Zeitspiel
Sonntagnachmittag. Heute war es endlich soweit und Lukas wollte mich in Bielefeld besuchen kommen. Zwar war er schon sehr oft bei mir Zuhause gewesen, doch in dieser Woche war da eine ganz entscheidende Kleinigkeit anders, als bei den Malen zuvor. Es war die erste Woche, die wir gemeinsam als Paar verbringen wollten.
Seit über einem Jahr schon hatte es immer mal wieder Küsse und Berührungen zwischen mir und Lukas gegeben. Mit uns, das hatte eigentlich mehr so aus Spaß angefangen. Auf Partys nach Konzerten. Er betrunken, ich high.
Doch ganz schleichend und immer häufiger geschah es auch dann, wenn wir nüchtern und alleine waren. Monatelang, ohne dass wir je darüber gesprochen hatten oder dass es zumindest mir so richtig bewusst gewesen ist, was es genau war, was wir da hatten. Wahrscheinlich wusste ich damals schon, dass ich ihn liebte. Doch ich war eben schon immer perfekt darin gewesen, mich selbst zu verarschen und hielt diese Gefühle mit Gewalt unter der Oberfläche gefangen.
Und dann, vor zwei Wochen, kam der große Knall. Ich war spontan in Berlin gewesen, einfach nur so, um einen Abstecher in unsere Bar zu machen. Schon als ich die Bar betreten hatte, war mir dieses Mädchen aufgefallen, an dessen Namen ich mich heute schon gar nicht mehr erinnern konnte. Verdammt heiß war sie gewesen und ihr Blick alleine hatte mir schon verraten, dass sie mich wollte. Je betrunkener ich wurde, desto mehr wollte ich sie dann auch.
Natürlich hatte ich sie nicht direkt angebaggert. Nicht inmitten der ganzen Fans, sondern ganz unauffällig über einen Zettel, der ihr mit dem nächsten Getränk gebracht wurde.
Im Lager dann, kurz bevor meine Hose zu Boden fallen konnte, hatte dann plötzlich Lukas hinter mir gestanden und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete gesagt, dass wir sofort miteinander über was wichtiges reden müssten.
Das Mädchen war in Sekundenschnelle verschwunden, Lukas hatte sich auf einen Bierkasten gesetzt und aus heiterem Himmel angefangen, hemmungslos zu schluchzen. Er gestand mir seine Gefühle und sagte, er könne das nicht mehr. Er könne dieses unverbindliche Rummachen mit mir nicht mehr, bei dem niemand wusste, ob es Ernst oder Spaß war, ob da Gefühle waren oder doch nur Lust. Er könne nicht mehr mit ansehen, wie ich ständig mit Frauen verschwand und wenige Stunden später wieder bei ihm in den Armen lag.
Und erst in diesem Moment, als ich ihm die salzigen Tränen von der Wange küsste, platzte bei mir endgültig der Knoten. Alles, was ich bis dahin erfolgreich verdrängt hatte wurde mit einem Mal so klar und ich konnte endlich vor uns beiden zugeben, dass ich auch Gefühle für ihn hatte. Dass ich ihn sogar liebte.
An diesem Abend vor zwei Wochen war ich dann mit Lukas nach Hause gegangen. Wir waren zwar nicht bis zum Äußersten gegangen, verbrachten aber dennoch unsere bisher heißeste Nacht zusammen und beschlossen, es so richtig ernst zwischen uns werden zu lassen.
Ich hatte in den vergangenen zwei Wochen dann leider einige Verpflichtungen in Bielefeld gehabt und Lukas seine Termine in Berlin, weswegen wir uns viel zu schnell voneinander verabschieden mussten.
Es waren für uns beide vierzehn schwere Tage gewesen. Endlich hatten wir eingesehen, dass wir zusammengehörten und hatten uns ebenso lange nicht persönlich gesehen, wie unsere Beziehung nun schon andauerte.
Es hatte viele Telefonate, sowie unzählige Nachrichten gegeben und dadurch war die Sehnsucht nacheinander Tag um Tag bis ins Unerträgliche angewachsen.
Dementsprechend aufgeregt und voller Vorfreude war ich heute, wo Lukas endlich wieder bei mir sein würde. Ohne Termine, ohne Stress. Nur wir beide. Eine ganze Woche lang.
Seit Tagen schon hatte ich aufgeräumt und geputzt und geschrubbt wie ein Verrückter. Bei Lukas war es immer so unglaublich aufgeräumt und sauber, wenn ich ihn besuchte. Ja, sogar wenn ich mal ganz spontan und unangemeldet vorbeikam, konnte man bei ihm buchstäblich vom Boden essen.
