Verloren und Gefunden
An einem regnerischen Sommertag, mitten in den Ferien, lag ich abends ganz gemütlich im Wohnzimmer auf der Couch und schaute mir die Netflix-Serie "Narcos" an.
Meine Eltern waren dieses Jahr zum ersten Mal ohne mich in den Urlaub nach Ungarn gefahren und ich genoss die freie Zeit in vollen Zügen. Auch, wenn ich meine Eltern über alles liebte, war es für mich mit meinen neunzehn Jahren und mitten im Abitur doch oft ziemlich anstrengend, ständig von ihnen überwacht zu werden.
Gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte es an der Haustür und ich öffnete meiner Freundin Lara, die mit zwei riesigen Pizzakartons und einem Päckchen, das mein Herz sofort höher schlagen ließ, vor mir stand.
"Komm rein", sagte ich lächelnd und nahm ihr das Päckchen ab. "Das ging ja super schnell!"
Vor ein paar Tagen hatten wir beide uns ein bisschen Merch von dem Typen bestellt, den ich derzeit abgöttisch liebte. Sofort riss ich aufgeregt die Pappe auf und hatte ein paar Sekunden später mein neues Timi Shirt am Leib.
"Ach, schon alleine wenn ich dieses Shirt hier trage, geht es mir schon sehr viel besser", sagte ich grinsend.
Lara grinste ebenfalls breit. "Julia, du bist schon ein ganz schöner Freak."
"Hallo? Hast du dir den Kerl mal genau angesehen? Wie könnte ich da nicht zum Freak werden? Und jetzt komm, die Pizza wird kalt."
Wir ließen uns ganz entspannt auf der Couch nieder und schauten uns meine aktuelle Lieblingsserie weiter gemeinsam an.
"Weißt du, was zu dieser Pizza hier wunderbar passen würde?", fragte Lara irgendwann.
"Dein Vater hat doch ein paar Flaschen von diesem sauteuren Wein unten im Keller. Das fällt doch bestimmt nicht auf, wenn da eine Flasche fehlt, oder?"
"Oh, ich denke schon, dass dem das auffallen würde. Der zählt sie mehrmals im Monat."
Lara schob die Unterlippe vor und sah mich etwas enttäuscht sein. "Los komm, Julia. Sei kein Frosch. Dein Vater kommt nach dem Urlaub ganz entspannt hier an und wird schon nicht schimpfen, nur weil seine volljährige Tochter mal ein kleines Weinchen gepitscht hat!"
Weiter diskutieren hatte keinen Sinn, denn wenn Lara sich was in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie einem nerven bis zum bitteren Ende. Um meine Entspannung und die Freude über mein neues Shirt nicht zu gefährden, machte ich mich auf in den Keller, um eine Flasche von dem heiß ersehnten Getränk zu besorgen.
Ich ging die alten, steinigen Treppen runter und knipste das Licht an, das aus einer schwachen Glühbirne kam und nicht wirklich was an den Sichtverhältnissen verbesserte.
Ich ging nie so wirklich gerne in unseren Keller. Normalerweise schickte ich da immer meinen Vater vor, wenn ich von hier unten etwas brauchte, aber heute ließ sich das ja nicht vermeiden.
Mit Erschrecken stellte ich fest, dass direkt neben dem Weinregal eine riesige Monsterspinne in einem gigantischen Netz hing.
"Super, auch das noch", murmelte ich mit zitteriger Stimme, da Spinnen absolut nicht zu meinen Lieblingstieren gehörten. "Du schaffst das", sprach ich mutmachend zu mir selbst. "Ihr habt jetzt einen lustigen Abend und so eine blöde, kleine Spinne wird euch den nicht vermiesen."
Mit wild klopfendem Herzen näherte ich mich ganz langsam dem Regal. Die Spinne schien meine Anwesenheit zu bemerken, denn sie bewegte sich plötzlich ein wenig. Ich konnte förmlich spüren, wie sie mich aus ihren acht Augen anstarrte.
Todesmutig griff ich nach einer Flasche, die mir dann fast aus den Händen gefallen wäre. Die Spinne entfernte sich aus ihrem Netz und ließ sich direkt vor meine Füße fallen! Dann geschah etwas, mit dem ich noch viel weniger gerechnet hatte.
Ein völlig verzottelter, grauer Kater kam aus einer dunkeln Ecke gerast und erledigte die Spinne in sekundenschnelle direkt vor mir.
Ich gab einen spitzen Schrei von mir und sprang einen Meter nach hinten.
"Oh...mein...Gott! Ähm... wer bist du denn?", fragte ich den Kater, als ob er mir eine Antwort geben könnte.
Mein kleiner Lebensretter schlug noch einmal demonstrativ mit der Tatze auf ihren toten Gegner und sprang dann in ein Regal, wo er sich ganz gechillt hinlegte.
"Lara!", schrie ich nach oben, in der Hoffnung, dass meine Freundin mich hören würde. Einen kurzen Moment später stand sie auch schon oben auf dem Treppenabsatz. "Was denn?"
