der Nachthimmel.

Hyunjin spürt Saanvis Blick auf sich. Sie kennen sich lange genug, dass sie nicht aussprechen muss, wie absolut irre das ist. 

„Er ist wahnsinnig“, flüstert Hyunjin.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass du genau das an ihm magst – er will nur dein sein?“ 

Anscheinend. Hyunjin will es nicht wahrhaben, aber je länger er sich einredet, dass er sich alles nur einbildet und dass Minho ihn gar nicht mag, desto lächerlicher wird es.

(Kann es sein, dass selbst Zweitbeste ein bisschen Liebe verdienen?)

„Das muss ein Missverständnis sein…“, beharrt Hyunjin halbherzig.

Saanvi lacht. „Ein Missverständnis?“ Sie sieht ihn herausfordernd an. „Ist das dein Ernst? Der Typ malt dich und stellt das Ergebnis an der wichtigsten Vernissage seiner Karriere aus – und du willst mir erzählen, dass das ein Missverständnis ist?“

Hyunjin kriegt den Mund nicht auf. Natürlich ist es kein Missverständnis. Nicht einmal Hyunjin ist dumm genug, um diese Botschaft zu missverstehen. Aber er kann nicht… er kann…

Finde mich.

Hyunjin leckt sich über die Lippen. Wo ist Minho gerade? Ein nervöses Kribbeln fährt ihm über den Körper.

„Hast du ihn irgendwo gesehen?“, fragt er leise.

Saanvi schüttelt den Kopf. „Bis jetzt noch nicht.“ Sie sehen sich um, aber nach wie vor sind nur Leute in Abendkleidern und Anzügen zu sehen. Hyunjins Mutter ist bereits beim vierten Sektglas.

„Ich muss ihn suchen.“

„Ich halte dir den Rücken frei.“

Hyunjin wirft einen letzten Blick auf die Sonnenuntergang-Sternenhimmel-Collage seines Gesichts und atmet tief durch. „Okay. Danke!”

„Für dich doch immer.” Saanvi lächelt ihm aufmunternd zu und dann verlässt Hyunjin die Galerie – drei Stunden bevor die Vernissage endet.

***

Dass Hyunjin Minho auf der gleichen Clubtoilette wie gestern findet, ist stimmig und irritierend zugleich. Es ist immer noch heiß und klebrig – und wer zum Teufel geht Sonntag abends feiern? –, aber Hyunjin lässt sich nicht davon ablenken.

Minho wäscht sich gerade die Hände. Diesmal trägt er kein gebügeltes Hemd, sondern eine lila Seidenbluse, goldene Ohrringe und schwarze Anzughosen. Am rechten Handgelenk hat er einen gelben Farbklecks und die Fingernägel sind schwarz lackiert. Als er Hyunjin durch den verschmierten Spiegel entdeckt, lächelt er.

„Pretty boy.“

„Lee Know.“

Minho lächelt breiter. „Du hast mein Gemälde also gesehen.“

Als ob Hyunjin für diese Schlussfolgerung das Gemälde gebraucht hätte. Minho steckt ihm seit fast zwei Jahren kleine Kunstwerke zu, da macht dieses eine Große keinen Unterschied mehr. (Oder doch? Ist Hyunjin hier, weil er die Caipirinhas und die Drag Queens nicht vergessen kann oder weil das Gemälde ihm endlich den Mut gegeben hat, sich Minho zu stellen?)

Hyunjin durchquert den Raum und lehnt sich an die Wand neben dem Waschbecken. Wie so oft riecht Minho ein bisschen nach Marihuana, vermischt mit seinem Regenwald-Parfüm.

Hyunjin hat sich auf dem Weg hierher Gedanken gemacht, was er sagen will. Dass er Minho fragen will, wieso er das Bild von ihm gemalt hat, ob er schon weiß, wer er ist und wieso er gerne Hyunjins wäre. Aber als er jetzt neben ihm steht, sind all diese Fragen auf einmal nichtig. Wahrscheinlich will Minho ihn bloß irritieren, genau wie immer. Genau wie an jenem ersten Tag, als er die Bleistifte vergessen und hässliche Vasen gemalt hat.