Zwar hatte er noch nie ein Wort über die Unordnung in meinem Haus verloren, doch ich schätzte, wenn er es bei sich Zuhause stets so ordentlich hatte, fühlte er sich sicherlich nicht besonders wohl zwischen dreckigem Geschirr und Fusseln und vollen Aschenbechern im ganzen Haus.
Sogar die Fenster hatte ich zum ersten Mal seit Jahren wieder geputzt und extra für diese Woche neue Bettwäsche gekauft. Nicht die ganz gewöhnliche aus Baumwolle, die mir sonst ausreichte, sondern eine extrem kuschelige, so wie Lukas sie immer in seinem Bett in Berlin hatte. Zur Krönung hatte ich die dann sogar noch mit einem Weichspüler gewaschen, der nach Rosen duftete.
Außerdem hatte ich den REWE gestürmt und eine ganze Menge Zeug gekauft, von dem ich wusste, dass Lukas es mochte. Beim Kamillentee war ich mir leider nicht mehr sicher gewesen, welche Marke er bevorzugte, darum nahm ich einfach vier Packungen von vier verschiedenen Firmen mit und hoffte, eine davon würde ihm zusagen.
Ich warf noch einen letzten Blick auf die Uhr und schaltete dann den Backofen ein, bevor ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, um meinen süßen Lukas dort in Empfang zu nehmen.
Im Backofen stand ein Brasilianischer Rahmbraten, oder wie auch immer dieses Teil hieß. Wenn der Zug von Lukas pünktlich da wäre, würde dieser exakt dann fertig sein, wenn wir wieder bei mir zu Hause ankämen.
Einmal hatte Lukas bei mir geschlafen und mitten in der Nacht Hunger bekommen. Von klapperndem Geschirr geweckt war ich verschlafen in die Küche getaumelt, um Lukas im Dunkeln vorm geöffneten Kühlschrank vorzufinden. Mama hatte mir ein Stück von diesem Braten am Tag zuvor vorbeigebracht und Lukas hatte ihn einfach kalt und direkt aus der Tupperdose gegessen.
Er war extrem begeistert gewesen, hatte das riesige Stück in wenigen Minuten verputzt und gemeint, es wäre das absolut beste, was er je an Fleisch gegessen hätte.
Darum hatte ich mich dazu entschieden, ihn heute mit diesem Essen hier bei mir zu empfangen. Natürlich hatte ich ihn nicht selbst gekocht, das konnte ich gar nicht.
Mama hatte mir das Ding so vorbereitet, dass ich es einfach nur noch in den Ofen schieben musste, bis es fertig war. Es war gar nicht so einfach gewesen, mit einem vollen Kochtopf durch halb Bielefeld zu fahren, ohne dass dabei etwas von seinem köstlichen Inhalt auf dem Beifahrersitz landete.
Ich war auf dem größten Teil des Weges nur dreißig gefahren, in manchen Straßen auch nur Schritttempo und hatte mir deswegen jede Menge Gehupe anhören und Mittelfinger ansehen müssen.
Doch für Lukas hatte ich das nur zu gerne auf mich genommen.
„Oh, komm doch endlich", murmelte ich vor mich hin, als ich ungeduldig auf mein Handy starrte. Ich saß mittlerweile schon seit einer halben Stunde an Gleis vier, um ihn ja nicht zu verpassen. Den ganzen Vormittag über was es schon düster, grau und stürmisch gewesen. Die Jacke, die ich mir in der Eile gegriffen hatte, war viel zu dünn für dieses Wetter und die Kälte der schneidenden Luft kroch mir bis tief in die Knochen.
Noch zehn Minuten, dann würde sein Zug endlich einfahren und ich konnte meinen Schatz wieder in meine Arme schließen.
Unauffällig freundschaftlich würde ich ihn zunächst umarmen und dann ganz schnell mit ihm zu meinem Auto flitzen, um ihn dort so richtig begrüßen zu können.
Beim Gedanken daran, ihn bald wieder küssen zu können, wurde mir trotz der kalten Herbstluft angenehm warm und mein ganzer Körper kribbelte.
Immer wieder schaute ich auf mein Handy, doch die Minuten wollten nicht vergehen. Ich stand auf, ging einmal das ganze Gleis entlang, setzte mich wieder auf meinen ursprünglichen Platz, stand wieder auf und wiederholte das Ganze noch einmal.