"Keine Ahnung, wo der herkommt, aber in unseren Keller hat sich ein Kater verirrt."
"Äh... okay. Was macht man denn da?"
"Ich weiß nicht, er sieht total verzottelt aus, aber er hat keine Angst vor mir. Der gehört bestimmt irgendjemandem", rief ich und sah mir den Kleinen genauer an.
"Okay, na dann bring ihn doch einfach rauf. Heute ist es schon zu spät, aber wir können ja morgen mit ihm zum Tierarzt gehen oder ihn zum Tierheim fahren. Wenn er jemandem gehört, wird er bestimmt schon gesucht."
Da mir das auch die beste Lösung zu sein schien, nahm ich ihn ganz vorsichtig hoch und trug ihn die Treppen nach oben. Er schnurrte nur ein bisschen und wehrte sich überhaupt nicht.
Zurück im Wohnzimmer setzte ich ihn auf dem Boden ab. Der Kater schaute sich völlig desinteressiert um und sprang dann zu uns aufs Sofa, wo er dann bewegungslos liegen blieb.
Nachdem wir unsere Pizzen aufgegessen hatten, lagen wir halb betrunken und im völligen Fresskoma auf der Couch. Unserem Besucher hatten wir eine Dose Thunfisch zu essen gegeben und dieser lag jetzt auch erledigt und mit allen Vieren von sich gestreckt da.
Als ich Laras gleichmäßiges Schnarchen hörte, pausierte ich die Serie kurz und nahm mein Handy, um ein wenig auf Facebook zu surfen. Dazu war ich schon länger nicht mehr gekommen und ich klickte natürlich sofort auf das Profil von meinem Lieblingsrapper, um zu schauen, was es bei dem so neues gab.
Ich scrollte ein wenig nach unten und stutzte, als ich den Post vom 18. Juli sah.
Gustavo ist immer noch unterwegs, fuck.
#hunderttausendmeilen :(
Ich scrollte noch weiter runter und las mir den nächsten Post durch, der sich mit dieser Sache befasste.
Mein geliebter Kater Gustavo Fring ist jetzt schon seit einer Woche verschwunden und lost in bad country :(
Auch, wenn es eher unwahrscheinlich ist, aber falls ihn jemand in Bielefeld oder Herford sieht, meldet euch.
#danke
Da später nicht mehr gepostet wurde, dass der arme Timi seinen Kater wieder gefunden hatte, nahm ich an, dass er noch immer nach ihm suchte. Der erste Post war nun bereits fast drei Wochen her.
Ich drückte wieder auf Play und ließ mich weiter vom Fernseher berieseln. Mein vom Wein benebeltes Hirn brauchte ewig, um darauf zu kommen, aber irgendwann sprang ich vom Sofa hoch, um mir diesen Kater da auf der Couch nochmal genauer anzusehen.
"Nein... das kann nicht sein", murmelte ich ungläubig vor mich hin. "Das wäre zu krass. Das wäre viel zu krass."
Mit rasendem Herzen nahm ich mein Handy wieder hoch und sah mir das Foto an, das Timi seinem ersten Post angehängt hatte. Der gleiche zerstörte Gesichtsausdruck, das gleiche grau, die gleichen weißen Flecken...
Hatte sich tatsächlich das Haustier von dem Mann, den ich so verehrte, einfach so in unseren Keller verirrt? Einfach so? In unseren Keller?
Ich warf einen panischen Blick auf Lara, die noch immer seelenruhig schlief. Tausend mal hatte ich überlegt, was ich Timi mal schreiben könnte. Doch tausend mal war mir nichts eingefallen und ich war auch einfach viel zu schüchtern dafür. Doch jetzt hatte ich einen Grund. Selbst, wenn es nicht sein Kater war, würde er mir die Mühe doch bestimmt nicht übel nehmen. Schon alleine der Gedanke, dass Timi danach wissen würde, dass ich überhaupt existierte, machte mich unbeschreiblich glücklich.
Ich trank noch einen mutmachenden Schluck von dem Wein, dann begann ich nervös zu tippen.
"Hallo Timi. Ich habe gesehen, dass du deinen Kater Gustavo vermisst. Heute habe ich in unserem Keller einen gefunden, der genau so aussieht, wie deiner."
Mein Herz war am rasen und mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ich hatte gerade eine Nachricht an Timi geschrieben. Er würde vielleicht gleich Buchstaben lesen, die ich getippt hatte. Ich, Julia, ein ganz normales Mädchen aus Bielefeld!
Es dauerte eine Weile, aber dann zeigte mir Facebook eine neue Nachricht an, die ich direkt lesen wollte, sofern ich vorher nicht ohnmächtig wurde.
"Hey Julia. Danke für deine Nachricht. Schau bitte mal im linken Ohr nach ob er tätowiert ist, und schreib mir dann, was da steht."