(Waren die Vasen wirklich hässlich? Oder war Hyunjin bloß zu stolz und nicht in der Lage sich einzugestehen, dass er neidisch ist?)

„Ich beneide dich“, sagt Hyunjin.

Minho trocknet sich die Hände ab. „Ich weiß. Du bist nicht besonders subtil“, erwidert Minho und wirkt kein bisschen beeindruckt.

„Und du nicht besonders nett.“

„Habe ich nie behauptet.“ Minho lehnt sich neben Hyunjin an die Wand und sieht ihn an. Er wirkt glücklicher als sonst. Schöner. Hyunjin kann seine Gedanken nicht ordnen, wenn er Minho in diesen Kleidern sieht. Es sollte verboten sein, so gut auszusehen.

„Wieso trägst du im Unterricht nie solche Kleidung?“, fragt er, um die Stille zu durchbrechen und seine Gedanken loszuwerden.

Minho zuckt mit den Schultern. „Wieso sollte ich jeden Morgen Zeit verschwenden, um mich fertig zu machen und mich in unbequeme Kleider zu zwängen, wenn ich eh den ganzen Tag nur in der Uni sitze und male?“

Weil ich dich gerne in diesen Kleidern sehe. Obwohl Hyunjin die Worte nicht ausspricht, scheint Minho sie laut und deutlich zu hören.

Er nimmt Hyunjins Hand und verschränkt ihre Finger. Seine Hände sind wirklich verdammt schön. Klein, aber stark und… Hyunjin schüttelt den Gedanken ab.

„Du bist herzlich eingeladen, mich zu jeder Zeit hier im Club zu besuchen“, sagt Minho. „Ich besitze noch eine Menge andere hübsche Outfits.“

„Ich weiß nicht“, antwortet Hyunjin ausweichend. „Dieser Club ist nicht besonders schön.“

„Wenn du lieb fragst, ziehe ich die Outfits auch anderswo an.“

Minho kommt näher und Hyunjin wird es heiß. Er weiß nicht, was er erwartet hat. Minho war und wird nie wie Hyunjin sein. Er ist anders, skurriler, nerviger – aber Gegensätze ziehen sich an, oder?

Hyunjin nimmt seinen Mut zusammen und vergräbt seine Hand in Minhos Nackenhaaren. „Ich hasse dich“, flüstert er.

Minho schmunzelt. „Aber natürlich, pretty boy.“

Hyunjin lehnt sich vor, aber bevor er Minho küssen kann, geht die Tür auf.

Hyunjin zuckt zusammen. Ein langhaariger Typ mit einem roten Trainingsanzug torkelt Richtung Pissoir. Hyunjin kann nicht anders als zu lachen.

„Romantisch, findest du nicht?“, fragt Minho.

Hyunjin will sich beklagen, aber es wäre unsinnig. Minho ist kein Mann, den man auf Eiffelturm-Dates mitnimmt und seinen Eltern mit einem Gläschen Champagner beim Sonntagsbrunch vorstellt. Er ist jemand, der Ringe stiehlt und einen auf der Clubtoilette küsst. Und Hyunjin wünschte, er müsste sich nicht mit Minho auseinandersetzen, hinterfragen, woher sein Bedürfnis nach Perfektion und der Hass gegenüber dem Wort „Zweitbester“ kommen, aber man bekommt nicht immer, was man will. Das Gute ist, dass das nicht zwingend etwas Schlechtes sein muss.

Der Typ im roten Trainingsanzug kotzt in das Pissoir und Hyunjin beschließt, dass die Imperfektion in diesem Moment genau richtig ist. Er lehnt sich erneut vor und presst seine Lippen auf Minhos.

Und Minho erwidert den Kuss.

© Juni 2023
KOOKUCK
Betagelesen von MaybeAnotherWraith

Anmerkung: in meinem zugelosten Wunsch sollte Minhos Gemälde von Hyunjin “Hwang Hyunjin - ego iustus volo esse tuum” heißen. Da ich während dem Schreiben gemerkt habe, dass dieser lateinische Titel nicht zu Minhos Charakter passt, habe ich mir die Freiheit genommen, das Gemälde mit der deutschen Übersetzung zu betiteln. Ich hoffe mein Wichtel-Kind vergibt mir :)

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