Als ich dann, ganz weit hinten am Horizont endlich den Zug sah, in dem Lukas saß, setzte mein Herz kurz aus, um dann im Anschluss wieder wie wild zu rasen. Am liebsten wäre ich sofort auf die Gleise gerannt und hätte ihn aus dem Zug gezerrt noch bevor dieser stand, nur um meine Liebe so schnell wie möglich berühren zu können.
Die Sehnsucht nach Lukas war nahezu unerträglich, jetzt wo er gleich bei mir sein würde. Ich fragte mich, ob es ihm wohl genauso ging. Außerdem stelle ich mir die Frage, ob wir wohl diese Woche schon zum ersten Mal so richtig miteinander schlafen würden. Ich wollte es nämlich unbedingt.
Wenn es nach mir ginge, könnten wir die nächsten sieben Tag einfach nur im Bett verbringen und dort kuscheln, knutschen, Sex haben, Filme gucken und essen.
Alleine die Vorstellung, dass die kommende Woche so oder zumindest so ähnlich verlaufen könnte, ließ mich fast durchdrehen vor lauter Vorfreude.
Endlich fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Die Türen öffneten sich, die ersten Leute stiegen aus und ich hielt Ausschau nach Lukas. Er war wie erwartet nicht bei den Ersten dabei, die den Zug verließen.
Wahrscheinlich war er mal wieder ein bisschen verpeilt und bemerkte erst jetzt, dass er an seinem Ziel angekommen war und musste noch hektisch seinen ganzen Kram zusammensuchen, bevor er gleich ausstieg.
Nervös lief ich ein paar Schritte vor und zurück und beobachtete den Bahnsteig. Lukas wollte sich mir aber noch nicht zeigen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und mittlerweile gingen die Türen schon wieder zu. Ich atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Jeden Moment würde Lukas die Tür wieder öffnen und auf mich zu laufen.
Doch so sollte es leider nicht kommen. Der Zug fuhr einfach weiter und Lukas war nicht ausgestiegen. Er hatte auch seine Haltestelle nicht verpasst, denn als die Wagons langsam an mir vorbeizogen, schaute ich mir jeden Einzelnen genau an. Er war nicht darin.
Ich zog mein Handy aus der Tasche. Wie so oft hatte ich vergessen, es vorm Rausgehen zu laden. Kurz bevor es ausging, konnte ich jedoch noch sehen, dass er mich weder angerufen, noch mir geschrieben hatte.
Heute Morgen noch hatte er mir am Telefon gesagt, wann genau er ankommen würde. Er hatte mir ebenfalls versichert, mich zu informieren, sollte irgendwas dazwischen kommen.
Warum also hatte er sich nicht bei mir gemeldet? War ihm etwa was passiert?
Das hielt ich aber für unwahrscheinlich. Wenn das so wäre, dann hätte mir doch jemand Bescheid gesagt.
Oder?
Eine andere Möglichkeit hielt ich da für viel wahrscheinlicher.
Lukas war in den letzten zwei Wochen bewusst geworden, dass er doch keine Gefühle für mich hatte und bekam jetzt kalte Füße. Er hatte mir das nur übers Handy nicht sagen wollen.
Machte das Sinn? Eigentlich nicht.
Seine Nachrichten hatten heute Morgen noch regelrecht getrieft vor Kitsch und Vorfreude.
Ich überlegte, ob ich irgendjemanden von den Leuten hier am Bahnhof fragen sollte, ob ich mal ein Handy bekommen könnte, um Lukas anzurufen. Doch dann fiel mir ein, dass ich seine Nummer ja gar nicht auswendig kannte.
Warum hatte ich die nicht schon längst auswendig gelernt?
Sollte man die Nummer seines Partners für den Notfall nicht im Schlaf aufsagen können?
So langsam brach ich in Panik aus und mein Katastrophendenken nahm immer größere Formen an. Bestimmt war ihm doch irgendwas passiert und ich würde ihn nie wieder sehen.
Ich hoffte so sehr, dass meine Gedanken nur übertrieben und dass ihm irgendwas dazwischen gekommen war.
Aber warum hatte er mir dann nicht Bescheid gesagt? Das machte einfach alles keinen Sinn für mich.
Ich blieb noch eine ganze Weile deprimiert und völlig verunsichert am Gleis sitzen und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Die Wolken waren immer dunkler geworden und jetzt schüttete es schon wie aus Eimern. Zudem ging ein starker Wind, der den Regen unter das Dach über dem Gleis trieb, sodass dieses gerade vollkommen nutzlos war.
Als ich völlig durchnässt war und mir endgültig zu kalt wurde, stand ich auf und trottete langsam wieder zum Auto.