Nervös ging ich zu (hoffentlich!) Gustavo rüber und warf einen Blick in sein Ohr. Er gab wegen dieser kleinen Störung ein unzufriedenes Geräusch von sich, aber ließ mich machen. Tatsächlich konnte ich eine Zahlenkombination dort entdecken, die ich sofort Timi schrieb. Vor lauter Aufregung vertippte ich mich mehrmals, aber irgendwann hatte ich es endlich geschafft, die richtigen Zahlen abzuschreiben.
Die Antwort kam sofort. Timi schrieb mir, dass das sein Gustavo sei und ich gab einen erfreuten Schrei von mir, der Lara aufschrecken ließ. Timi wollte ihn bei mir abholen kommen. Jetzt. Sofort.
"Ähm. Nichts. Ich bin eingeschlafen und hab schlecht geträumt. Ich bin total müde... ähm.. ich glaub ich geh jetzt lieber ins Bett. Ich schreib dir dann morgen wegen dem Kater, okay?", stammelte ich hektisch vor mich hin.
Mir war klar, dass das ziemlich gemein von mir war. Lara war auch ein großer Fan von Timi und sie hätte ihn sicherlich auch gerne getroffen. Aber gleichzeitig wusste ich, dass sie mit ihm reden würde, wenn sie hier blieb und ich keinen Ton raus bekommen würde. Wenn ich alleine mit ihm war, musste ich mit ihm reden.
"Alles klar, dann pack ich jetzt mal meinen Kram", sagte sie gähnend und war keine fünf Minuten später auf dem Heimweg.
Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, stürmte ich nach oben ins Bad, um mich einigermaßen ansehnlich herzurichten. Timi kam schließlich nicht jeden Tag einfach hier her!
Je mehr Zeit verging, umso aufgeregter wurde ich. Ich konnte nicht fassen, dass ausgerechnet mir sowas passierte. Ich hatte mir schon so oft ausgemalt, wie es wäre, ihn persönlich zu treffen. Aber selbst in meinen wildesten Vorstellungen war mir ein solches Szenario nie eingefallen.
Die Zeit wollte einfach nicht vergehen und mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Ich war in der Zwischenzeit schon drei mal pinkeln gewesen und hatte mir fünf mal die Haare neu zusammengesteckt, bis es endlich an der Tür klingelte.
Ich sprang panisch vom Sofa auf und rannte zur Tür, die ich dann ganz lässig öffnete.
Und dann stand er einfach vor mir.
Timi strahlte mich total glücklich an und fiel mir direkt um den Hals, und ich fiel dabei fast in Ohnmacht. Er sah in Wahrheit noch so viel besser aus, als auf jedem Foto. Und er roch noch viel besser, als ich mir das immer vorgestellt hatte.
"Oh mein Gott, du glaubst nicht, wie froh ich bin!", sagte er, während er mich noch immer fest an sich drückte.
"Ähm... hallo", murmelte ich gegen seine hübsch tätowierte Brust. "Komm...komm doch rein."
Timi folgte mir ins Wohnzimmer, wo er erleichtert sein lang vermisstes Haustier an sich nahm.
"Mann, du Idiot. Was musst du mich so erschrecken?", fragte er seinen Kater und ließ sich erleichtert mit ihm auf das Sofa fallen. Ich stand im Türrahmen und war völlig gerührt davon, wie sehr Timi dieses Tierchen liebte.
Gustavo ließ sich ein wenig von ihm streicheln, dann ging er vom seinem Schoß runter und legte sich wieder auf den Platz, auf dem er die ganze Zeit über geschlafen hatte.
"Wo hast du ihn denn gefunden?", fragte Timi kopfschüttelnd.
"Er war unten im Keller. Ich wollte nur eine Flasche Wein holen und wurde fast von einer Spinne attackiert", sagte ich lachend. "Dann kam er einfach aus der Ecke gesprungen und hat das Teil erledigt."
Timi grinste Gustavo zufrieden an. "Tja, ich hab ihm das beigebracht, dass er hübsche Frauen retten soll, wenn sie in Gefahr sind."
Ich schluckte und setzte mich neben ihn auf die Sofakante. Timi lehnte sich zurück und wirkte nicht so, als ob er so bald wieder gehen wollte.
"Du schaust Narcos? Wie geil ist das denn? Ich wollt mir das vorhin auch reinziehen, aber mir is mein Netflix Passwort nicht mehr eingefallen", murmelte er und schaute gebannt auf den Fernseher. "Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll..."
"Ähm. Dann... bleib doch einfach ein bisschen hier. Vielleicht fällt dir ja noch was ein", sagte ich, nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte.
Die ersten paar Minuten konzentrierten wir uns noch auf die Serie, doch irgendwann begannen wir, über Gott und die Welt zu sprechen. Ich konnte so toll mit ihm reden, wie ich es schon lange nicht mehr bei jemandem hatte.
Dieser Abend war nur der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die noch viele, viele Jahre überdauern sollte.
Im gleichen Jahr, an Weihnachten, schenkte Timi mir ein Armulett, in dem folgender Spruch eingraviert war:
Verliere, was verloren werden muss, um das zu finden, was gefunden werden muss.
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