Lukas hatte mich versetzt. Mit dem Gedanken konnte ich mich arrangieren.
Das tat zwar verdammt weh, war aber natürlich immer noch besser, als wenn ihm was zugestoßen wäre. Ich wollte ihn sofort anrufen, sobald ich wieder daheim war, um ihn ordentlich zur Schnecke zu machen.
Verdammter Lukas. Eigentlich war es ja klar. Er war viel zu gut für mich. Er war...
„Timi! Verdammt! Jetzt warte doch mal!"
Ich zuckte zusammen und realisierte erst, zu wem diese schöne Stimme gehörte, als er mich schon fast erreicht hatte. Er war klatschnass, seine Haare vom Rennen völlig verwuschelt, die Wangen gerötet und er keuchte vor lauter Anstrengung.
„Lu...Lukas! Du... du bist da", sagte ich vollkommen verwundert. „Wo kommst du denn her?"
Lukas ließ die Tasche auf den Boden fallen und drückte mich an sich. „Na vom Zug. Woher denn sonst?"
Ich drückte ihn ganz fest an mich ran, atmete seinen wunderbaren Duft ein und gab ihm dann einen ganz schnellen, flüchtigen Kuss auf die Lippen. Ich freute mich so unglaublich darüber, dass er doch noch gekommen war, dass es mir für einen Moment vollkommen egal war, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Ich war so glücklich, dass mir sogar Tränen der Freude und der Erleichterung kamen.
„Ich dachte du kommst nicht", schluchzte ich.
„Aber warum denn? Warum sollte ich denn nicht kommen?", fragte er leise und lächelte mich an.
„Na weil du nicht in dem Zug warst. Wo kommst du denn her?"
Lukas ging einen Schritt nach hinten und sah mich verwirrt an. „Ich war doch in dem Zug. Was ist denn los mit dir? Und warum hast du eigentlich nicht am Gleis gewartet? Ich hab dich gesucht."
„Nein warst du nicht! Der Zug ist weggefahren und du bist nicht ausgestiegen. Ich hatte so Panik und hab mir hier ewig Gedanken gemacht, warum du nicht gekommen bist. Du hättest...."
Lukas drückte mir einen Kuss auf die Lippen, um mein aufgeregtes Geplapper zu unterbinden. „Was für eine Uhrzeit hatten wir vereinbart, Timi?"
„Na vierzehn Uhr zwanzig. Weißt du doch", murmelte ich gegen seine Lippen.
Lukas drückte mir noch einen kurzen Kuss auf, dann zog er sein Handy aus der Jeans und hielt es mir vor die Nase. „Und wie viel Uhr haben wir jetzt?"
„Ähm... vierzehn Uhr siebenundzwanzig.... das kann nicht sein. Es war vor einer Stunde schon..."
Lukas brach in schallendes Gelächter aus. „Du bist ja so verpeilt. Noch viel verpeilter als ich."
„Lukas...", seufzte ich ungeduldig. „Jetzt klär mich doch endlich mal auf."
Lukas wischte sich mit dem Ärmel seines Hoodies die Lachtränen von den Wangen, dann kam er zu mir hin und legte beide Hände auf meinen Schultern ab. „Was passiert denn zwei Mal im Jahr, mein Schatz? Mit der Uhr?"
„Ich versteh nicht..."
„Na, Timi. Die Uhr wurde doch heute Nacht zurückgestellt."
Ich stand einige Momente reglos da, dann bekam auch ich einen heftigen Lachanfall.
„Ich dachte, dir wäre was passiert, oder du hättest doch keinen Bock auf mich, oder..."
Lukas legte seinen Finger auf meine Lippen, dann zog er mich hinter sich her zu meinem Auto.
„Es gibt so viel schönere Dinge, die wir mit der geschenkten Stunde anfangen könnten, als hier auf dem Parkplatz im strömenden Regen rumzustehen", sagte er und zwinkerte mir vielsagend zu.
Zuhause angekommen, erwarteten uns natürlich in der Küche schon dichte Rauchwolken und aus dem Rahmbraten, der eine Stunde zu lange im Ofen verbracht hatte, wurde doch nur eine Pizza vom Lieferservice.
Trotz dieses turbulenten Starts wurde es noch eine wunderschöne Woche mit viel Spaß, viel Romantik und noch mehr Sex.
Als Lukas am nächsten Sonntagmorgen nackt und glücklich in meinen Armen lag, versprach er mir schmunzelnd, dass er sich in unserer zukünftigen gemeinsamen Wohnung ums Umstellen aller Uhren kümmern würde.
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